Egon Bahrs Vermächtnis

"Die Entwicklung, in der sich die Welt heute befindet, ist Wahnsinn. Der Sinn dessen, was geschieht, folgt der Logik, durch neue Waffensysteme Macht, Einfluss und Sicherheit zu schaffen. Aber es ist eben ein Wahn, auf diese Weise Stabilität und Frieden erreichen zu können. Sinn und Wahn ergänzen sich zu Wahnsinn." (Egon Bahr)[1]

Egon Bahr war zweifelsohne eine der Persönlichkeiten, die mich mit am meisten beeindruckt haben. Als abrüstungs- und außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion wurde ich zeitweise einmal im Monat zum Gespräch mit dem großen alten SPD-Strategen gebeten. Bei diesen Gesprächen, die in der Regel in seinem Büro im Willy-Brandt-Haus stattfanden, erklärte Egon mir immer, was seiner Meinung nach falsch laufe und wie man es richtig machen müsse. Auch wenn ich nicht immer seiner Meinung war, möchte ich diese Gespräche nicht missen. Ich habe dabei viel gelernt. Dabei amüsierte und irritierte mich manchmal auch Egons Eigenheit, nahezu alle Ausführungen in drei Unterpunkte zu gliedern: Erstens! Zweitens! Drittens! Auch wenn er bisweilen das „Drittens“ vergaß, bewies er auch mit den ersten beiden Punkten seine nach wie vor beeindruckenden Analysefähigkeiten. Egon fehlt mir!

Egon Bahr litt – wie alle Abrüstungspolitiker – darunter, dass der Themenkomplex „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ nach Ende des Ost-West-Konfliktes in Vergessenheit geriet, bzw. als irrelevant oder sogar utopisch betrachtet wurde. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil: Rüstungskontrolle ist, so eine schon seit längerem nicht nur in den USA vertretene Sichtweise, ein Auslaufmodell. In der Macht-, System- und Rüstungskonkurrenz gegen die neuen autoritären Großmächte China und Russland helfe nur entscheidende militärische Überlegenheit. In einem multipolaren System sei das Ziel der Rüstungskontrolle ohnehin nicht mehr erreichbar, neue Rüstungstechnologien seien qualitativ so komplex, dass sie nicht zu regulieren seien; kurz: Rüstungskontrolle sei nicht mehr zeitgemäß.

Gegen diese Sichtweise hat Egon Bahr zeit seines Lebens argumentiert und geschrieben. Für ihn war klar, dass Abrüstung, Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung keine überholten Konzepte sind, sondern dringend wieder zu einem Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen gemacht werden müssen. In den vergangenen Jahrzehnten hat diese Strategie die Welt sicherer gemacht. Während des Ost-West-Konflikts trug Rüstungskontrolle maßgeblich zur Kriegsverhütung und Vertrauensbildung bei. Sie schuf die Voraussetzung für Kooperation und Wandel. 

Fakt ist aber auch, dass sich das gesamte System internationaler Beziehungen und Verträge, das die Weiterverbreitung von Waffen verhindern soll, in einer tiefen Krise befindet. Dabei ist die unverminderte Relevanz von Abrüstung und Rüstungskontrolle offensichtlich, ja mehr noch: Sie ist angesichts der aktuellen waffentechnologischen Entwicklungen wichtiger denn je.

Abrüstung und Vertrauensbildung als Grundlagen der Entspannungspolitik

Egon Bahrs am 15. Juli 1963 gehaltene Tutzinger Rede mit dem programmatischen Titel „Wandel durch Annäherung“ gilt heute als Grundlage des Konzepts der Entspannungspolitik, das Willy Brandt – zusammen mit Egon Bahr – als Bundeskanzler um- und durchsetzte. Beide hatten das Glück mit John F. Kennedy, Olof Palme und Bruno Kreisky auf Gleichgesinnte zu treffen und vor allem auf eine Gesellschaft, die unter Schmerzen zum Wandel bereit war. Die Entspannungspolitik war nicht unumstritten und musste gegen entschiedene Widerstände erkämpft und durchgesetzt werden. Willy Brandt und Egon Bahr mussten sich von konservativen Kritikern und weiten Teilen der damaligen CDU/CSU-Fraktion böswillige Angriffe und Unterstellungen anhören (Verfassungsbruch, Ausverkauf deutscher Interessen, Landesverrat). In den Neunzigerjahren setzte sich jedoch zunehmend die Einsicht durch, dass es auch die Ostpolitik war, die den Kalten Krieg überwinden half.

Dabei war das Konzept der Entspannungspolitik alles andere als ein „Einknicken“ vor Moskau oder gar „Appeasement-Politik“. Der Westen verhandelte sehr wohl hartnäckig und gegen den erbitterten Widerstand Moskaus auch die Menschen- und Freiheitsrechte in das Abschlussdokument der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Für die osteuropäischen Dissidenten wurde dieses erzwungene Bekenntnis der Regierenden zu universellen Rechten zum Hebel im Kampf gegen die Regime. Die Ostpolitik von Brandt und Bahr war eine auf weite Sicht angelegte Strategie zur Transformation kommunistischer Herrschaft. Dazu gehörten die Schaffung von Regeln und Institutionen im Rahmen der KSZE sowie die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa durch die BRD – damals noch gegen erbitterten Widerstand der CDU/CSU. Ohne gleichzeitigen Wandel und Demokratisierung im Inneren wäre diese Politik nicht glaubhaft gewesen.

Der „Wandel durch Annäherung“, den Egon Bahr ab 1966 im Planungsstab des Auswärtigen Amtes minutiös plante, wurde unter Willy Brandt Wirklichkeit. Die Politik der kleinen Schritte führte zu den Ostverträgen, zum KSZE-Prozess und zum Zusammenwachsen Europas. Aus dem KSZE-Prozess erwuchs nach der Wende die OSZE. Die Europäische Friedensordnung, der Willy Brandt und Egon Bahr mitten im Kalten Krieg den Weg bereitet haben, hat bis heute eine erstaunliche Beharrungskraft bewiesen und ist zugleich gefährdeter denn je.

Die Bahr’sche Formel „Wandel durch Annäherung“ hat sich über die Jahre geradezu zum Synonym für eine bestimmte Art, Außenpolitik zu betreiben entwickelt. Sie steht für eine Politik, die wir auch heute verfolgen sollten: Eine Politik, die Realismus und Prinzipientreue verbindet, die Brücken über ideologische Gräben schlägt, die Dialog auch in kritischen Phasen ermöglicht und die den Boden für Konfliktlösungen auf diplomatischem Weg bereitet. Eine solche Politik hat an Aktualität nichts eingebüßt und die sozialdemokratischen Außenminister Frank-Walter-Steinmeier, Sigmar Gabriel und Heiko Maas haben immer betont, dass sie sich als Erben dieser Tradition verstehen.

Egon Bahr, der Elder Statesman

Mit dem Epochenbruch 1989 schien sich zu erfüllen, was Egon Bahr über viele Jahre um- und angetrieben hat: Das Ende der deutschen und europäischen Teilung. Doch statt dem „Ende der Geschichte“ kam deren Rückkehr, beginnend mit dem Jahrzehnt der Balkankriege in den 1990er Jahren. Viele hochtrabende Hoffnungen und Erwartungen blieben unerfüllt, u.a. auch die Hoffnung auf eine europäische Friedensordnung.

Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik ließ Egon Bahr das Thema „Gemeinsame Sicherheit durch Abrüstung und Rüstungskontrolle“ nicht los. In seiner Zeit als Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (1984 bis 1994) entwickelte er das Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“ weiter und entwarf die konzeptionellen Grundlagen einer Europäischen Sicherheitsgemeinschaft (ESG), die jedoch Theorie blieben. Umso mehr lohnt es sich, heute neu darüber nachzudenken und gegebenenfalls daran anzuknüpfen. Er verhalf dem Hamburger Institut zu nationaler und internationaler Reputation. Die Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow und Oscar Arias Sanchez sowie Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt waren Gäste und Diskutanten am IFSH.  

Nach seiner Zeit als Direktor, schildert Egon 1996 in seinen äußerst lesenswerten Memoiren „Zu meiner Zeit“ seinen Weg und die Geschichte der Entspannungspolitik und der Ostverträge.[2] Im Jahr darauf schuf er mit der Gründung des Willy-Brandt-Kreises gemeinsam mit weiteren prominenten Mitstreitern und Mitstreiterinnen ein Dialogforum für Frieden und Abrüstung. „Eine außenpolitische Krisenquelle ist die Vernachlässigung tragfähiger gesamteuropäischer Friedensstrukturen. Die deutsche Außenpolitik muß dahin wirken, daß Kriege zwischen Staaten im 21. Jahrhundert in Europa nicht mehr stattfinden können“, heißt es im Gründungsaufruf.

In seinem unermüdlichen Einsatz für Frieden und Abrüstung sah Bahr vor allem die in Europa lagernden taktischen Nuklearwaffen als ernsthafte Bedrohung des Friedens. Denn während man über den vermeintlichen Nutzen von strategischen Nuklearwaffen trefflich streiten kann, sind sich fast alle Experten darüber einig, dass taktische Nuklearwaffen nach Ende des Ost-West-Konflikts keinerlei sicherheitspolitische Bedeutung mehr haben. Es geht dabei nicht nur um die wenigen Atomwaffen, die noch in Deutschland lagern, sondern um die taktischen Kernwaffen insgesamt. Die Aufsehen erregende Erklärung der über jeden Verdacht pazifistischer Blauäugigkeit erhabenen Elder Statesmen, Henry Kissinger, George Schultz, William Perry und Sam Nunn über das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt vom Januar 2007 (Wall Street Journal 4.1.2007) wurde auf deutscher Seite von Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher aufgegriffen und unterstützt (F.A.Z. 9.1.2009). Auch sie formulierten ihr Unbehagen und ihre Befürchtungen, dass die verfolgten Strategien des Westens in einer gefährlichen sicherheitspolitischen Sackgasse zu enden drohen. Diese Befürchtungen kumulierten in der Amtszeit von Präsident Donald Trump, der das internationale Vertragssystem der Rüstungskontrolle während seiner Amtszeit in Schutt und Asche legte.

Zur unverminderten Relevanz von Abrüstung und Rüstungskontrolle

Eine der großen Stärken Egon Bahrs war, dass er beide Seiten kannte. Die Mühen der Ebene des außenpolitischen Praktikers, das mühsame Verhandeln, das Bohren dicker Bretter ebenso wie die theoretischen Konzepte des Wissenschaftlers, die sich in der Praxis beweisen müssen. Damals wie heute muss Außenpolitik das Gespräch auch mit Autokraten und Diktatoren suchen, deren konkrete Politik Empörung hervorruft. Sie muss den Status quo anerkennen, um ihn zu verändern. Das ist mühsam und gibt keine gute Presse: "Hört auf zu reden, handelt endlich!" Wer verspürt angesichts der Massaker in Afrika und in Syrien und angesichts der Proteste und Menschrechtsverletzungen in Belarus nicht den Wunsch nach schnellen Lösungen? Im Gegensatz zu denen, die das Privileg haben, Analysen und Handlungsempfehlungen auf dem Reißbrett und ex post zu entwerfen, müssen Außenpolitiker*innen in einer konkreten Situation handeln. Verabredungen mit illegitimen und undemokratischen Herrschern sind unvermeidbar; aber man sollte versuchen, sie so zu gestalten, dass sie auf Öffnung und Transformation zielen. Selbstbewusste Außenpolitik muss sich nicht zwischen Regime und Gesellschaft entscheiden.  

Wandel durch Annäherung, Politik der kleinen Schritte, Dialog statt Konfrontation – all das verbinden wir mit Egon Bahr und der Entspannungspolitik der Regierungszeit von Willy Brandt. Es waren diese Grundsätze, die den Grundstein zur europäischen Friedensordnung legten. Was bedeutet das für die Welt nach Trump, dessen Rückkehr 2024 keineswegs ausgeschlossen werden kann? Auch heute gilt: Nachhaltige Sicherheit schaffen wir – neben glaubhafter Abschreckung – nur über gleichzeitigen Dialog, Transparenz und Vertrauensbildung. Denn was auf der einen Seite als bedrohlich empfunden wird, kann für die andere Seite keine nachhaltige Sicherheit schaffen. Zeit also, sich auf die Grundsätze und Ansätze deutscher Entspannungspolitik zurückzubesinnen.

In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll an den Harmel-Bericht zu erinnern, den der NATO-Rat am 14. Dezember 1967 verabschiedete. Statt eines kompromisslosen „Entweder-Oder“ zwischen Abschreckung und Entspannung definierte der Bericht eine „Doppelstrategie“ von militärischer Stärke und einer „Politik der ausgestreckten Hand“, die sich als visionär erwies. Damit stützte die NATO nicht nur die Ostpolitik der Bundesregierungen dieser Jahre, sondern auch Gespräche zwischen den USA und der UdSSR über die Begrenzung ihrer strategischen Atomwaffen und leitete eine erste Entspannungsphase ein. Eine solche Strategie wird auch heute wieder gebraucht, auch wenn manche dies als typisch sozialdemokratische „Sowohl-als-auch-Politik“ verunglimpfen mögen. 

Darüber hinaus sollte man sich keine Illusionen darüber machen, dass es auch künftig Möglichkeiten geben wird, Rüstungskontrollverträge und die darin enthaltenen Kontroll- und Überprüfungsmechanismen zu umgehen bzw. zu unterlaufen. Gleichwohl gibt es zur vertragsbasierten und verifizierbaren Rüstungskontrolle nur eine Alternative: Ein weltweites nukleares, chemisches und biologisches Wettrüsten. Ein solches kann weder im Interesse der USA noch Chinas oder gar Russlands liegen.

Für eine neue Rüstungskontroll- und (Nah-)Ostpolitik

Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, sind immens – und genau das Gegenteil von Entspannung. Das sicherheitspolitische Umfeld hat sich seit der Jahrtausendwende deutlich verschlechtert. Die Beziehungen der USA, der NATO und auch unsere Beziehungen zu Russland haben einen Tiefpunkt erreicht. Nicht nur hat Russland in der Ukraine gezeigt, dass es zur Durchsetzung der eigenen Interessen bereit ist, Völkerrecht zu brechen und militärische Mittel einzusetzen. Russland macht auch keinen Hehl daraus, dass es aufrüstet – nuklear, konventionell und zunehmend auch im Cyberbereich.

Deshalb müssen wir die möglichen Auswirkungen neuer technologischer Entwicklungen auf die strategische Stabilität und unsere Sicherheit berücksichtigen und Rüstungskontrolle neu denken, gerade in Zeiten, in denen die Zeichen nicht auf Abrüstung stehen. Vier besonders relevanten Bereiche verdienen dabei unsere besondere Aufmerksamkeit: Letale Autonome Waffensysteme, Cyber-Instrumente, Biotechnologien sowie neueste Entwicklungen im Raketenbereich. Mit Blick auf autonome Waffen setzt sich die Bundesregierung mit Partnern dafür ein, das Prinzip wirksamer menschlicher Kontrolle über alle tödlichen Waffensysteme international festzuschreiben und damit einen großen Schritt hin zur weltweiten Ächtung vollautonomer Waffen zu gehen. Auch bei der konventionellen Rüstungskontrolle brauchen wir dringend Fortschritte. Das Auswärtige Amt hat deshalb gemeinsam mit 24 europäischen Partnern eine „Freundesgruppe zur konventionellen Rüstungskontrolle“ gegründet und auch innerhalb der OSZE einen Strukturierten Dialog zu den sicherheitspolitischen Herausforderungen in diesem Bereich in Europa angestoßen. Ziel beider Initiativen ist es, die konventionelle Rüstungskontroll-Architektur in Europa umfassend neuzugestalten.

Statt Schwarz-Weiß-Denken brauchen wir eine Politik, die mit neuen Initiativen und Formaten dazu beiträgt, Blockaden aufzubrechen und aus Sackgassen herauszukommen. Eine Politik, die von der Akzeptanz und einer nüchternen Analyse des Status quo ausgeht und versucht, diesen mit einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte zu überwinden. Die von Egon Bahr konzipierte Ost- und Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre war genau dies. Im Ergebnis war diese Politik von Erfolg gekrönt. Auch heute braucht die deutsche und europäische Außenpolitik einen solchen langfristig angelegten ebenso klaren wie pragmatischen Kurs für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Entspannung. Mut im Denken und Handeln bleiben unerlässlich.

Dies wird nur zusammen mit unseren europäischen Partnern geschehen. Deutschland und die EU müssen auch weiterhin auf kooperativen Multilateralismus statt auf kurzsichtigen Unilateralismus setzen. Auch schwierige Partner in multilaterale Ansätze einzubinden, ist keine Prinzipienlosigkeit, sondern Einsicht in das Machbare und in die Erkenntnis, dass Druck allein keine Verhaltensänderung bewirken kann.  

Tatsache ist, dass der Multilateralismus als Prinzip enorm unter Druck steht - auch innerhalb der EU. Es gilt deshalb, bestehende Institutionen wieder besser zu nutzen, zu reformieren und mit neuem Leben zu erfüllen, wie jüngst die Bekräftigung der deutsch-französischen Partnerschaft durch den neuen Aachener Vertrag.

Dire russischen Verletzungen der europäischen Friedensordnung und der Prinzipien von Helsinki sind real. Dazu gehören die Annexion der Krim, der unerklärte Krieg in der Ostukraine ebenso wie die ständigen russischen Provokationen im NATO-Luft- und Seeraum. Russland versucht zudem ganz offensichtlich, die EU durch Instrumentalisierung der Flüchtlingsströme, antieuropäische und –amerikanische Hasspropaganda in den sozialen Netzwerken und die Unterstützung rechtspopulistischer Parteien in Europa zu destabilisieren.

Aber wahr ist auch, dass eine allein auf Abschreckung und Ausgrenzung setzende westliche Politik Russland nicht zu einer Umkehr bewegen, sondern im Gegenteil eine aggressive russische Politik der Selbstbehauptung und Aufrüstung mit dem Ziel der Anerkennung als Großmacht auf Augenhöhe und Wahrung des eigenen geopolitischen Einflussbereichs nicht aufhalten wird. Trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen dürfen wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen und müssen gerade auch dann, wenn es schwierig ist, Kurs halten. Wenn sich Reagan und Gorbatschow von der damals sehr viel ungünstigeren Ausgangslage entmutigen hätten lassen, wäre es niemals zum INF-Vertrag von 1987 gekommen.

Wir Sozialdemokraten sollten an Egon Bahrs kühnes Erbe anknüpfen. Die Prinzipien der Ostpolitik Vertrauensbildung, Abrüstung und kooperative Sicherheit könnten sich auch gegenüber dem aufsteigenden und zunehmend aggressiver agierenden China bewähren. Dies sind zugleich die Prinzipien im Dekalog der Schlussakte von Helsinki – Ablehnung von Grenzverschiebungen und Einflusssphären-Politik, die europäische Einigkeit – das alles ist hoch aktuell, etwa im Streit um Taiwan. Gefragt ist, so gesehen, nicht nur eine neue Ostpolitik gegenüber Russland, sondern eine neue Fernostpolitik gegenüber China – in enger Abstimmung und unter Federführung der USA. Warum sollte Biden und Scholz gegenüber Peking nicht das gelingen, was Brandt und Kennedy gegenüber Moskau erreichten.

Es ist höchste Zeit, die Abrüstung und Rüstungskontrolle, die nach einem hoffnungsvollen Beginn nach Ende des Kalten Krieges ins Stocken geraten ist und von Trump und Putin faktisch exekutiert wurde, wieder in Gang zu bringen. Die G20-Länder könnten ein geeignetes Gremium sein, um entsprechende Initiative zu ergreifen. Wir brauchen dringend neue Initiativen im Bereich der nuklearen Abrüstung, wie sie von Heiko Maas unter anderem im Rahmen der Stockholm-Initiative und während der deutschen Präsidentschaft im UN-Sicherheitsrat vorgeschlagen und vorangetrieben wurden. Nachdem US-Präsident Trump mit der Kündigung des INF-Vertrages, des iranischen Atomabkommen und des Open-Skies-Vertrages von der vertragsbasierten multilateralen Rüstungskontrolle nur noch ein Trümmerfeld übriggelassen hat, bieten sich unter Präsident Biden neue Möglichkeiten.  

Eine der ersten Amtshandlungen von Präsident Biden war, neben der Rückkehr zum Pariser Klimaabkommen, die Verlängerung des New-Start-Vertrages zur Beschränkung der strategischen Atomsprengwaffen um fünf Jahre. Das schafft nicht nur Möglichkeiten für Gespräche über die strategische Abrüstung zwischen den USA und Russland, sondern auch für weitere Initiativen. Europa und gerade Deutschland müssen ein großes Interesse an einem kompletten Verzicht auf taktische Nuklearwaffen haben. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, für die kommenden fünf Jahre Moratorien in allen Bereichen der nuklearen Rüstung vorzuschlagen. Keine Seite sollte während dieser Zeit neue Waffen stationieren oder Trägersysteme modernisieren. Das Moratorium sollte mindestens so lange dauern, wie Russland und die USA ernsthafte Abrüstungs- und Rüstungskontrollgespräche führen. Das heißt aber auch, dass wir darauf hinwirken müssen, dass auch Russland sich diesem Moratorium anschließt und seine taktischen Nuklearwaffen aus der europäischen Nachbarschaft zurückzieht. Flankierend muss über konventionelle Abrüstung und die Rückkehr zu einer Begrenzung der Raketenabwehr gesprochen werden. Eine Rückkehr der USA und Russlands zum Open-Skies-Vertrag und zum iranischen Atomabkommen ist möglich und wünschenswert – vorausgesetzt, dass Teheran die Übereinkunft wieder vollständig umsetzen wird.

Die SPD ist eine Partei, die sich in ihrer Geschichte immer dem internationalen Dialog, der Zusammenarbeit, der Abrüstung und der Rüstungskontrolle verschrieben hat. Die Frage, ob wir weitere Milliarden in Aufrüstungs- und Modernisierungsrunden unserer Streitkräfte und Waffensysteme investieren oder ob diese Mittel nicht besser für die globale Impfstoffallianz und den Um- und Ausbau unserer Gesundheitssysteme angesichts des drohenden Zeitalters der Pandemien ausgegeben werden sollten, ist deshalb nicht nur berechtigt, sondern muss unter dem Aspekt eines erweiterten Sicherheitsbegriff dringend gestellt werden. Die Verantwortung für den europäischen Frieden, das Erbe von Egon Bahr und Willy Brandt, müssen wir heute, in stürmischen Zeiten, fortführen. Oder in Egon Bahrs Worten: „Du musst den Status Quo kennen, damit Du ihn überwinden kannst.“

 

[1] Egon Bahr, Zukunft der Abrüstung und Rüstungskontrolle, in: Zur Eröffnung des Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung. Herausgegeben von Martin B. Kalinowski und Hartwig Spitzer, S. 82.

[2] Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung als Voraussetzung kooperativer Sicherheit
Veröffentlicht: 
In: Peter Brandt, Hans-Joachim Gießmann, Götz Neuneck (Hg.), "...aber eine Chance haben wir": Zum 100. Geburtstag von Egan Bahr, Dietz 2022, S. 298-309.