Echte Entspannungspolitik ist kein Appeasement
Es ist schon erstaunlich, wofür die Entspannungspolitik seit der Ukraine-Krise alles herhalten muss. Willy Brandt würde jedenfalls staunen, wenn er wüsste, wer ihn mittlerweile alles als Kronzeugen missbraucht. Nun war es unter Sozialdemokraten schon immer en vogue, mit sorgenvoller Miene ein "Was-würde-Willy-jetzt-wohl-tun?" in die Runde zu werfen. Das gute Verhältnis zu Moskau ist das Erbe der Ostpolitik und gilt vielen "Entspannungsromantikern" als das goldene Zeitalter sozialdemokratischer Außenpolitik. Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise und der - zweifelhaft vorhandenen - Notwendigkeit einer neuen Entspannungspolitik geht jedoch mittlerweile in der Argumentation so vieles schief und durcheinander, dass ein paar Klarstellungen nicht schaden können.
Denn die Ost- und Entspannungspolitik der Ära Brandt wird derzeit gleich von zwei Seiten diskreditiert. Von den "Kalten Kriegern", die in ihr ohnehin nur einen Mythos sehen, der nichts zur Überwindung der Spaltung Europas beigetragen habe und von den Putin-Apologeten, die sie instrumentalisieren, banalisieren und wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Damit erweist man ihr nicht nur einen Bärendienst - schlimmer noch, man diskreditiert sie und bestätigt all diejenigen, die schon immer der Ansicht waren, nicht der KSZE-Prozess, sondern allein die Aufrüstungspolitik Ronald Reagans habe zum Ende des Kalten Krieges geführt.
Die Entspannungs- und Ostpolitik muss man infolgedessen nicht nur vor ihren Kritikern, sondern auch vor jenen naiven Entspannungsnostalgikern in Schutz nehmen, die laut Timothy Garton Ash "freundschaftliche Beziehungen mit dem Himmel, vertiefte Partnerschaft mit der Erde, aber auch fruchtbare Zusammenarbeit mit der Hölle" für erstrebenswert halten. Die Anhänger dieser Sichtweise sind der Überzeugung, die Entspannungspolitik der späten 1960er und 1970er Jahre ließe sich eins zu eins auf die heutige Situation übertragen. Sie sitzen zudem dem Irrglauben auf, dass deutsche Ostpolitik alten Stils nach der Krim-Annexion noch möglich sei und ignorieren dabei, dass ihr aufgrund der geänderten russischen Politik derzeit wichtige Voraussetzungen entzogen worden sind.
Entspannungspolitik damals und heute
Die brandtsche Ost- und Entspannungspolitik zog damals die Lehren aus zwei schweren Krisen: der Kubakrise 1962 und der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Nach der Kuba-Krise, in der die Welt am Rand eines Atomkrieges stand, waren die Einrichtung eines "heißen Drahtes" zwischen Weißem Haus und Kreml sowie die Unterzeichnung eines Abkommens zwischen den USA, Großbritannien und der Sowjetunion über einen begrenzten Atomteststopp 1963 erste Schritte auf dem Weg zu einer umfassenden Rüstungskontrollpolitik. Sie führte 1968 zum Abschluss des Nichtverbreitungsvertrages für Kernwaffen und anschließend zum Beginn von Verhandlungen über die Begrenzung der strategischen Rüstungen (SALT) zwischen den USA und der Sowjetunion.
Die Ostpolitik Willy Brandts knüpfte daran an und wollte die deutsche (und damit zwangsläufig auch die europäische) Teilung überwinden, indem sie diese anerkannt.. Brandts Ostpolitik war eine auf weite Sicht angelegte, dialektische Strategie zur Transformation kommunistischer Herrschaft, die über die Liberalisierung Zentral- und Osteuropas auch Möglichkeiten zum "Zusammenwachsen" der beiden deutschen Staaten, womöglich sogar einer Wiedervereinigung, in einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem schaffen wollte. Dabei war Entspannungspolitik nie gleichbedeutend mit einer Politik der Äquidistanz, sondern immer fest im Westen verankert. Die Formel "Wandel durch Annäherung" wurde auf dem Wort "Wandel" betont. Dabei verfolgte der Westen eine Doppelstrategie, die im Harmel-Bericht der NATO von 1967 auf den Punkt gebracht wurde: Sicherheit und Entspannung waren zwei Seiten derselben Medaille.
Die Strategie der "neuen deutschen Ostpolitik" war zweigleisig. Einerseits bestätigte die KSZE-Konferenz 1975 in Helsinki die sowjetische Herrschaft in Ostmitteleuropa. Andererseits ermutigte sie durch den "Korb 3" eine Demokratisierung von unten durch Oppositionsgruppen und Bürgerbewegungen. Spätestens mit dem Aufkommen der Solidarnosc-Bewegung in Polen gerieten 1980 die beiden Ziele der Entspannungspolitik - strategische Stabilität des Systems und politische Freiheit für die Menschen - in einen Widerspruch. Das dialektische Prinzip, den Status quo zu wahren und zugleich auszuhebeln, stieß vorübergehend an seine Grenzen.
Entspannungs- und Ostpolitik war dabei stets mehr als reine Russlandpolitik. Sicher, ohne die Zustimmung Moskaus wäre nichts gegangen. Aber es ging auch um die polnische Westgrenze (Warschauer Vertrag), die innerdeutsche Politik (Vier-Mächte-Abkommen und Grundlagenvertrag), um die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien. Entspannungspolitik war zudem niemals Beschwichtigungs- oder gar Appeasement-Politik. Dies sollten sich vor allem jene Putin-Apologeten hinter die Ohren schreiben, die die Annexion der Krim völkerrechtlich anerkennen wollen und ansonsten vor allem damit beschäftigt sind, der russischen Propaganda auf den Leim zu gehen. Was oft vergessen wird: Willy Brandt war, als er am 13. August 1961 als Regierender Bürgermeister den Bau der Berliner Mauer hilflos mit ansehen musste, alles andere als ein Entspannungspolitiker. Er war empört, nicht nur über das SED-Regime, sondern auch über die Amerikaner, von denen er sich im Stich gelassen fühlte. Und er nahm kein Blatt vor den Mund: "Eine Clique, die sich Regierung nennt, muss versuchen, ihre eigene Bevölkerung einzusperren. Die Betonpfeiler, der Stacheldraht, die Todesstreifen, die Wachtürme und die Maschinenpistolen, das sind die Kennzeichen eines Konzentrationslagers. Es wird keinen Bestand haben."
Ebenso wie 1961 die Mauer zur Realität wurde, ist heute die Besetzung der Krim eine Realität, die derzeit nicht rückgängig gemacht werden kann. Deshalb muss man sie ausklammern, um beim Interessenausgleich zwischen der Ukraine und Russland voranzukommen. Brandt und Bahr haben die Ostpolitik 1968 in den Monaten nach dem Einmarsch der Sowjets in die Tschechoslowakei entwickelt - sie war insofern auch eine Reaktion auf den Prager Frühling. Auch die amerikanische Detente-Politik zog die Konsequenz aus den Doppelkrisen von Berlin und Kuba. Analog dazu sollte man sich auch heute von den Krisen um Georgien, Transnistrien und der Ukraine nicht entmutigen lassen, sondern weiterhin den Dialog und das Gespräch mit Russland suchen. Dabei sollte man jedoch keine Wunder erwarten. Tatsächlich war auch die Ostpolitik nur bedingt in der Lage, Spannungen zu entschärfen. Sie verhinderte weder den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 noch die polnische Krise zu Beginn der 1980er Jahre.
Der wichtigste und offensichtlichste Unterschied zwischen damals und heute: Das internationale Umfeld unterscheidet sich fundamental von dem des Ost-West-Konfliktes. Breschnew und Putin verfolgten bzw. verfolgen vollkommen unterschiedliche Ziele. Der eine wollte die Nachkriegsordnung zementiert wissen, der andere will die Charta von Paris und das darin festgelegte Gewaltverbot und die Unverletzlichkeit der Grenzen revidieren. Breschnew wollte den Status Quo und betrachtete die Entspannungspolitik als Mittel der Zementierung. Die Veränderung des territorialen Status Quo im Nachkriegseuropa wurde folglich erst möglich, als die sowjetische Führung das Festhalten an der Breschnew-Doktrin, die nur eine begrenzte Souveränität der sozialistischen "Bruderstaaten" postulierte, nicht mehr für opportun hielt und diese - mehr oder weniger freiwillig - in die Unabhängigkeit entließ.
Putin hingegen will eine (Teil-)Revision der europäischen Friedensordnung seit 1990. Er respektiert die territoriale Integrität seiner Nachbarn im postsowjetischen Raum und die Unverletzbarkeit ihrer Grenzen nur so lange, wie diese nicht auf die Idee kommen, sich von russischem Einfluss lösen zu wollen. Das Recht der postsowjetischen Staaten auf freie Bündniswahl lässt Moskau nur dann gelten, wenn die Wahl auf Russland fällt, wie etwa in Zentralasien. Die Frage, ob dahinter eine langfristige Strategie steckt oder ob es nicht vielmehr erratische Reaktionen sind, lässt sich derzeit noch nicht beantworten - es spricht aber einiges für Letzteres.
Was die heutige Konstellation zusätzlich von derjenigen des Kalten Krieges unterscheidet, ist die Tatsache, dass das heutige Russland weitgehend isoliert ist und so gut wie keine Verbündeten hat. Die Sowjetunion konnte sich seinerzeit nicht nur auf ihre osteuropäischen Vasallen, sondern auch auf eine weitverzweigte kommunistische und antiamerikanische Weltbewegung sowie auf linksgerichtete Regierungen und Bewegungen auf mehreren Kontinenten stützen ? ungeachtet ihres Konflikts mit der VR China. Auch einige Befreiungsbewegungen der Dritten Welt blickten damals nicht selten hoffnungsvoll in Richtung Moskau. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Die zivilisatorische Anziehungskraft von Putins Russland beschränkt sich auf so "potente" Mitglieder der Eurasischen Union wie Belarus, Kasachstan und Armenien. Mit anderen Worten, wenn Putin mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ukraine eine Restauration der russischen Macht bezwecken wollte, so hat er das Gegenteil davon erreicht.
Lehren aus der Entspannungspolitik - Willy Brandt Reloaded?
Was also würde Willy Brandt heute tun? Das naive Manifest "Kein Krieg in Europa!", das eigentlich heißen müsste "Was geht uns der Krieg in der Ostukraine an?" hätte er sicher nicht unterschrieben. 60 prominente Deutsche warnen darin Politik und Medien vor einer "Dämonisierung" Russlands und vor einem Krieg, der längst stattfindet. Die Unterzeichner mahnen eine besonnene Politik der Bundesregierung an (die diese im übrigen seit Beginn der Krise unter Frank-Walter Steinmeier unermüdlich betreibt!) und rennen damit offene Türen ein. Zudem haben Teltschik, Schröder u.a. die EU- und NATO-Erweiterungspolitik, die sie offenbar als Ursache der russischen Politik ansehen, in ihrer Zeit als Minister und Regierungschefs maßgeblich mit zu verantworten gehabt. Hier gilt einmal mehr: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern! Karl Schlögel hat hierzu bereits alles Notwendige gesagt.
Dabei ist gar nicht zu leugnen, dass die Lage hochexplosiv ist. Es besteht in der Tat zunehmend die Gefahr, dass man einen neuen Kalten oder gar heißen Krieg herbeiredet und dieser zur self fulfilling prophecy wird. Es ist sicher klug, sich in dieser Situation des weitsichtigen und einfühlsamen Willy Brandts und seiner Methoden zu erinnern, der - gemeinsam mit anderen - Europa aus einer gefährlichen Konfrontation in eine Phase der Entspannung geführt hat.
Eine wichtige Lehre aus der Vergangenheit lautet in der Tat, dass nur eine Entspannungspolitik zum Frieden führt, die auch russische Realitäten und Interessen zur Kenntnis nimmt, ohne sich ihnen zu unterwerfen. Auf der anderen Seite darf sich der Westen auch nicht von ukrainischen Politikern wie Ministerpräsident Jazenjuk instrumentalisieren lassen. Hier gab es auf Seiten des Westens zweifelsohne Fehleinschätzungen und Versäumnisse. Diese wurden auch immer wieder benannt. So ist es dringend notwendig, dass der NATO-Russland-Rat als wichtiges Dialogforum reaktiviert und ernst genommen wird. Zudem brauchen wir neue Initiativen bei der konventionellen Abrüstung in Europa.
Die zweite wichtige Lehre lautet, dass ohne ein festes Wertefundament Entspannungspolitik zur Beschwichtigungspolitik wird. Es gibt Dinge, die nicht verhandelbar sind. Das Festhalten an den Errungenschaften des "Dekalogs von Helsinki" und der "Charta von Paris" gehört dazu. Und dies unabhängig davon, ob die USA im Irak oder der Westen im Kosovo auch das Völkerrecht gebrochen haben. Denn natürlich besteht kein Zweifel, dass auch die amerikanische Supermacht diese von ihr propagierten Grundsätze immer wieder aufs Gröbste verletzt hat. Iran, Chile, Kuba, Vietnam, Grenada und Irak mögen hier als Stichworte genügen - Ausführlicheres hierzu dürfte man aller Voraussicht nach in der Kommentarleiste unten erfahren. Alle notwendigen Kooperationsangebote an Russland dürfen aber nicht dazu führen, dass der Westen eine neue Politik der Einflusssphären in Europa akzeptiert und die eigenen Grundsätze über Bord wirft. Die Unverletzbarkeit der Grenzen und das Gewaltverbot als Basis des Völkerrechts und Garant für Frieden auf dem europäischen Kontinent sind nicht verhandelbar.
Für Putin-Apologeten hingegen hat nicht Russland, sondern die NATO den Status quo in Frage gestellt. Die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine ist demzufolge lediglich eine verständliche - wenn auch spät - erfolgte russische Reaktion auf die NATO- und EU-Erweiterungsrunden seit 1999. Dass zwischen Deutschen und Russen unter anderem die Polen, Ungarn, Balten und Ukrainer liegen, soll uns in diesem Zusammenhang dann offenbar nicht weiter kümmern. Oder wie Alan Posener es treffend formuliert hat: "Es gibt nun einmal Gestaltungsmächte und, nun ja, zu gestaltende, das war schon immer so." (https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-20...)
Fest steht: Die Politik des Westens bedroht nicht die Sicherheit Russlands, sondern nur seinen Anspruch auf eine exklusive Einflusssphäre. Deutsche Russland- und Osteuropapolitik sollte auf Erfahrungswerten, Faktenwissen und Analysen und nicht auf Pathos, Geschichtsvergessenheit und Pauschalurteilen basieren. Deutschland verfolgt auch heute gegenüber Moskau nichts anderes als eine neue Entspannungspolitik in einer Zeit neuer Spannungen. Dazu gehört die Wiederbelebung der OSZE, Frank-Walter Steinmeiers Heiße-Draht-Initiative, die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Haltung im Rahmen der EU, mit Polen und Balten, und der Versuch der Etablierung eines Dialogforums mit der Eurasischen Union. Dabei gilt es Wege auszuloten, auf denen Entspannung - also die Umsetzung des Minsker Abkommens - möglich werden könnte. Im Idealfall werden die Staats- und Regierungschefs dann in der kasachischen Hauptstadt Astana entsprechende Schritte beschließen. Doch dazu gehören zwei. Angesichts der russischen Obstruktionspolitik muss der Westen derzeit froh sein, wenn die Situation in der Ostukraine in Form eines eingefrorenen Konfliktes stabilisiert und damit Zeit gewonnen werden kann. Zeit, die genutzt werden muss, um den Dialog mit Russland ohne erhobenen Zeigefinger zu suchen. Die Bundesregierung braucht dabei keine Nachhilfe von dogmatischen Entspannungsnostalgikern, die der "guten alten Zeit" nachtrauern und dabei vergessen, dass der Kalte Krieg zwar vermeintlich stabil, aber alles andere als ungefährlich war. Seine Stellvertreterkriege forderten Millionen von Toten und nicht nur während der Kubakrise sondern auch danach stand die Welt mehrfach vor dem nuklearen Abgrund.
Wir müssen deshalb alles in unserer Macht stehende tun, um zu verhindern, dass die Zeit nach dem Kalten Krieg im Rückblick einst als die Zeit zwischen den Kalten Kriegen gelten wird. Was also würde Willy Brandt heute tun? Peter Dausend und Michael Thumann haben es auf den Punkt gebracht: "Er ist nicht in (geschweige denn vor) Moskau auf die Knie gefallen, sondern in Warschau. Er wollte auch nie mehr Nachsicht wagen, sondern mehr Demokratie." Dem bleibt nichts hinzuzufügen.