Bundeswehr muss Parlamentsheer bleiben
Mehr als 22 Jahre lang herrschten in Afghanistan Krieg und Bürgerkrieg. Bis heute leidet das Land unter den typischen Folgen wie schweren Zerstörungen, Verminung ganzer Landstriche, ethnisch motivierten Spannungen und organisierter Kriminalität. Nach dem Sturz des Taliban-Regimes einigten sich die größten ethnischen Gruppen Afghanistans im November und Dezember 2001 anlässlich der "Petersberger Konferenz" auf eine "Vereinbarung über provisorische Regelungen in Afghanistan bis zum Wiederaufbau dauerhafter Regierungsinstitutionen" (Bonner Vereinbarung). Damit schufen sie die Grundlage für die International Security Assistance Force (ISAF), deren Aufstellung der UN-Sicherheitsrat am 20. Dezember 2001 beschloss.
Am 28. September 2005 entschied der 15. Deutsche Bundestag in seiner letzten Sitzung mit großer Mehrheit, das deutsche Engagement in Afghanistan um ein weiteres Jahr zu verlängern und auszuweiten. Statt 2.250 sollen in Zukunft bis zu 3.000 deutsche Soldaten in dem Land eingesetzt werden. Schwerpunkt der Arbeit der deutschen Truppen im Rahmen des ISAF-Mandates wird der Norden Afghanistans sein, wo in Masar-i- Sharif ein weiterer deutscher Stützpunkt mit zunächst 200 bis 300 Soldaten eingerichtet wird. Damit erhält Deutschland - auf Bitten der Vereinten Nationen und der afghanischen Regierung - im Rahmen des ISAF-Mandats nicht nur die Verantwortung für die gesamte Nordregion, sondern deutsche Truppen dürfen in Zukunft auch in anderen Regionen des Landes eingesetzt werden. Lediglich der Osten des Landes mit der laufenden Anti-Terror-Operation ?Enduring Freedom? ist ausgenommen. Dort und im Süden kämpfen rund 20.000 Soldaten unter Führung der USA gegen die Taliban.
Nach dem Konzept des atlantischen Bündnisses, das die Afghanistan-Schutztruppe seit dem 11. August 2003 führt, wird ISAF in vier Phasen (Nord, West, Süd, Ost) auf ganz Afghanistan ausgedehnt. Die ersten beiden Phasen sind abgeschlossen, Phase drei soll in der ersten Jahreshälfte 2006 folgen; wann Phase vier, der Osten, angegangen wird, vermag noch niemand genau zu sagen. Dort sind derzeit noch heftige Auseinandersetzungen der amerikanischen OEF-Kräfte (Operation Enduring Freedom) im Gange.
Über die Schaffung von Synergien zwischen der Anti-Terror-Operation OEF und der Stabilisierungsmission ISAF bestehen nach wie vor Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Nato. Vor allem die amerikanische Seite drängt auf eine Zusammenlegung zwischen ISAF und Enduring Freedom. Der Kampf gegen das terroristische Netzwerk Al Qaida und gegen die Taliban ist bis heute nicht abgeschlossen. Dieser Kampf ist ausschließlich Aufgabe der Operation Enduring Freedom. Mandat und Organisation der Friedenstruppe ISAF sind davon strikt getrennt. Es ist nicht zuletzt Deutschland, und hier insbesondere Peter Struck, zu verdanken, dass diese strikte Trennung - trotz amerikanischen Drängens - auch beibehalten wird.
Es bleiben eine Reihe weiterer offener Fragen und kritischer Punkte: Zum einen benötigt man im Rahmen der NATO eine weitaus größere Zahl von Partnern und Provincial Reconstruction Teams (PRT's), als derzeit zugesagt wurden. Hier müssen auch die anderen Bündnispartner einen stärkeren Beitrag leisten. Zum anderen fehlt bis heute ein überzeugendes Konzept wie man mit der Drogenproblematik umzugehen gedenkt. Es fehlt vor allem eine stärkere Einbeziehung und Zusammenarbeit der Nachbarländer, insbesondere Pakistans und Iran.
Der Einsatz in Afghanistan birgt zweifelsohne ein hohes Risiko und alle Abgeordneten haben sich die Verlängerung des ISAF-Mandats nicht leicht gemacht. Bei der Gefahrenabwägung für Leib und Leben der Soldaten, bleibt jedoch die Notwendigkeit, den Afghanen auch weiterhin zur Seite zu stehen und zur Sicherheit in dem Land beizutragen. Die neu geschaffenen zivilen Strukturen sind noch nicht belastbar. Deutschland vertritt einen breiten Ansatz, der die Koordination von militärischer und ziviler Wiederaufbauhilfe mit Polizeiausbildung, Demokratisierungshilfe, Stärkung der Menschenrechte und auswärtiger Kulturpolitik verzahnt. Die neue Verfassung und die Parlamentswahlen am 18. September sind ermutigende Zeichen. Dennoch wird Afghanistan noch für längere Zeit Hilfe und Unterstützung benötigen. Eine zweite internationale Afghanistan-Konferenz, die für Anfang 2006 in London geplant ist, muss die weiteren Schritte - selbstverständlich unter Beteiligung der afghanischen Regierung - in die Wege leiten.
Wer wie die PDS/Die Linke den Abzug aller Truppen aus Afghanistan fordert handelt - unter dem Deckmäntelchen einer vermeintlichen "Friedenspolitik" - nicht nur grob fahrlässig; er desavouiert darüber hinaus die Vereinten Nationen genauso wie die gewählte afghanische Regierung und öffnet zudem der Rückkehr des Bürgerkriegs Tür und Tor. Deutschland kann und wird das afghanische Volk deshalb nicht alleine lassen.
Die Erfahrungen in Afghanistan und auf dem Balkan zeigen aber auch, dass man es sich gut überlegen sollte, ob und bevor man sich in neue Missionen begibt. Mit ISAF hat die Bundeswehr Neuland betreten. Daraus ergeben sich auch Schlussfolgerungen für zukünftige Einsätze. Afghanistan, Kosovo und Bosnien-Herzegowina haben gezeigt, dass man einen langen Atem braucht. Internationale Kräfte sind in Bürgerkriegsgebieten über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, gebunden, der Wiederaufbau ist zeit- und kostenintensiv und es gibt keine einfache Exit-Strategie. Festzuhalten bleibt auch, dass die Bundeswehr ein Parlamentsheer ist und bleibt. Dies bedeutet, dass der Bundestag jeden Einsatz Jahr für Jahr nach einer kritischen Prüfung und einer öffentlichen Debatte verlängert und so den Bürgern Rechenschaft ablegt. Es war deshalb auch richtig, dass das Parlamentsbeteiligungsgesetz Einsätze der Bundeswehr auch weiterhin von der Zustimmung des Parlaments abhängig macht. Es besteht jedoch die Gefahr, dass im Rahmen neuer militärischer und bündnispolitischer Anforderungen weitere vermeintliche Notwendigkeiten entstehen, die die Rechte des Parlaments weiter aushöhlen. Gerade im Vorgriff auf eine mögliche große Koalition gilt es festzuhalten: Über den Einsatz der Bundeswehr entscheidet nicht der NATO-Rat, sondern der Bundestag. Und: Bevor man sich in neue internationale Missionen stürzt, sollten die laufenden zu einem guten Ende gebracht werden.