Deutschland: Vom Trittbrettfahrer zur Führungsmacht wider Willen?
Als Frank-Walter Steinmeier, Ursula von der Leyen und Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 mehr Verantwortung in der Außenpolitik anmahnten, ahnten sie sicherlich nicht, wie schnell diese Forderung von der Realität eingeholt werden würde. Die Ukraine-Krise, der erneute Gaza-Krieg, weiterer Staatszerfall, das Aufleben von Chauvinismus und Nationalismus sowie der Vormarsch der ISIS im Irak und der anhaltende Krieg in Syrien hat auch die deutsche Außenpolitik vor neue Herausforderungen gestellt. Der Abgleich der außenpolitischen Rhetorik mit der Realität kam jedenfalls schneller als erwartet.
Glaubt man Experten im In- und Ausland, ist es um deutsche Außenpolitik schlecht bestellt. Deutschland sei auf internationalem Parkett zu passiv und angesichts seiner neu gewonnenen Größe zu wenig bereit, internationale Verantwortung und Führung zu übernehmen. Es zeige zu wenig (militärische) Solidarität mit seinen Bündnispartnern, zu wenig Risikobereitschaft und sei mit seiner Kultur der Zurückhaltung immer noch Gefangener seiner eigenen Geschichte. Deutschland wird als "große Schweiz", sicherheitspolitischer Drückeberger und Trittbrettfahrer oder als egoistische Handelsmacht gebrandmarkt, die noch dazu - quasi nebenbei - zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt aufgestiegen ist. Stellvertretend sei hier Christian Hacke zitiert, der von Deutschland eine "angemessene außenpolitische Kultur der Zivilcourage" fordert - was immer dies im konkreten Fall auch heißen mag. Auch Stephan Bierling kommt zu einem eher verhaltenen Fazit: "Deutschland ist ein risikoscheuer, post-militärischer Handelsstaat, der sich auf die EU konzentriert, friedliche Mittel der Krisenbewältigung präferiert und Führungsaufgaben ablehnt. Ob dies ausreicht, die Euro-Zone zusammenzuhalten, die europäische Peripherie zu stabilisieren und die Gefahren zu minimieren, die sich aus Staatszerfall und islamischem Terrorismus ergeben, kann bezweifelt werden." (Bierling 2014, S. 270).
Diese Kritik prallt hingegen an der deutschen Bevölkerung und an großen Teilen der politischen Klasse ab. Deutschland geht es gut. Zwar hat die Bundesrepublik gigantische finanzielle Garantien übernommen, um den Zusammenbruch der EU-Krisenstaaten zu verhindern. Diese sind aber bisher gar nicht zum Tragen gekommen. Deutschland ist gestärkt aus der Eurokrise hervorgegangen und ist bislang gut damit gefahren, sich aus den "Händeln" der Welt herauszuhalten. Laut einer Umfrage der BBC ist es zudem das beliebteste Land der Welt (Süddeutsche Zeitung 2013, 23. Mai). Dennoch ist die Forderung nach mehr deutscher Führung gleichwohl keine rein akademische.
Deutsche Außenpolitik stand schon immer im Spannungsverhältnis zwischen Führung und Zurückhaltung. In der Mitte Europas war Deutschland historisch gesehen zu groß für ein Gleichgewicht und zu klein für die Hegemonie (vgl. hierzu Simms 2014). Das Problem der "kritischen Größe" Deutschlands schien mit der deutschen Teilung als Folge des Ost-West-Konfliktes seit 1945 gelöst, stellte sich aber nach 1990 neu. In den letzten Jahren wurde Deutschland wieder zur "Zentralmacht Europas" (Schwarz 1998). Dazu trug vor allem die Verbesserung der ökonomischen Lage im Inneren bei gleichzeitiger Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den EU-Partnerstaaten bei - verbunden mit der zunehmend dominanten Rolle Deutschlands beim Management der europäischen Staatsschuldenkrise nach 2009.
Die Mär von der mangelnden deutschen Führung
Zweifelsohne war die deutsche Außenpolitik nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges geradezu zwangsläufig von Zurückhaltung geprägt und Teil und Objekt amerikanischer Weltpolitik. Die Bundesrepublik Deutschland war nicht "ein Land auf der Suche nach einer Außenpolitik, sondern Ergebnis amerikanischer Außenpolitik auf der Suche nach einem Land" (so Stürmer 2012, S. 112). Deutschland hat zudem nach 1945 die prägende Erfahrung gemacht, dass eine Politik "goldener Handschellen", die Schaffung eines dichten Netzes transnationaler Abhängigkeiten, letztlich nationale Unabhängigkeit ermöglichte. Die Integration deutscher Streitkräfte in die NATO diente dabei nicht nur der Sicherheit für, sondern auch der Sicherheit vor Deutschland. Wolfram Hanrieder hat dies treffend als "doppelte Eindämmung" (Hanrieder 1995) bezeichnet. Die Bundesrepublik war während des Kalten Krieges Importeur von Sicherheit und potenzielles Schlachtfeld an der Nahtstelle des ideologischen Großkonfliktes. Dies hat sich mit dem Fall der Mauer und der deutschen Einheit grundlegend geändert.
Seit der Wiedervereinigung ist die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik schubweise "normalisiert" worden. Über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten in AWACS-Aufklärungsmaschinen über der Türkei 1991 bis zu den ersten aktiven militärischen Einsätzen außerhalb des NATO-Gebiets im Kosovo (1999) und in Afghanistan (2002) wurde die besondere Zurückhaltung, die für Einsätze der Bundeswehr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs galt, nach und nach aufgegeben.
Dennoch war und ist die deutsche Außenpolitik nach wie vor von einer "Kultur der Zurückhaltung" geprägt. Dieses Schlagwort, zuletzt festgehalten im schwarz-gelben Koalitionsvertrag, diente bei vielen internationalen Krisen als Schild, hinter dem sich die europäische Mittelmacht versteckte. Die Stimmenthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat bei der Verabschiedung der Resolution 1973 ist das jüngste Beispiel dafür.
Einige Kritiker sehen in der "Kultur der Zurückhaltung" geradezu den Kern deutscher Staatsräson, das Bestreben sich nicht in weitere Konflikte verwickeln zu lassen, deren Verlauf und Konsequenzen nicht absehbar sind - wozu Konflikte nun leider geradezu per Definitionem neigen. Dieses Bestreben deckt sich auf jeden Fall mit dem Interesse des weitaus größten Teils der deutschen Bevölkerung. Die weit verbreitete These, Deutschland habe sich vor allem als Trittbrettfahrer im Windschatten des Kalten Krieges durchgemogelt und keine Führung ausgeübt, ist jedoch falsch. Es ist auch beileibe nicht so, als wäre Deutschland in der Vergangenheit nur ein willfähriger Befehlsempfänger gewesen, der keine interessengeleitete, sondern lediglich eine fremdbestimmte Außen- und Sicherheitspolitik betrieben hätte, auch wenn sich diese These hartnäckig hält.
Im Übrigen: "Mut" und "Feigheit" sind unzulängliche Kategorien zur Beschreibung von komplexen außenpolitischen Entscheidungen. Für die einen war Schröders Nein zum Irakkrieg 2003 mutig, für die anderen populistisch - vermutlich war es beides. Ähnlich verhält es sich mit der Enthaltung zur Libyen-Resolution. Es war sicherlich ein Fehler, sich hier ohne Not zu isolieren, zumal man der Vorgängerresolution 1970 einschließlich des militärischen Beitrags zugestimmt hatte; der Untergang des "atlantischen Abendlandes" oder der Beginn eines deutschen Sonderweges war es gleichwohl nicht.
Beispiele deutscher Führung
Die Bundesrepublik Deutschland wird heute mit mehr Anforderungen an ihre Führungsfähigkeit konfrontiert. Sie hat aber auch in der Vergangenheit in vielfacher Weise eine Führungsrolle übernommen - vor allem in der Wirtschaftspolitik aber auch in der Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik. Die Unterstellung, Deutschland hätte in der Vergangenheit nicht geführt, sondern lediglich Trittbrettfahrerei und Scheckbuchdiplomatie betrieben, ist schlicht falsch. Bereits in der Vergangenheit hat Deutschland, wenn es seine (zumeist wirtschaftlichen) Interessen verlangten, eine Führungsrolle übernommen - in der Regel im Verbund mit Partnern.
So übernahmen Willy Brandt und Egon Bahr in der Entspannungs- und Ostpolitik Ende der 1960er und der 1970er Jahre zweifelsohne eine Führungsrolle, wenn auch in enger Abstimmung und Konsultation mit der amerikanischen Führungsmacht sowie weiteren Partnern. Sie verfolgten eine Strategie, die auch von anderen sozialdemokratischen Regierungen in Europa mitgetragen werden konnte, u.a. im Harmel-Bericht 1967 (NATO 1967). Nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems Ende der 1970er Jahre haben Helmut Schmidt und Valerie Giscard-d'Estaing gegen amerikanischen Widerstand das Europäische Währungssystem, den Vorläufer des Euro ins Leben gerufen. Auch in der Frage der Nachrüstung und der Formulierung des NATO-Doppelbeschlusses übernahm Helmut Schmidt mit seiner Rede vor dem International Institute für Strategic Studies (IISS) 1977 eine führende Rolle - auch wenn seine Partei in der Folge den Schritt für falsch hielt. Die Erlangung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 ist geradezu das Paradebeispiel deutscher Führungspolitik, die Helmut Kohl zusammen mit George Bush d.Ä. gegen teilweise erbitterten Widerstand von Großbritannien und auch Frankreich durchzusetzen wusste. Auch bei der ersten Runde der NATO-Osterweiterung um Polen, Ungarn und Tschechien übernahm Deutschland - oder besser gesagt der damalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe - eine Führungsrolle. Er war die treibende Kraft, die schließlich auch die Clinton-Administration überzeugen konnte. Parallel dazu entwickelte Deutschland führend den kooperativen Ansatz der NATO, der in den Partnerschaften für den Frieden, dem Euroatlantischen Partnerschaftsrat und dem NATO-Russland-Rat seinen institutionellen Niederschlag fand. Das Duo Merkel/Steinmeier war dann auch dasjenige, welches den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 zusammen mit anderen europäischen Regierungen ablehnte.
Auch als in den 1990er Jahren die jugoslawischen Erbfolgekriege begannen, kam Deutschland eine Schlüssel- und Führungsrolle zu. Mit dem Vorpreschen bei der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens im Dezember 1991 übte Bonn zum ersten Mal in einer wichtigen außenpolitischen Frage unilateral Führung aus. Auch bei den Friedensverhandlungen in Dayton 1995 trug Deutschland, nach den USA, wesentlich zum Erfolg der Friedensverhandlungen bei. Während des Kosovo-Krieges 1999 nutzte Deutschland seinen Doppelvorsitz in der EU und der G8 und präsentierte mit dem sogenannten "Fischerplan" und der Kölner Konferenz einen Ausweg aus der verfahrenen Lage und gab die entscheidenden diplomatischen Impulse zur Beilegung der Krise und zeichnete u.a. maßgeblich für den Stabilitätspakt für Südosteuropa verantwortlich. Auf dem Balkan übernahm Deutschland zweifelsohne eine führende Rolle. Auch im Irakkrieg 2003 versuchte Deutschland unter Kanzler Schröder, die EU gegen die USA zu positionieren. Dabei folgten ihm jedoch lediglich Frankreich (und Russland), während die überwiegende Zahl der EU-Regierungen (im Gegensatz zu ihren Bevölkerungen) den Krieg unterstütze. Die (vorübergehende) tiefe Entfremdung mit den USA und die Spaltung Europas waren der Preis, den Deutschland dafür zahlen musste.
Weitere Beispiele und Politikfelder deutscher Führungspolitik sind ohne Zweifel der Bereich der Umwelt- und Klimapolitik. Im Klimaschutz spielte Deutschland eine Vorreiterrolle - auch gegen die USA. Ähnlich verhielt es sich bei der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes in Genf. Auch hier war Berlin eine der treibenden Kräfte und gehörte zu den Erstunterzeichnern des Statuts von Rom. Ähnliches gilt für das Abkommen über das Verbot der Streumunition oder anderer wichtiger Rüstungskontrollverträge. Der deutsche Führungsanspruch zeigte sich auch im Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, ein Projekt, das allerdings nie eine seriöse Chance auf Verwirklichung hatte und insofern als eher rückwärtsgewandte Symbol- und Statuspolitik bezeichnet werden muss. Die gewachsene internationale Bedeutung Deutschlands spiegelt sich nicht zuletzt in seiner Teilnahme an informellen Führungsgremien wie G7/G8 oder die Balkan-Kontaktgruppe wider. Auch bei den Iran-Gesprächen sitzt Deutschland im Format "Fünf plus Eins" mit am Verhandlungstisch. Deutschland ist heute die "Auch-dabei-Macht", ohne die international vieles nicht mehr geht. Gleichzeitig wächst bei den kleineren Partnern in der EU aber auch der Unmut, wenn neues deutsches Selbstbewusstsein forscher daherkommt, als es mit solidarischem Handeln vereinbar ist.
Diese Beispiele deutscher Führung erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zwar griff die Regierung Kohl das explizite Angebot von George Bush, der unter dem Schlagwort der "Partners in Leadership" bereits im Mai 1989 eine gemeinsame Führungsrolle der Bundesrepublik und den USA innerhalb der NATO vorschlug, nicht auf, dies bedeutete jedoch nicht, dass Deutschland nicht bereit und in der Lage dazu war, zu führen. Kennzeichen deutscher Führung war aber, dass sie - in der Regel - nie alleine, sondern immer im Verbund mit Partnern erfolgte. Zudem war die Bundesrepublik 30 Jahre lang die treibende Kraft hinter dem Wandel des Kontinents, auch wenn sie weniger lautstark Einfluss genommen hat, als etwa Frankreich oder Großbritannien. Auch in der Ukraine-Krise hat Deutschland - in enger Abstimmung mit Polen, Frankreich und den USA eine Führungsrolle übernommen, die nicht nur respektiert, sondern geradezu erwartet wurde. Diese resultierte in erster Linie aus den besonderen Beziehungen zu Russland. Die größte aber auch schwierigste und historisch heikelste Führungsaufgabe kam jedoch auf Berlin mit dem Ausbruch der europäischen Finanzkrise seit 2009 zu.
Deutschland, der wohlmeinende EU-Hegemon?
Nach Ende des Ost-West-Konfliktes und im Zuge der Erweiterung auf 28 Mitglieder ist die Europäische Union für Deutschland immer wichtiger geworden. Während Berlin in der Vergangenheit in einzelnen Themenbereichen schon immer eine Vorreiterrolle in Europa übernommen hatte, wuchs ihm eine solche mit dem Ausbruch der Eurokrise quasi institutionell zu. Aber auch und gerade innerhalb der Europäischen Union gilt: Führen kann ein Staat nur dann, wenn andere bereit sind, ihm zu folgen. Dies tun Staaten in der Regel dann, wenn die Führungsnation kollektive Güter bereitstellt. So wie die USA das kollektive Gut Sicherheit bereitstellen, oder dies zumindest in der Vergangenheit taten, so war das kollektive Gut Deutschlands in der Europapolitik seine Wirtschaftskraft oder genauer seine Bereitschaft, für Fortschritte der europäische Integration durch die Übernahme finanzieller Lasten zu zahlen. Diese Selbsteinbindung entsprach zudem dem deutschen Eigeninteresse und trug dazu bei, Koalitionsbildungen gegen Deutschland zu verhindern. In beiden Fällen droht jedoch mittlerweile die Gefahr der Überdehnung (Menzel 2012).
In der Eurokrise stieß die bewährte deutsche Strategie der Einflussmaximierung durch Souveränitätsverzicht jedoch an ihre Grenze. Auch weil diese sich von einer Staatsschulden- und Bankenkrise in den letzten Jahren zu einer institutionellen Krise der europäischen Integration ausweitete. Zwar hat Deutschland bis heute von der Finanzkrise profitiert, da es quasi zum Nulltarif Geld bei der Europäischen Zentralbank aufnehmen kann. Dafür hat es aber für enorme Summen die Haftung übernommen. Dennoch sahen nicht wenige EU-Partner in der europäischen Finanzkrise und der sich durch ihr verstärkenden deutschen Vormachtstellung eine Art ökonomische Neuauflage der deutschen Frage (vgl. Kundnani 2011). Hier kam der alte britische Vorwurf wieder zum Tragen, dass Deutschland das, was es in zwei Weltkriegen nicht geschafft habe, nämlich die politische und militärische Hegemonie über den europäischen Kontinent zu erlangen, nun quasi durch die Hintertür auf ökonomischem Gebiet erreicht habe. Gerade bei den Partnern in der EU gingen und gehen das Hoffen auf deutsche Führung und das Bangen vor deutscher Hegemonie oft Hand in Hand. Zugleich wurde die deutsche (ökonomische) Führungsrolle durch die Erweiterung auf 28 Staaten und die Finanzkrise seit 2010 deutlich schwieriger.
Ironischerweise führte der Euro, der nach französischem Kalkül die deutsche Vormachtstellung in Wirtschaftsfragen brechen sollte, zum genauen Gegenteil: er verstärkte und zementierte diese. Erschwerend kam hinzu, dass einige EU-Staaten zwar deutsches Geld, aber keine deutsche Führung auf diesem Gebiet wollen. Oder zumindest unter deutscher Führung gerade nicht die Durchsetzung nationaler Interessen, sondern die Fähigkeit zur Vermittlung zwischen unterschiedlichen Interessen und deutsche Kompromissbereitschaft verstehen. Insofern ist das viel bemühte Zitat des polnischen Außenministers Sikorski nicht unbedingt repräsentativ für die Mehrheit der EU-Staaten. Je mehr sich die Europa-Politik im Zuge der Finanzkrise auf ökonomische Fragen reduzierte und verdichtete, desto mehr Macht und damit verbunden die Notwendigkeit der Führung wuchsen Deutschland zu. Dabei machte der europäische "Wirtschaftshegemon" Deutschland die gleiche Erfahrung, mit der die USA im weltpolitischen Maßstab ständig konfrontiert werden: Wenn man handelt und führt, wird man wegen seiner Dominanz und Machtfülle kritisiert, handelt man nicht, wird man wegen Untätigkeit und mangelnder Führung kritisiert. "Es ist die normalste Sache der Welt für eine mächtige Nation, dass von ihr Führungsstärke verlangt wird - und dass sie dann mit Kritik leben muss, wenn sie diese zeigt." (Ash 2012, zit. nach Schmitz 2012) Deutschland wird dabei in Anlehnung an den amerikanischen Diskurs in den letzten Jahren zunehmend die Rolle eines "gütigen (benevolent) Hegemon" in der EU zugeschrieben ? analog zu der Rolle der USA auf globaler Ebene. Ob dies ein griechischer Rentner ebenso sieht, darf bezweifelt werden.
Berlin ist deshalb innerhalb der EU "zur Führung verdammt". Wenn Deutschland nicht an vorderster Stelle agiert, tut es niemand. England ist paralysiert und Frankreich innenpolitisch und ökonomisch geschwächt. Dabei ist eine Wiederbelebung des deutsch-französischen Tandems - erweitert um Polen - dringend erforderlich. Als Folge des Managements der Finanzkrise hat Deutschland jedoch seine Europapolitik verändert - weg von der supranationalen "Einheitsmethode", die vor allem auf die EU-Kommission in Brüssel abzielte, hin zu bilateralen und intergouvernementalen Initiativen, die den Regierungen ein deutlich höheres Maß an Kontrolle ermöglichen.
Die Vorstellung, hinter dem Wunsch nach mehr Engagement und Führung aus Berlin verberge sich nur die Absicht, Deutschland auszunutzen, ist bequem und falsch zugleich: Ohne Deutschland ist Europa noch weniger handlungsfähig. Der Economist brachte es auf den Punkt: "When American leadership shored up a vulnerable West Germany half a century ago, it was in the interests not just of Germans but of Americans too. Now it is Germany's turn to lead its weaker allies, for their sakes and for its own." (The Economist 2013). International abseits zu stehen ist keine Option für das Kraftzentrum Europas ? auch deshalb nicht, weil die Zeiten vorbei sind, in denen die Vereinigten Staaten für die Sicherheit und das wirtschaftliche Wohlergehen ihrer vergleichsweise reichen europäischen Partner hafteten.
Deutschland ist zudem mit der Selbstdomestizierung seiner Macht durch Einbettung in multilaterale Institutionen bislang gut gefahren. Zur deutschen Führung in Form einer "embedded hegemony", die in europäische Institutionen eingebettet und multilateral abgefedert ist, gibt es deshalb keine Alternative - ebenso wenig wie zu der Tatsache, dass Deutschland auch künftig überproportional Lasten für die Sicherung und Fortentwicklung der EU wird tragen müssen. Denn an der Alternative einer sich heute schon abzeichnenden Renationalisierung Europas kann außer den Rechts- und Linkspopulisten niemand Interesse haben (vgl. Mützenich 2014).
Der deutsche Außenminister hat deshalb Recht: "Aktive deutsche Außenpolitik gibt es nur in und durch Europa. Wer hingegen glaubt, dass Deutschland in dieser Welt auch nur ein einziges Problem alleine lösen kann, der unterliegt einer Täuschung! Wir können nur mit unseren Partnern und in unseren Bündnissen Gewicht haben" (Steinmeier 2014). Durch diese werden auch politisch und wirtschaftlich kostspielige Alleingänge vermieden, zumal klug gewählte Führungskoalitionen viel erfolgreicher sind. Das kann in Form traditioneller Partnerschaften wie dem deutsch-französischen Tandem oder wie bei der Ukraine-Krise im Format des Weimarer Dreiecks oder in Form informeller Mächtekonzerte wie G7 und EU 3 +3 geschehen. Auch im Rahmen der NATO kamen die Vertreter der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands regelmäßig in der so genannten Vierer-Gruppe (der so genannten "Quad") zusammen - zunächst, um gemeinsam über Deutschland als Ganzes und Berlin betreffende Fragen zu beraten, später, um in kleiner Runde und vertraulich weltpolitische Fragen zu erörtern. Auch wenn derartige exklusive Gruppierungen zwar stets von den nicht beteiligten Mitgliedern misstrauisch beäugt wurden, erleichterten sie die Konsensfindung in strittigen Fragen wesentlich.
Die Eurokrise und die Krise um die Ukraine haben den Mitgliedern der EU vor Augen geführt, dass das europäische Projekt kein Selbstläufer ist. Es kann auch scheitern - die Tendenzen zur Renationalisierung sind unübersehbar. EU-Europa wird nur dann erfolgreich und befriedet bleiben, wenn es an den Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte festhält: der Politik des Interessenausgleichs zwischen kleinen und großen Staaten, der Verzicht auf Zwang durch die mächtigeren Staaten und der Glaube daran, dass im fairen Ausgleich untereinander eine Win-Win-Situation entsteht, von der alle profitieren. Der europäische Multilateralismus mag zäh, zeitaufwendig und wenig effizient sein. Er ist jedoch immer noch die beste aller schlechten denkbaren Ordnungen für Europa. Gerade Deutschland darf zudem nicht den Eindruck erwecken, es suche ein Sonderverhältnis zu Russland über die Köpfe der kleineren östlichen Partner hinweg. Dennoch müssen wir auch unseren Partnern klar machen, dass eine europäische Sicherheitsordnung ohne Russland unvollendet bleibt. Das beharrliche Werben um Dialog, die Festlegung auf Regeln und Normen und eine Entdämonisierung des Anderen bleiben richtig. Zudem wird die EU nicht umhin kommen, ihre Außen- und Sicherheitspolitik effizienter zu gestalten. Es wäre hier schon viel gewonnen, wenn die 28 EU-Außenminister künftig ihrer neuen Außenpolitik-Beauftragten mehr Handlungsfreiheit zugestehen und eine stärker integrierte Sicherheitspolitik betreiben würden. Darüber hinaus muss sich künftige Außenpolitik zunehmend direkt den Ursachen innergesellschaftlicher und regionaler Konflikte widmen, dem Armutsproblem und den sozialen Gegensätzen in vielen Teilen des "globalen Südens". Hierfür brauchen wir Partner. Und diese werden nicht die neuen Gestaltungsmächte sein, sondern die transatlantischen Demokratien und unsere Partner in der Europäischen Union - auch die vermeintlich kleinen. Wahr ist aber auch: Die Erwartung von großen Würfen ist in der gegenwärtigen Situation der EU illusionär. Es ist deshalb wohlfeil, die "große europäische Erzählung" einzufordern.
Deutsche Führung: Ansprüche, Erwartungen und Fähigkeiten
Auch in Zukunft wird Deutschland das Schicksal anderer großer Staaten teilen und sowohl für seine Führung wie für seine Zurückhaltung kritisiert werden. Dabei wird nicht nur innerhalb der EU, sondern auch international, von Deutschland immer häufiger eine Führungsleistung erwartet und/oder abverlangt werden. Als stärkste Volkswirtschaft in Europa, drittgrößte Exportnation und viertgrößte Ökonomie der Welt kommt Deutschland schon alleine aufgrund seiner Größe eine besondere Verantwortung zu. Verantwortung und Führung gehören zusammen. Verantwortungslose Führung ist keine Führung, sondern ein Diktat. Deshalb kann ein Staat nur führen, wenn er dazu eine Legitimation hat. Dies wurde auch beim von Außenminister Steinmeier angestoßenen Review 2014-Prozess deutlich. So stellte Kishore Mahbubani seinen Artikel unter das Motto: "Deutschlands Bestimmung: Europa führen, um die Welt zu führen." Demnach soll Deutschland nicht nur Europa führen, sondern auch Russland europäisieren und Amerika "multilateralisieren". Nebenbei soll dann noch Asien mobilisiert und Afrika neu entdeckt werden (vgl. Mahbubani 2014). Hier kommt einem unwillkürlich der Gedanke, ob es nicht auch eine Nummer kleiner geht.
Auch auf die Münchner Reden von Gauck, Steinmeier und von der Leyen, in der diese unisono mehr deutsche Verantwortung forderten, ließen die entsprechenden Reaktionen und Reflexe erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten. Einige Kommentatoren sehen bereits eine neue Kanonenbootpolitik am Horizont dräuen. Für sie ist die Sache klar: Deutschland will wieder in den Krieg ziehen. Das ist natürlich barer Unsinn. Im Tunnelblick dieser "Lehnstuhlstrategen" ist Zurückhaltung gleichbedeutend mit Frieden und Verantwortung mit Krieg. Es ist jedoch ein fataler Kurzschluss, mehr internationales Engagement sofort mit mehr Militäreinsätzen der Bundeswehr gleichzusetzen. Es bringt auch für die außenpolitische Debatte nur wenig Erkenntnisgewinn, in alte Reiz-Reaktions-Muster zu verfallen. Auf der anderen Seite hat Deutschland trotz seiner vermeintlichen "Kultur der Zurückhaltung" seit 1990 unter anderem Truppen nach Kambodscha, Somalia, Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, ans Horn von Afrika, nach Kongo, in den Libanon, nach Mali und in die Türkei entsendet.
Ohne Zweifel gab und gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen Führung und Zurückhaltung. Dieses kann aber nicht im Sinne eines "entweder oder" zugunsten einer Seite aufgelöst werden, sondern muss im Sinne eines "sowohl als auch" von Fall zu Fall ausbalanciert werden. So wird es auch in Zukunft Situationen, Krisen und Konstellationen geben, die deutsche Führungsbereitschaft erfordern oder sogar zwingend notwendig machen und andere, wo diese sinnlos oder gar kontraproduktiv wäre. So wäre der Besuch des französischen Premiers ein gutes Beispiel für Zurückhaltung statt für wohlfeile Ratschläge seitens des ohnehin in Frankreich unter Hegemonieverdacht stehenden Deutschlands gewesen.
In der Debatte um deutsche Führung oder Zurückhaltung und auch im Review 2014-Prozess von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zieht sich als roter Faden das immer wieder gern verbreitete Lamento über die unfähigen außenpolitischen Eliten des Landes, die nicht - oder nur unzureichend - in der Lage oder willens dazu wären, deutsche Interessen zu definieren. Ganz abgesehen von der Frage, ob ein Staat angesichts des sich ständig ändernden internationalen Umfelds auswärtige Interessen überhaupt jenseits von Allgemeinplätzen dauerhaft bestimmen kann, mangelt es jedoch keineswegs an Papieren und Strategien, die Deutschlands außenpolitische Interessen zu definieren versuchen: Das Weißbuch von 2006, die europäische Sicherheitsstrategie und die europäische Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen von 2003 sind dabei die wichtigsten Grundlagendokumente, in denen die deutschen und europäischen Interessen ausführlich behandelt werden. Man kann nun sicher lang und trefflich darüber streiten, ob diese ausreichen oder noch aktuell sind ? Kritik und Ergänzungen sind in einer offenen Debatte jederzeit willkommen. Das Lamento, es gebe keine strategische Lagebeurteilung, stimmt aber ebenso wenig wie die Klage darüber, dass im Bundestag und in den dafür zuständigen Ausschüssen und Arbeitsgruppen keine außenpolitischen Debatten mehr geführt würden. Vielleicht sollten nicht nur Politiker, sondern auch einige Wissenschaftler öfter einmal über den Tellerrand ihrer "Community" hinausblicken.
Vor dem Hintergrund unklarer und unübersichtlicher Risiken und Bedrohungslagen bedeutet dies, dass die bekannten Probleme multilateralen Handelns ("war by committee"), wie etwa Trittbrettfahrerei, Formelkompromisse und Minimallösungen, sich weiter verschärfen dürften. Multilaterale Sicherheitspolitik zu organisieren ist schon schwer genug, sie zu gestalten jedoch noch schwieriger. Dennoch muss diese Debatte dringend geführt werden und zwar unter Einschluss der Öffentlichkeit und nicht nur auf einer der unzähligen sicherheitspolitischen Tagungen, bei denen sich quer durch die Republik die immer gleichen Leute treffen und sich darüber beklagen, dass es in diesem Land keine sicherheitspolitische Debatte gebe.
Zudem sollte man die vermeintlichen Fehlleistungen der deutschen Außenpolitik auch einmal in Bezug zu den "Führungsleistungen" anderer Mächten setzen. Hier ist Harald Müller zuzustimmen:
"Ein Blick auf andere stiftet Trost: Die USA sind führungsunfähig durch die ideologischen Antagonismen im Inneren und die dadurch ausgelöste Unverlässlichkeit bei Vertragsverhandlungen und -abschlüssen sowie in der Haushaltspolitik. Frankreich ist innenpolitisch ähnlich zerrissen; als Partner muss man stets darauf gefasst sein, dass französische Präsidenten den Ausflug in kühne externe Manöver zur Stabilisierung der innenpolitischen Unterstützung unternehmen. Großbritannien ist unfähig, seine europäische Rolle einzunehmen. Weltpolitisch ist das Vereinte Königreich Anhängsel der jeweiligen amerikanischen Politik. China zeigt seine "Strategiefähigkeit", indem es gleichzeitig Territorialansprüche gegen sechs Nachbarn verfolgt." (Müller 2014)
Und auch die strategische Weitsicht von Wladimir Putin darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. In der Tat schneidet Deutschland verglichen mit den "Strategen" in größeren und mittleren Mächten in Punkto Kosten-Leistungs-Verhältnis, Ziel-Mittel-Zuordnung und Zielerreichung nicht so schlecht ab.
Die Forderung, mehr Führung und Verantwortung zu übernehmen ist ohne Zweifel positiv besetzt. Nun ist (außen-)politische Führungskraft eine nicht gerade im Übermaß vorhandene Ressource - weder in Deutschland noch anderswo. Auch stellt sich die Frage, ob mehr Verantwortung automatisch auch mit einer Führungsrolle verbunden ist? Daran schließt sich die Frage an, wann, wohin und mit welchen Mitteln Deutschland führen soll? Denn: Führen heißt nicht herrschen bzw. anderen seinen Willen diktieren. Die Rolle einer außenpolitischen Führungsmacht zu übernehmen heißt auch nicht, politische Probleme militärisch lösen zu wollen. Auch wenn sich viele einig darin sind, dass Deutschland eine stärkere Rolle spielen soll, bleibt die Frage, wohin Deutschland außen- und europapolitisch führen soll, unbeantwortet. Führen kann man nur, wenn es auch jemanden gibt, der einem folgt. Führung beinhaltet ein Element von Akzeptanz und Freiwilligkeit. Eine effektive deutsche Führung in der Europäischen Union kann deshalb nur funktionieren, wenn Deutschland 1) den Partnern - insbesondere auch den kleineren Staaten ? in Europa und der Welt zuhört, und zwar bevor und nicht nachdem es die eigene Position formuliert hat, 2) es durch geschickte Diplomatie und im Verbund mit den europäischen Institutionen dafür sorgt, dass Europa in den wichtigen außenpolitischen Fragen mit einer Stimme spricht. Dazu gehört auch, gegebenenfalls die eigenen Interessen zugunsten einer gemeinsamen europäischen Position hintan zu stellen und wenn Deutschland 3) nach Konsultationen mit den Partnern bereit und in der Lage dazu ist, Entscheidungen zu treffen und diese auch gegen Widerstand zu implementieren (vgl. Risse 2014).
Eine effektive Außen- und Sicherheitspolitik muss darüber hinaus nicht nur ressortübergreifend vernetzt werden, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert und eingebunden sein. Zumindest in Demokratien muss Außenpolitik zudem nicht nur die Öffentlichkeit beachten, sondern auch die Mitsprache- und Mitwirkungsrechte der Parlamente. Gegen die Interessen und Ziele der eigenen Gesellschaft ist Außenpolitik nicht durchführbar. Die deutsche Bevölkerung bevorzugt jedenfalls Zurückhaltung statt Führung, wenn es um die Verantwortung bei internationalen Krisen geht. Laut einer am 20. Mai 2014 veröffentlichten Studie der Körber-Stiftung (Körber Stiftung 2014) sprachen sich 60 Prozent der Deutschen für weniger Engagement in Krisenherden aus, während nur 37 Prozent gerne "mehr Engagement" sehen würden. Vier von fünf Deutschen möchten die Bundeswehr weniger an internationalen militärischen Einsätzen beteiligt sehen und zwei Drittel sind der Meinung, Deutschland solle seine Zurückhaltung in außenpolitischen Fragen beibehalten. Das Ergebnis einer entsprechenden Umfrage vor 20 Jahren sah noch ganz anders aus, damals wünschten sich 62 Prozent eine stärkere deutsche Rolle auf der internationalen Bühne.
Dabei ist es so überraschend nicht, dass die Deutschen skeptisch reagieren, wenn sie angehalten werden, "mehr Verantwortung" zu übernehmen, zumal wenn sie mit dieser Verantwortung in erster Linie militärische Einsätze assoziieren. Die Mehrheit will, dass sich die deutsche Außenpolitik für die Menschenrechte einsetzt sowie für Umwelt- und Klimaschutz, und sie haben nichts gegen humanitäre Hilfe. Den Einsatz deutscher Soldaten halten sie für gerechtfertigt, um die Versorgung in Krisenregionen sicherzustellen und um einen Völkermord zu verhindern - und natürlich im Falle einer direkten Bedrohung von Frieden und Sicherheit in Europa. Aber zweifellos ist ihr Lieblingsinstrument die Diplomatie. An die Front drängen sie nicht. Insofern gibt es keinen absoluten Gegensatz zwischen öffentlicher Meinung und dem außenpolitischem Handeln und Denken der Regierung.
Was es gibt, ist zweifelsohne eine zunehmende Diskrepanz zwischen den von den politischen Eliten formulierten Zielen nach mehr Führung und Verantwortung und den dafür zur Verfügung stehenden Mitteln. Die geringfügige personelle Aufstockung in Mali und die in Aussicht gestellten Transportflugzeuge für die Zentralafrikanische Republik sind jedenfalls - ebenso wie die Waffenlieferung an die Kurden im Nordirak - überschaubare deutsche Beiträge und gewiss kein Zeichen für einen neuen Militarismus oder gar eine außen- und sicherheitspolitische Führungsrolle. Die politische Ehrlichkeit gebietet es deshalb darauf hinzuweisen, dass eine größere deutsche Rolle auf globaler Ebene mit einem höheren Aufwand an Ressourcen und finanziellen Beiträgen, auch im Bereich der humanitären Hilfe, verbunden sein wird. Deutschland sollte sich deshalb hüten, Erwartungen zu schüren, die es dann nicht einlösen kann oder will. Denn am Ende kommt es nicht darauf an, was deutsche Politiker sagen, sondern was sie tun ? und ob sie hierfür eine politische Mehrheit gewinnen können.
Es reicht deshalb nicht, wenn man in Sonntagsreden mehr Verantwortung für Deutschland reklamiert. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, ein verstärktes (auch militärisches) Engagement - wenn auch als Ultima Ratio - ausgerechnet in dem Augenblick in Aussicht zu stellen, in dem der Wehrbeauftragte beklagt, dass die Bundeswehr seit Jahren am Limit ächzt und es hinten und vorne an Ausrüstung fehlt. Ein wachsender Widerspruch zwischen dem Anspruch nach mehr Führung und Verantwortung und den verfügbaren bzw. zur Verfügung gestellten Mitteln lässt sich mittlerweile nicht mehr länger leugnen. Mehr noch: Man kann durchaus von einem Ausrüstungsdesaster der deutschen Streitkräfte sprechen. So musste die versammelte Generalität Ende September vor dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages eingestehen, dass ein Großteil des Geräts von Luftwaffe, Marine und Heer nicht einsatzfähig ist - weil es zu alt ist, weil es keine Ersatzteile gibt, weil sich Bestellungen verspäten. Bei der Bundeswehr herrscht kreative Mangelverwaltung. Dafür verantwortlich ist jedoch nicht nur die Politik, sondern auch die Rüstungsindustrie und ihre großmäuligen Vertreter, die meistens ganz vorne in der Reihe stehen und aus der am lautesten der Ruf nach mehr militärischem Engagement ertönt. Sie tragen die Hauptverantwortung für die unsäglichen, mehrjährigen Lieferverzögerungen (beispielsweise bei Hubschraubern und dem A400M) und der dramatischen Materiallage der Bundeswehr.
Große Worte sind erlaubt, aber ohne Taten wirken diese lächerlich. Der frohgemute Aufruf der Verteidigungsministerin für mehr deutsches Engagement in der Welt und die Forderung nach notwendigen "Tabubrüchen" passt mit der tristen Realität schlecht zusammen. Wenn die deutsche Politik nicht bereit ist, die entsprechenden zivilen - aber auch militärischen - Mittel und Fähigkeiten bereit zu stellen, sollte sie aufhören, von der neuen deutschen Rolle in der Welt zu schwadronieren - hier wäre dann in der Tat mehr Zurückhaltung hilfreich.
Fazit
Als rohstoffarmer Handelsstaat ist Deutschland auf eine internationale Ordnung, Verträge und internationale Organisationen angewiesen, die die globalen Rahmenbedingungen berechenbar machen und die Einhaltung der Regeln garantieren. Auch wenn die "Berliner Republik" mit veränderten und gewachsenen Erwartungen ihrer Partner konfrontiert wurde, hat sich an den Grundkonstanten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik auf den ersten Blick wenig geändert. Das Hauptmerkmal ist nach wie vor ein ausgeprägter Multilateralismus und damit verbunden die Abneigung gegenüber Sonderwegen und Alleingängen. "Immer gemeinsam mit Partnern, niemals alleine", lautet nach wie vor die Devise deutscher Außenpolitik. Aus diesem Grunde ist deutsche Außenpolitik in hohem Maße immer auch Institutionen-Politik. Das Problem ist nur, dass sich nahezu alle diese Institutionen, die EU ebenso wie die NATO und die Vereinten Nationen, in einer tiefen Krise befinden - auch wenn Wladimir Putin der NATO wieder neues Leben eingehaucht hat. Mit dieser Krise des Multilateralismus drohen auch die Grundpfeiler deutscher Außenpolitik zu erodieren. Und dies zu einer Zeit, in der die USA unter Präsident Obama sich zunehmend international zurückziehen - auch wenn die Bedrohung durch den "Islamischen Staat" hier einen Kurswechsel zurück zu einer aktiveren amerikanischen Weltpolitik bringen könnte. Deutschland braucht jedoch nach wie vor Partner und leistungsfähige internationale Institutionen.
Auch wenn die öffentliche Debatte um die neue deutsche Außenpolitik zu begrüßen ist, krankt sie zugleich an schlagwortartigen und undeutlichen Begriffen und Reflexen sowie einer unzulässigen Zuspitzung auf militärische Optionen. Mehr Verantwortung oder Führungsaufgaben zu übernehmen bedeutet eben nicht zwangsläufig mehr Truppen in die Welt zu senden. Es gibt viele Wege, Einfluss zu nehmen und Not abzubauen - zumal die Erfahrungen mit militärischen Einsätzen der letzten Jahre eher ernüchternd waren und die Grenzen militärischen Engagements deutlich gemacht haben. Außenpolitik umfasst ein breites Spektrum von staatlichen Instrumenten, von der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe über die klassische Diplomatie und die Nachrichtendienste bis hin zum Katastrophenschutz und den Einsatz von Streitkräften.
Für alle NATO-Staaten - mit Ausnahme der USA - gilt zudem, dass Sicherheit nicht mehr nationalstaatlich, sondern nur noch multilateral und kooperativ umgesetzt werden kann. Die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen erfordern nicht zwangsläufig mehr militärische Mittel, sondern vielmehr politische Konzepte und kluge politische Initiativen. Die neuen Risiken sind oft benannt und beschrieben worden: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, failed states, Migration, Umweltzerstörung und Ausbreitung des organisierten Verbrechens. Mittlerweile werden die Partner des Westens so schnell zu Gegnern, die Gegner zu Feinden und die Feinde wieder zu Partnern, dass Moralpolitik wie Realpolitik weitgehend zuschanden taktiert werden. Es wäre deshalb an der Zeit, dass Isolationisten, Realisten und Idealisten, Amerikaner und Europäer, Pazifisten und Interventionisten bekennen, dass sie sich mit Entwicklungen konfrontiert sehen, die sie nicht vorausgesehen, unterschätzt oder schlicht noch nicht verstanden haben. Putins Griff nach der Ukraine und der Vormarsch des "IS" samt der drohenden Implosion des Mittleren Ostens haben uns vor Augen geführt, dass wir uns in einem epochalen Umbruch befinden, in dem alte Wahrheiten und Gewissheiten auf den Prüfstand gehören.
Die heutigen Krisen lassen sich in einer immer enger verwobenen Welt nicht mehr ignorieren. Der UN-Sicherheitsrat ist durch die wachsende Polarisierung zwischen dem Westen und Russland infolge der Ukraine-Krise erneut blockiert. Auch die USA stoßen als internationale Ordnungsmacht immer häufiger an (innen-)politische, finanzielle und militärische Grenzen. Das entstehende sicherheitspolitische Vakuum in Ländern wie Syrien oder Irak gefährdet nicht nur unsere Sicherheit, es wirft auch die Frage auf, ob wir künftig tatsächlich in einer Welt leben wollen, in der anstelle des Völkerrechts und demokratischer Werte nur noch das Recht des Stärkeren herrscht. Es geht in den heutigen Konflikten auch um die Gestaltung der normativen Grundlagen der künftigen internationalen Ordnung. Dabei bleibt die größte Herausforderung, die vor uns liegt, Europa als außenpolitischen Akteur handlungs- und gestaltungsfähig zu machen. Dazu braucht die Europäische Union eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die tatsächlich gemeinsam ist und nicht nur gemeinsame Erklärungen abgibt.
Ziel einer verantwortlichen Außenpolitik muss es sein, Krisen vorzubeugen, mit Ideen, Finanzmitteln, Personal und politischen Initiativen und ja - auch durch politische Führung im Verbund mit gleichgesinnten Partnern. Dabei müssen die konkreten Instrumente benannt werden. Wie können die Vereinten Nationen, die EU, die NATO und die OSZE in die Lage versetzt werden, Krisen effektiver vorzubeugen? Denn am Ende kommt es nicht darauf an, was deutsche Politiker sagen, sondern was sie tun - und ob sie hierfür eine politische Mehrheit gewinnen können. Zudem ist - man kann es nicht oft genug wiederholen - deutsche Führung ohne oder gar gegen die Zustimmung der europäischen Nachbarn nicht möglich. Als Maxime deutscher EU-Politik gilt deshalb nach wie vor das Zitat Willy Brandts: "Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein (...) im Innern und nach außen." (Brandt 1969)
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