Wir brauchen eine Renaissance der OSZE
Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes waren die Erwartungen an die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) scheinbar grenzenlos. Die damals noch als KSZE bekannte Organisation galt vielen als Nukleus eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems. In der OSZE sollten die Bündnisse des Kalten Krieges aufgehen. Bekanntermaßen ist es anders gekommen. Von Michail Gorbatschows "gemeinsamem Haus Europa" steht bis heute allenfalls der (erweiterte) Westflügel. Die meisten - wenn nicht alle - mittel- und osteuropäischen Staaten sahen ihre militärische und ökonomische Sicherheit nicht in der OSZE, sondern in der NATO und der EU gewahrt. In Zeiten der Ukraine-Krise fühlen sie sich in diesem Beschluss bestätigt.
Faktisch kämpft die OSZE seit mehr als zehn Jahren gegen den eigenen Bedeutungsverlust. Für die abnehmende Relevanz der Organisation gibt es verschiedene Gründe: Die Konkurrenz durch andere Akteure, die resultierende Prioritätensetzung der Staaten zu Gunsten von NATO und EU, die Lähmung der Organisation durch die Ost-West-Spaltung sowie ein unscharfes Profil und eine geringe Sichtbarkeit nach außen. In der Summe waren die euphorischen Erwartungen an die OSZE als "Kern einer gesamteuropäischen Friedensordnung" in den 1990er Jahren sicher zu blauäugig.
Trotz aller Rhetorik haben sich deshalb seit 1992 auch die Prioritäten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik in Richtung NATO, EU und Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) verschoben. Die OSZE wurde nicht mehr als belastbare Plattform angesehen und stattdessen zu einem punktuell einsetzbaren Instrument für begrenzte außenpolitische Ziele, hauptsächlich in Regionen, in denen weder die EU noch die NATO auftreten konnte oder wollte. In der Öffentlichkeit und auch bei politisch Verantwortlichen geriet die Organisation nahezu in Vergessenheit. Dann kam die Ukraine-Krise.
Das Ende des OSZE-Dornröschenschlafs?
In Folge der Krise hat die OSZE an Bedeutung gewonnen. Ausgerechnet Wladimir Putin hat die Organisation wachgeküsst und zum wichtigsten multilateralen Akteur im eskalierenden Konflikt auf der Krim und in der Ostukraine werden lassen. Bedeutsamstes Vermittlungsinstrument wurde die im Mai 2014 ins Leben gerufene Trilaterale Kontaktgruppe, in der Vertreter der Ukraine, Russlands und der OSZE unter Vorsitz der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini zusammenkommen. Schon im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE nach langem Ringen eine zivile Beobachtungsmission mit bis zu 500 Beobachtern mandatiert. Knapp 250 sind aktuell im Einsatz. Die Mission soll Spannungen verringern und durch objektive Lageberichte zur Stabilisierung beitragen. Auf Einladung der Ukraine fanden weitere OSZE-Aktivitäten statt: eine Mission zur Bewertung der Menschenrechte im Frühjahr 2014 sowie Wahlbeobachtermissionen zu den Präsidentschaftswahlen im Mai und den Parlamentswahlen im Oktober 2014. Zudem wurden unter dem Wiener Dokument von 2011 verschiedene militärische Verifikationsmissionen durchgeführt.
All dies zeigt: Die OSZE spielt im Ukraine-Konflikt eine wichtige Rolle. Doch vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen Anfang der 1990er Jahre sollte sie nicht überwertet werden. Denn die Stärke der OSZE resultiert vor allem aus der Tatsache, dass EU und NATO im Konflikt Partei sind. Nicht zuletzt die Geiselnahme von OSZE-Beobachtern durch russische Separatisten in der Ostukraine zeigte, dass die Organisation ihre Aufgaben nur unvollständig wahrnehmen kann. Sinnbild hierfür ist auch die Beobachtermission an der ukrainisch-russischen Grenze. Sie überwacht bislang nur einen (!) Kilometer des rund 200 Kilometer langen Grenzabschnitts im Konfliktgebiet. Diese Arbeit und die persönliche Sicherheit der Beobachter werden nun durch den zunehmend brüchigen Waffenstillstand erneut bedroht.
Neuland hat die OSZE mit dem Einsatz von unbewaffneten Überwachungsdrohnen betreten. Verkompliziert wurde die Lage dadurch, dass die von Deutschland und Frankreich angebotenen Drohnen von bewaffneten Soldaten bedient werden sollen. Da die OSZE am rein zivilen Charakter ihrer Aktivitäten festhalten will, greift sie inzwischen auf kommerzielle Alternativen zurück. Derzeit ist fraglich, ob die deutschen und französischen Drohnen je zum Einsatz kommen, zumal technische Unzulänglichkeiten bestehen. Mit ihrem öffentlichen Vorpreschen hat die Bundesverteidigungsministerin der Mission dabei einen Bärendienst erwiesen. Sie hat die Vermittlungsbemühungen der Bundesregierung durch voreilige Kommunikation von nicht abgestimmten Missionsangeboten konterkariert. Hier gilt der alte Lehrsatz: Weniger Profilierungssucht und mehr Sachverstand sind der Schlüssel zum Erfolg.
Neue Impulse durch deutschen OSZE-Vorsitz 2016?
Im kommenden Jahr wird Serbien den OSZE-Vorsitz übernehmen. Hier besteht die Gefahr, dass Russland versuchen könnte, seine besonderen Beziehungen zu Belgrad ins Spiel zu bringen. Vor diesem Hintergrund ist es ein wichtiges Signal, dass sich Deutschland auf dem OSZE-Außenministertreffen in Basel am 4. und 5. Dezember um den Vorsitz für 2016 bewerben will. Eine Troika aus der neutralen Schweiz, dem russlandfreundlichen Serbien und dem NATO- und EU-Mitglied Deutschland bietet die ideale Voraussetzung, um die Interessen aller Parteien zu berücksichtigen.
Wie wichtig Deutschland dieses Amt nimmt, zeigt die Tatsache, dass Berlin seine Bereitschaft für den OSZE-Vorsitz an Bedingungen zu echten Reformschritten geknüpft hat. Damit unterstreichen wir einen konkreten Gestaltunganspruch. Dazu gehören die Stärkung bestehender Regime und die langfristige Modernisierung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) wurde 1990 zwischen NATO- und Warschauer Pakt Staaten abgeschlossen und befindet sich seit 2007 in einer schweren Krise. Die russische Suspendierung des Vertrags, veränderte Bedrohungswahrnehmungen, neue militärtechnische Entwicklungen und ungelöste Regionalkonflikte bilden den Rahmen für die dringend notwendige Modernisierungsdiskussion, die die gesamte Rüstungskontrollarchitektur in Europa umfassen muss. Die anderen "klassischen" Instrumente der konventionellen Rüstungskontrolle, wie die Inspektionen nach dem Wiener Dokument von 2011 und Überflüge gemäß dem Vertrag über den Offenen Himmel ("Open Skies") bedürfen ebenfalls der Modernisierung.
Denn eines ist klar: Die Regime des Wiener Dokuments und des Vertrags über den Offenen Himmel haben in der Ukraine-Krise zwar ihren sicherheitspolitischen Wert bewiesen, sind aber auch an ihre Grenzen gestoßen. Vertrauen und Transparenz lassen sich eben nur schwer durchsetzen, wenn an Vertrauen und Transparenz kein Interesse besteht. Dies gilt sowohl für die russische wie die ukrainische Seite. Dabei gilt auch, dass Russland durchaus nach wie vor ein starkes - durchaus auch militärisches - Interesse am Open-Skies-Regime hat. Der Vertrag über den Offenen Himmel ist derzeit die einzige rechtsverbindliche sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahme im NATO-Russland-Verhältnis. Er erlaubt im Vertragsgebiet "von Vancouver bis Wladiwostok" gegenseitige ungehinderte Beobachtungsflüge. Seit dem tragischen Flugzeugunfall im Jahr 1997 besitzt Deutschland kein eigenes Open Skies-Flugzeug mehr. Die Möglichkeiten des Vertrags können nur durch Anmietung von Flugzeugen oder in gemeinsamen Missionen mit Partnern genutzt werden. Damit Deutschland auch in Zukunft seine Rechte aus dem Open Skies-Vertrag in vollem Umfang wahrnehmen kann, ist es wünschenswert, dass sich Deutschland eine eigene Open Skies-Kapazität beschafft.
Auch die konventionelle Rüstungskontrolle wäre Schwerpunkt eines deutschen OSZE-Vorsitzes. Ein wichtiger Schritt bei der Wiederherstellung einer europäischen Sicherheitskooperation besteht darin, die konventionelle Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen zu modernisieren und krisenfester zu gestalten. Dabei geht es künftig darum, verifizierbare Transparenz über moderne militärische Fähigkeiten in den Mittelpunkt zu stellen. Nicht quantitative Begrenzungen und "was man hat" ist wichtig, sondern "was man damit tun kann". Das Junktim zwischen einem KSE-Regime und der abschließenden Lösung von Regionalkonflikten sollte aufgegeben werden.
Gespräche statt "Muskelspiele"
Der geeignete Rahmen für all diese Projekte ist die OSZE. Wie im Kalten Krieg könnte die Organisation helfen, die Konfliktparteien durch Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen zusammenzubringen. Allerdings setzt das die Bereitschaft aller Akteure voraus. Hier sind leider Zweifel angebracht - sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite. Statt Gesprächen dominieren Provokationen und taktische Winkelzüge.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen fühlt man sich zunehmend in Muster des Kalten Krieges zurückversetzt. Es ist als gäbe es weder das Wiener Dokument noch die NATO-Russland-Grundakte von 1997. Russische Langstreckenbomber fliegen zwischen Nord- und Ostsee und bis zum Schwarzen Meer Manöver, schalten die Identifikationstransponder aus und halten keinen Kontakt zur zivilen Luftüberwachung. Nachgeordnete NATO-Vertreter wiederum lassen sich provozieren und drohen mit Großmanövern im Baltikum. Hier wächst die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Konfrontation zwischen Russland und NATO-Mitgliedern. Die sich häufenden Zwischenfälle zeigen, wie dringend notwendig die Modernisierung und Anwendung des Wiener Dokumentes ist. Sie sollten nicht heruntergespielt werden, sondern zum Anlass genommen werden, die politische und militärische Kommunikation zwischen beiden Seiten zu intensivieren und transparenter zu gestalten.
Wichtig ist vor allem, dass sich die OSZE weder von der russischen noch von der ukrainischen oder "westlichen" Propaganda vereinnahmen lässt. Entsprechende Versuche gibt es in Hülle und Fülle. So behaupteten russische Medien, dass die OSZE die Wahlen in der Ostukraine anerkannt habe. Tatsächlich waren mehrere europäische Beobachter in Donezk. Sie nannten sich "Assoziation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa". Mit der OSZE hatte diese "ASZE" natürlich rein gar nichts zu tun. Es handelt sich um "Beobachter" aus Russland und Mitglieder von rechtsradikalen und rechtspopulistischen Parteien aus Europa.
Die OSZE ist nur so stark, wie ihre Mitglieder es zulassen
Eine Institution ist immer nur so stark, wie ihre Mitglieder es zulassen. Deshalb ist unklar, ob die OSZE ihre Marginalisierung nun beenden und wieder eine wichtigere Rolle ausfüllen kann. Die Ukraine-Krise hat dabei aber auch gezeigt, dass die OSZE eben keine Schönwetter- sondern eine Schlechtwetter-Organisation ist. Wie auch für die Vereinten Nationen gilt deshalb: Es reicht nicht aus, in Sonntagsreden deren Bedeutung und Unverzichtbarkeit zu beschwören. Vielmehr muss die OSZE finanziell und personell in die Lage versetzt werden, ihren Aufgaben nachkommen zu können. Fakt ist: Die OSZE benötigt weit mehr Personal und Finanzmittel. Zugleich muss die OSZE auch auf hoher politischer und nicht nur auf bürokratischer Ebene wahrgenommen werden.
Im Sommer jährt sich die Schlussakte von Helsinki zum 40. Mal. Auch nach vier Jahrzehnten bleibt die OSZE die einzige Organisation, die die nordamerikanischen Demokratien, die Staaten der EU und ihre östlichen Nachbarn bis nach Zentralasien miteinander verbindet. Die Chancen, die hierin liegen, wurden in den vergangenen Jahren längst nicht im vollen Umfang genutzt. Die 57 Mitgliedstaaten können nun ein angemessenes Geburtstagsgeschenk schnüren und sicherstellen, dass die Organisation relevant bleibt und in Zukunft noch relevanter wird. Hier kann und sollte an die Erfolge der Entspannungspolitik von Willy Brandt angeknüpft werden.
Die OSZE hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie geradezu für die Aufgabe prädestiniert ist, als erste auf Krisen zu reagieren und als Frühwarnsystem zu fungieren. Konfliktprävention und "Gute Dienste" in einem frühen Konfliktstadium sowie post-conflict peace building sind die Stärken der Organisation. Für Interventionen in ausgebrochenen Konflikten und Kriegen verfügt sie bislang nicht über die entsprechenden Ausstattungen und Mechanismen. Gleichwohl kann die OSZE bei der Überwindung der konkreten Krise in der Ukraine eine wichtige Rolle spielen und mithelfen, das verlorengegangene Vertrauen langsam wieder aufzubauen. Die OSZE ist durch hohe Flexibilität, Kosteneffizienz und immer noch relativ schlanke Strukturen gekennzeichnet. Sie füllt eine entscheidende Lücke im europäischen Sicherheitsgefüge.
Sicher, die OSZE wird den Ukraine-Konflikt nicht als Hauptakteur oder gar zentraler Friedensvermittler quasi im Alleingang lösen können. Dies müssen die Hauptakteure selbst angehen: Russland, die Ukraine, die EU-Staaten und die USA. Hierfür müssen ganz praktische Fragen geklärt werden: der künftige Status des Donbas, der vollständige Abzug russischer Truppen und eine effektive Sicherung der russisch-ukrainischen Grenze unter Beobachtung der OSZE. Wir brauchen weitere Schritte in Richtung Deeskalation und wir brauchen den direkten Dialog. Denn der Aufbau einer demokratisch verfassten, marktwirtschaftlich orientierten Ukraine ist eine Mammutaufgabe, die nur unter Einschluss der EU und Russlands gelingen kann.