Eindrücke aus einem Land zwischen Trauma und Aufbruch
Parlamentariergruppen sind keine offiziellen Organe legislativen Handelns. Sie können weder außenpolitische Entscheidungen beeinflussen, noch parlamentarische Initiativen ergreifen. Dennoch können sie hilfreich sein. In diesem Sinne hat die deutsch-japanische Parlamentariergruppe im Jahr 2011 im Rahmen ihrer Möglichkeiten gehandelt. Ungewöhnlich war bereits, dass alle Fraktionen in einem gemeinsamen Antrag im Januar diesen Jahres 150 Jahre japanisch-deutsche Beziehungen gewürdigt und Vorschläge zu deren Intensivierung unterbreitet haben. Auch das japanische Parlament beschloss eine entsprechende Resolution. Auf Grundlage dieser Texte plante eine deutsche Delegation Ende März Japan zu besuchen, um damit die anhaltende, fruchtbare aber auch wechselhafte Freundschaft zwischen Japan und Deutschland zu würdigen.
Es kam anders. Angesichts der dreifachen Katastrophe (Erdbeben, Tsunami, Fukushima) vom 11. März 2011 mussten wir die Reise auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Im September war uns dann möglich, den Besuch nachzuholen. Wir erlebten ein Land, das zwar noch unter Schock stand, zugleich aber zuversichtlich wirkte, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Die bis dahin unternommenen Anstrengungen, die materiellen Zerstörungen und individuellen Verletzungen zu heilen, waren beeindruckend - und dennoch war die Tragik der Entwicklung greifbar. Gespräche mit den Fischern, denen der Tsunami die Existenz genommen hatte oder mit Menschen, die seit vielen Monaten auf begrenztem Raum in behelfsmäßigen Unterkünften leben müssen, bleiben uns bis heute in Erinnerung. Wir hörten eindringliche und traurige Berichte. Wir sahen große Solidarität und erlebten die Dankbarkeit von Menschen, die vieles oder gar alles verloren hatten. Unsere Trauer und unser Mitgefühl gelten den Familien und Freunden der über 16.000 Toten und 4.000 Vermissten.
Besonders wertvoll waren der Besuch des japanischen Kronprinzen Naruhito in Deutschland im Juni diesen Jahres und die jüngste Reise des Bundespräsidenten nach Japan Ende Oktober, bei der ich ihn als Vorsitzender der Deutsch-Japanischen Parlamentariergruppe begleiten durfte.. Bundespräsident Wulff hat die Anteilnahme Deutschlands und die große Freundschaft zwischen beiden Ländern vermittelt und sein Mitgefühl gegenüber den Angehörigen von Opfern der Flut- und Atomkatastrophe zum Ausdruck gebracht. Die große Aufmerksamkeit, die der Reise in Japan zuteil wurde, war ungewöhnlich. Besonders eindrucksvoll waren die Begegnungen mit den Betroffenen der Region Fukushima. Ich werde den Bericht eines älteren Japaners nicht vergessen. Er hatte die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die Entbehrungen danach erlebt. Er hatte am Wiederaufbau seines Landes mitgewirkt. Und der Tsunami nahm ihm Haus, Eigentum und Freunde. In den ersten Tagen des Unglücks blieb seine Frau verschwunden. Erst in einer behelfsmäßigen Unterkunft für die aus dem Umkreis von Fukushima evakuierten Menschen traf er seine achtzigjährige Ehefrau wieder. Dies, so sagte er in einem spartanisch eingerichteten Raum, sei seine zweite Hochzeitsreise. Diese Episode sagt vieles aus über ein Land, das so weit entfernt von dem unseren ist - dessen Nähe wir aber immer wieder suchen sollten. Erdbeben, Tsunami und Atomunfall haben in ganz Deutschland eine Anteilnahme ausgelöst, die zeigt, wie eng die Verbindungen zwischen Deutschen und Japanern sind. Wenn wir Abgeordnete dazu beitragen können, diese zu stärken und weiter zu vertiefen, tun wir das.
Dr. Rolf Mützenich, MdB. Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Vorsitzender der Deutsch-Japanischen Parlamentariergruppe