Drei Jahre "Arabischer Frühling"
Eine Bilanz der Umbrüche in der arabischen Welt ist angesichts der Heterogenität einer Region, die rund zwanzig Länder umfasst, zwangsläufig kursorisch: Von den traditionalen Monarchien des Persischen Golfes mit Saudi-Arabien im Zentrum über die präsidentiellen Regime mit der sozialrevolutionären Vergangenheit eines "arabischen Sozialismus" oder "Panarabismus" wie in Ägypten, Syrien, Algerien, zeitweilig auch Tunesien und die frühere Volksrepublik Süd-Jemen bis hin zu Staaten, in denen politische Herrschaft zum Teil kaum in der Lage ist, eine funktionierende Staatlichkeit zu gewährleisten wie im Irak, Jemen, oder in Palästina, zeigt diese Weltregion unterschiedlichste Facetten. Zudem steckt sie nach wie vor in nicht abgeschlossenen und beschleunigten Transformationsprozessen, sodass eine letztgültige Bewertung im Grunde unmöglich ist.
Die autoritär regierten Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens galten bis 2010 als nahezu demokratieresistent. Sie waren jedoch weitgehend politisch "stabil", insofern die staatlichen Institutionen leidlich funktionsfähig und das staatliche Gewaltmonopol zumindest weitgehend intakt waren. Zugleich erschwerten oder verhinderten die staatlichen Sicherheitsorgane jedoch durch Repression wirkliche politische Opposition. Die Protest- und Freiheitsbewegungen des sogenannten ?"Arabischen Frühlings" haben zu enormen Umwälzungen geführt - zu nicht weniger als einem strukturellen Umbruch in der arabischen Welt, der sich auch unmittelbar auf die politischen Systeme auswirkt: In Ägypten, Libyen, Tunesien und im Jemen wurden die autoritären Systeme entmachtet, neue politische Parteien formierten sich und es fanden weitgehend freie und faire Wahlen statt - auch wenn die Ergebnisse nicht den Hoffnungen und Wünschen entsprachen. Die Zukunft der konstitutionellen Monarchien Marokko und Jordanien scheint demgegenüber vorübergehend gesichert. Tunesien kann - trotz aller Herausforderungen - nach wie vor als positives Beispiel für den Versuch eines ernsthaften Dialoges zwischen den politischen Kräften und Parteien dienen.
Es ist in den letzten drei Jahren aber auch deutlich geworden, dass die Demokratie-Hoffnungen, die sich mit dem Begriff "Arabischer Frühling" verbanden, nicht erfüllt haben. Konflikte um politische Macht und den Zugang zu Ressourcen sind in allen Umbruchstaaten, in denen neue politische Akteure an die Staatsspitze gelangten, ebenso vorprogrammiert wie innergesellschaftliche Konflikte vor allem um die künftige Staats- und Gesellschaftsordnung zwischen Befürwortern einer islamistischen und einer religiös-liberaleren bis säkularen oder autoritären Orientierung. Die Transformationsprozesse in der arabischen Welt gehen zudem mit enormen geopolitischen Verschiebungen einher, die sehr lange dauern, nicht linear verlaufen und durch Rückschläge bedroht werden. Mit anderen Worten: Ihr Ausgang ist vollkommen ungewiss.
Das gesamte Staatensystem des Nahen und Mittleren Ostens, das sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches herausbildete, ist in Frage gestellt. So leben aktuell etwa 370 Millionen Menschen in der Region ? 2025 werden es 450 Millionen Menschen sein. Bereits heute gibt es in allen Ländern eine enorm hohe Arbeitslosigkeit ? insbesondere bei den Jugendlichen, die durch die Umbrüche ihre politische Sozialisation erfahren haben. Allein um den Status quo zu wahren, müssten in den kommenden Jahren 50 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden. Voraussetzung dafür aber wäre eine positive wirtschaftliche Entwicklung - die es wiederum ohne stabile politische Verhältnisse nicht geben wird.
Der Klimawandel wird aller Voraussicht nach die Situation weiter verschärfen. So war einer der Mit-Auslöser der revolutionären Umbrüche der weltweit rasante Anstieg der Grundnahrungsmittelpreise infolge von Dürren verbunden mit landesweiten Streiks der Gewerkschaften und anschließenden Spekulationen an den Weltmärkten. Neun der größten Weizenimporteure befinden sich im Nahen Osten. In sieben dieser Staaten brachen 2011 Unruhen aus. Die Bevölkerungsentwicklung, Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und der künftige Grenzverlauf werden strukturbildend nicht nur für die Region, sondern für das internationale System der Zukunft sein.
Der Kampf zwischen den Islamisten und ihren Gegnern aus der alten und der neuen Ordnung ist in Ägypten und anderen Ländern offen ausgebrochen. Dabei geht es nicht nur um Macht und Interessen, sondern auch um das säkulare Prinzip: Es betrifft die Trennung von Religion und Staat, das Verhältnis von Scharia, Verfassung und öffentlicher Ordnung sowie die Unterscheidung zwischen "öffentlich" und "privat". Unter der Voraussetzung, dass der Trend zur Wahl islamistischer Parteien anhält und sich zugleich die arabisch-nationalistischen Tendenzen weiter verstärken, ist zu erwarten, dass die Staatsführungen ihre Außenpolitik im Gegensatz zu früher, wo das Staatsoberhaupt allein den Kurs bestimmte, an der Mehrheitsmeinung ausrichten werden.
Der Bürgerkrieg in Syrien und die staatliche Implosion Libyens als Folge der militärischen Intervention und des Sturzes von Oberst Gaddafi haben die gesamte Region destabilisiert. Das staatliche Gewaltmonopol existiert nur noch regional eingeschränkt oder in Saaten wie Libyen überhaupt nicht mehr. Hinzu kommt, dass der Bürgerkrieg in Syrien auch ein Stellvertreterkrieg ist, in dem vor allem Saudi-Arabien und die Golfstaaten auf der einen und der Iran auf der anderen Seite agieren. Die Handlungsoptionen der internationalen Gemeinschaft waren demgegenüber durch die russische Blockade im UN-Sicherheitsrat zwei Jahre lang substantiell eingeschränkt. Der Konflikt in Syrien hat sich vom Bürger- zum Stellvertreterkrieg entwickelt, mit nachhaltig negativen Auswirkungen auf die Nachbarländer. Er hat die religiös-ethnischen Gegensätze in der Region deutlich verschärft. Die Golfstaaten, die Türkei und der Iran spielen dabei eine Sonderrolle.
Hinzu kommt der israelisch-arabische Konflikt, der auch wenn er nicht mehr der "Schlüsselkonflikt" des Nahen Ostens ist, gleichwohl virulent bleibt. So hat sich das sicherheitspolitische Umfeld Israels durch die arabischen Revolutionen grundlegend verändert - nicht unbedingt zum Positiven - da der israelischen Regierung schlichtweg die bisherigen Ansprech- und Verhandlungspartner fehlen.
Die Ereignisse der letzten drei Jahre könnten erst der Anfang eines Umbruchs in dieser Region sein, bei dem es nicht nur um Rebellionen oder die Installation neuer Regierungsformen geht. Vielleicht lässt sich das, was 2010 begann, in seinen Dimensionen sogar mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches zum Ende des Ersten Weltkriegs vergleichen: Machtzentren werden sich verschieben, wahrscheinlich auch Grenzen neu gezogen, enorme Flüchtlingsmassen werden sich auf den Weg in das reiche Europa machen - die Flüchtlingstragödien vor Lampedusa haben uns die Notwendigkeit einer neuen humaneren und solidarischen europäischen Flüchtlingspolitik eindrücklich vor Augen geführt.
Der Umsturz in Ägypten, die Proteste in der Türkei, politische Veränderungen im Iran - die drei größten Völker des Nahen Ostens ringen um die Rolle des Islam in ihren Gesellschaften. In Ägypten eskalierte ein millionenfacher Aufruhr des Volkes zum Militärputsch gegen den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi unter zur Hilfenahme vordemokratischer Mittel. Die Rückkehr zum autoritären System dürfte zu einer weiteren Radikalisierung der Islamisten und einem jahrelangen blutigen Kampf zwischen Sicherheitskräften und den islamistischen Gruppen führen. Die Ereignisse in Ägypten haben auch Einfluss auf Tunesien und die Krise der dortigen Übergangsregierung verschärft. In der Türkei boten hunderttausende Demonstranten wochenlang Regierungschef Erdogan die Stirn. Im Iran hievten die Wähler im ersten Anlauf mit Hassan Rohani einen älteren Geistlichen auf den Präsidentensessel, bloß weil dieser es gewagt hatte, die erstickende Sicherheitsatmosphäre im Land zu kritisieren und den Bürgern eine Charta privater Freiheitsrechte zu versprechen.
Dabei bergen die Umbrüche in der arabischen Welt nicht nur Risiken, sondern auch Chancen - wenn die neuen Regierungen mehr politische Teilhabe zulassen und ihre Politik sich mehr an den Bedürfnissen der Bevölkerung und weniger an der persönlichen Bereicherung der herrschenden Machtclique und an regional- bzw. geostrategischen Machtinteressen orientieren wird.
Deutschland und die Partner in der Europäischen Union haben kaum Einfluss auf den Verlauf der arabischen Umbrüche - vollkommen irrelevant sind sie jedoch nicht. Es liegt im Interesse Europas, mit allen politischen Akteuren im Gespräch zu bleiben und sowohl auf eine politische Regelung der innenpolitischen Konflikte zu drängen und durch geeignete wirtschaftliche Mittel, die Erosion der Wirtschaftsordnung verhindern zu helfen. Eine Ausgrenzung des Muslimbrüder und anderer islamistischer Kräfte, trägt lediglich zu deren weiterer Radikalisierung bei. Hier müssen die Gesprächskanäle offen gehalten werden. Auch ein Austausch zwischen Parlamentariern aus Europa und der Region wäre ein vernünftiges Projekt. Notwendig ist zudem ein deutlich stärkeres Engagement Europas, wenn eine weitere Destabilisierung der Region verhindert und die Gefahren für die Sicherheit Europas abgewendet werden sollen. Einen ganz konkreten Beitrag kann die EU dadurch leisten, dass sie den Handel und Unternehmensgründungen in arbeitsintensiven Branchen fördert und ihren Agrarsektor nicht länger durch eigene Subventionen abschottet. Zudem muss die Zusammenarbeit intensiviert und die Mobilität von Dienstleistern und Arbeitskräften erhöht werden. In diesem Zusammenhang haben bereits vor zwei Jahren Frank-Walter Steinmeier und andere Fachpolitiker der SPD einen Marshall-Plan für die betroffene Region gefordert.
Dieser Vorschlag ist weiterhin aktuell. Ganz wichtig bleibt zudem das institutionalisierte Krisenmanagement mit der Arabischen Liga, dem Golfkooperationsrat, der EU, den USA und den regionalen Akteuren ? allen voran der Türkei, den Golfmonarchien und dem Iran. Der Türkei kommt dabei eine Schlüsselrolle als Ankerland der Region zu. Deswegen sollte die Perspektive eines EU-Beitritts der Türkei nicht leichtfertig verspielt werden.