Brasiliens Atomprogramm: Von "guten" und "bösen" Nuklearmächten

Nahezu unbeachtet von der Weltöffentlichkeit hat Brasiliens staatliche Industrias Nucleares do Brasil mit der Anreicherung von Uran begonnen. Die neue, hochmoderne Urananreicherunganlage Resende, auf einer ehemaligen Kaffeeplantage 150 Kilometer westlich von Rio de Janeiro gelegen, nahm Anfang Mai 2006 den Betrieb auf. Damit tritt Brasilien - neben den USA, Großbritannien, Frankreich, der Bundesrepublik, den Niederlanden, Russland, China und Japan - dem "Eliteclub" der Länder bei, die die Technologie der Urananreicherung in industriellen Dimensionen beherrschen und anwenden. Brasilien ist damit seinem Ziel, Unabhängigkeit in der Energieversorgung zu erlangen, einen großen Schritt näher gekommen, zumal es selbst über große Uranvorkommen verfügt.

In Brasilien befinden sich die weltweit sechstgrößten Uranvorkommen, welche bisher jedoch nicht im eigenen Land angereichert werden konnten. Bislang wurde das geförderte Uran nach Kanada geschickt, wo es in Gas umgewandelt wurde. Von Kanada wurde es zur Anreicherung nach Europa gebracht, um schließlich wieder reimportiert zu werden. Dort wurde es im Anschluss als Brennmaterial für die zwei bestehenden Atomkraftwerke Angra 1 und 2 genutzt. Von der Inbetriebnahme der Anlage in Resende erhofft sich das Land Kosteneinsparungen sowie eine mögliche kommerzielle Nutzung des angereicherten Urans in Form von Exporten. Die Zentrifugen in Resende können nach Regierungsangaben natürliches Uranerz in Uranium-235 mit einer Konzentration von fünf Prozent umwandeln. Brasilien hat sich im Atomwaffensperrvertrag verpflichtet, einen Anreicherungsgrad von 20 Prozent nicht zu überschreiten. Für Atomwaffen ist ein Anreicherungsgrad von 95 Prozent notwendig.

Brasiliens Sicherheitspolitik ist durch drei historisch gewachsene Antriebskräfte charakterisiert worden: Erstens bemüht sich das riesige Land, Einfluss auf sein dünn besiedeltes Landesinnere auszuüben; zweitens strebt es an, in Südamerika eine wirtschaftliche und militärische Führungsrolle zu übernehmen; und drittens setzt es sich zum Ziel, durch seine gestiegenen internationalen Verflechtungen ein wichtiger Global Player zu werden. Die Außenpolitik des größten südamerikanischen Staates, der erst 1985 redemokratisiert wurde, legt seit der Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso (1994-2002) wie auch unter dem gegenwärtigen Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (seit 2003) verstärktes Gewicht auf die Vertretung brasilianischer Interessen in der internationalen Politik. Ein Teil dieser Bemühungen, zum Global Player zu werden, sind die Bestrebungen, die Kernenergie und Urananreicherung für zivile und wirtschaftliche Zwecke zu nutzen.

Der Beschluss Brasiliens, Uran anzureichern, ist brisant - vor allem, weil Brasilien damit den gleichen Schritt unternimmt, vor dem der Westen den Iran seit Jahren warnt. Die Rüstungskontrolllobby in den USA und Europa befürchtet deshalb, Brasilien könnte einen Präzedenzfall schaffen. Zwar betont die brasilianische Regierung, dass das in Resende angereicherte Uran ausschließlich friedlichen Zwecken dienen werde, doch dem US-Wissenschaftsmagazin "Science" zufolge könne in Resende waffenfähiges Uran für jährlich fünf bis sechs Atombomben produziert werden.  Diese Aussage wurde von Brasiliens staatlicher Nuklearfirma umgehend und scharf zurückgewiesen: Dazu fehlten zum einen die technischen Voraussetzungen, zum anderen verbiete die brasilianische Verfassung die Herstellung von Atomwaffen.

Jahrzehntealtes Nuklearprogramm

Dennoch weckt das Atomprogramm Erinnerungen an die obskuren Pläne der brasilianischen Militärregierung (1964-1985), die im Amazonasgebiet Nukleartests durchführen wollte. Damals wurden die beiden Angra-Kernkraftwerke gebaut sowie Pläne für ein Atom-U-Boot entwickelt. Nach Angaben des früheren Präsidenten der "Nationalen Kommission für Nuklear-Energie", José Luiz Santana, stand das brasilianische Militär vor 15 Jahren kurz vor dem Bau der Atombombe. Es habe sich um ein geheimes Projekt gehandelt, das von den Streitkräften zuletzt sogar gegen den Willen und ohne Wissen der Regierung fortgesetzt worden sei. Demnach hätten die Streitkräfte Anfang 1990 bereits mehrere Teile der Atombombe gebaut und auch über importiertes angereichertes Uran verfügt, obwohl der erste demokratische Staatspräsident nach Ende der Militärdiktatur, José Sarney, die Einstellung der Atombombenpläne angeordnet habe.

Unter dem linken Präsidenten Lula gibt es jedoch wieder Bestrebungen, Uran anzureichern. Schließlich würde eine Mitgliedschaft im Club der Atommächte das Prestige Brasiliens erheblich steigern und möglicherweise das Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat befördern. Die Regierung sieht offenbar die Atomkraft international wieder im Aufschwung und will davon profitieren. Neben den bereits vorhandenen zwei Atommeilern sollen ein von Siemens-KWU begonnenes Atomkraftwerk fertig gebaut und vier weitere Meiler errichtet werden - zwei davon bis 2010, mit einer Leistung von 1300 Megawatt.

Seit den 90er Jahren unterstützt Brasilien die Nichtverbreitung sensitiver Technologien. Es unterschrieb 1994 das Tlatelolco-Abkommen über eine atomwaffenfreie Zone in Lateinamerika und setzte das Kontrollabkommen mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Kraft. 1997 trat es dem Atomwaffensperrvertrag (NPT) und dem Atomteststoppvertrag bei. Im Rahmen des NPT ist es erlaubt, den Brennstoff zur Energiegewinnung in Form von Urananreicherung oder durch das Recyceln benutzer Brennstäbe selber herzustellen. Diese Methode verhindert jedoch nicht einen möglichen Missbrauch für militärische Zwecke, denn der NPT gewährt lediglich Zugang zu den Anlagen, die die Mitgliedstaaten nach Ankündigung freigeben. Die Unterzeichnerstaaten des NPT sind zwar verpflichtet, sich in regelmäßigen Abständen den IAEA-Kontrollen zu unterwerfen. Da diese aber angemeldet werden und sich zudem nur auf solche Anlagen richten, die die Vertragsstaaten freiwillig zur Kontrolle anbieten, ist die Aufdeckung eines Vertragsverstoßes unwahrscheinlich.

Um ein wirksameres Mittel der Überprüfung zu erhalten, wurde der NPT 1997 durch ein Zusatzprotokoll ergänzt, das den Inspektoren die Möglichkeit einräumt, kurzfristig angesetzte Kontrollen in beliebigen Anlagen durchzuführen. Es erweitert die Informationspflicht auf Forschung und Industrie. Auch zur Beseitigung radioaktiver Abfälle, über den Handel mit Gütern im Nuklearbereich sowie Planungen für künftige Atomprogramme müssen die Unterzeichner des Protokolls Auskunft erteilen. Brasilien weigert sich jedoch nach wie vor, das Zusatzprotokoll zu ratifizieren, das unangekündigte Besuche von Inspektoren der IAEO erlaubt; mehrfach hat man den Inspektoren bereits den Blick auf die zentralen Anlagenteile von Resende untersagt. Teheran dagegen hat sogar ein Zusatzprotokoll unterschrieben, das unangekündigte und sehr detaillierte Inspektionen ermöglicht. Derzeit ist dieses Überprüfungsverfahren jedoch ausgesetzt, da das iranische Parlament sich nach wie vor weigert, das Zusatzprotokoll zu ratifizieren. Dass auch Brasilien die Unterzeichnung verweigert, muss daher Verdacht erregen.

Die Regierung betont, mit der Anlage nur Brennstoff zur Energiegewinnung herstellen zu wollen. Das Land gehört schon jetzt zu den größten Lieferanten von Atomstrom in Lateinamerika. Auch über einen Export von angereichertem Uran wird in Brasilia bereits nachgedacht, was nach Einschätzung der meisten Experten jedoch frühestens in acht Jahren möglich wäre.

Brasilien, Indien und die "Rice-Doktrin"

Auch das indisch-amerikanische Nuklearabkommen vom 2. März 2006 wird Auswirkungen auf die Weltnuklearordnung haben. Und es hat - noch stärker als der brasilianische Fall - den Vorwurf der Doppelmoral laut werden lassen. Diesem Abkommen zufolge wird Indien 14 seiner gegenwärtig 22 Nuklearreaktoren bis 2014 unter IAEA-Kontrolle stellen - Reaktoren, die ganz oder teilweise militärischen Zwecken dienen, sind jedoch davon ausgeschlossen. Darüber hinaus ist Neu-Delhi weder bereit, die Produktion waffenfähigen Spaltmaterials zu beenden, noch auf den Ausbau seines Atomwaffenarsenals zu verzichten. Man ist auch nicht gewillt, dem Atomwaffensperrvertrag und dem nuklearen Teststoppvertrag beizutreten. Neu-Delhi bekommt die Anerkennung als Atommacht also für ausgesprochen geringe Gegenleistungen. Das Abkommen, das Indien nach jahrzehntelanger Isolation Zugang zu westlicher Technik und Brennstoffen für seine Atomkraftwerke erlaubt, ist international deshalb heftig umstritten. Mit dem Nukleardeal heben die USA als erstes Land die weltweiten Sanktionen auf und erkennen Indien faktisch als legitime Atommacht an. So könnte das indische Beispiel auch für andere Länder - wie beispielsweise Brasilien - einen Anreiz bieten, den NPT zu kündigen und sich als Nuklearmacht zu etablieren. Sollte dieses Abkommen in der bisher vorliegenden Form umgesetzt werden, würden zweifelsohne doppelte Standards geschaffen, und die islamische Welt könnte ihren Vorwurf der Doppelmoral bekräftigen.

Scott McClellan, der ehemalige Sprecher des Weißen Hauses, betonte jüngst den Unterschied zwischen dem iranischen Atomprogramm und den nuklearen Ambitionen Brasiliens: "Ich glaube, es gibt hier einen Unterschied [...], auf den ich hinweisen möchte - wenn wir über Brasilien versus Iran sprechen - liegt [der Unterschied] im Vertrauen. Der Iran hat gezeigt, dass man ihm keine Nukleartechnologie anvertrauen darf, weil er die eigenen Aktivitäten für etwa zwei Jahrzehnte verheimlicht hat; man hat sich nicht an die internationalen Verpflichtungen gehalten." Abgesehen davon, dass auch das brasilianische Militär lange ein heimliches Atombombenprogramm verfolgt hat, verdeutlicht McClellan hier die aktuelle US-Position: Brasilien gilt als friedlich, hat eine gefestigte Demokratie und keine Grenzstreitigkeiten - deshalb soll es anders behandelt werden als der Iran.

Auch im Zusammenhang mit dem amerikanisch-indischen Nuklearabkommen sorgte das Modell des "demokratischen Friedens" für den argumentativen Überbau. So verteidigte Außenministerin Condoleezza Rice die Vereinbarung vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Senats als Beispiel für die - so wörtlich - "Seelenverwandtschaft unter Demokratien". Demnach entscheiden nicht die "Waffen einer Regierung" über den Segen Washingtons, sondern "der Charakter der Regierung, die diese Waffen anstrebt". Diese "Rice-Doktrin" erlaubt den USA somit die Duldung indischer, israelischer und womöglich eines Tages auch brasilianischer Kernwaffen, während dem Iran ein nukleares Arsenal versagt bleiben soll.

Drohende Schwächung der IAEA

Obwohl die verdeckten iranischen Aktivitäten mit dem brasilianischen Versteckspiel um die Zentrifugen von Resende nur bedingt vergleichbar sind - auch für Brasilien gilt, dass Kontrolle besser ist als Vertrauen. Wie kann die IAEA das Ziel erreichen, den Aufstieg weiterer Atommächte zu verhindern, wenn Brasilien widersprüchliche Signale aussendet? Obgleich es gegenwärtig keine Beweise für Zweifel an der Abrüstungsverpflichtung gibt, beharrt Brasilia auf einer Sonderbehandlung aufgrund der Tatsache, dass es sein Atomprogramm freiwillig beendet hat. Auch halten - nach Angaben der IAEA - die Brasilianer das Safeguard-Abkommen zwar ein, sind jedoch weiterhin nicht zur Unterzeichnung des Zusatzprotokolls bereit und aufgrund "technischer Probleme" noch zurückhaltender als zuvor. Es hat jedoch, so die IAEA, kürzlich Gespräche und Verhandlungen über einen technischen Annex zum Safeguard-Abkommen gegeben, welche erfolgreich abgeschlossen worden seien. Dieser Annex beinhalte die Einigung über den Zugang der IAEA-Kontrolleure. Allerdings ist der genaue Vertragstext dieses ergänzenden Abkommens lediglich den Vertragspartnern bekannt.

Zumindest eines macht die vertragsrechtliche Sonderbehandlung Brasiliens erneut deutlich: das Auseinanderdriften einheitlicher Bemühungen um weltweite Abrüstung. Auch der jüngste Alleingang Washingtons mit Neu-Delhi stärkt sicherlich nicht die Verhandlungsbasis der IAEA - im Gegenteil. Düpiert dürften sich vor allem jene Mächte fühlen, die als Mitglieder des Atomwaffensperrvertrags mehr oder weniger brav auf die Entwicklung von Kernwaffen verzichtet haben und jetzt den Eindruck gewinnen könnten, dass "draußen bleiben, Waffen bauen und trotzdem mit nuklearer Kooperation belohnt werden" durchaus eine Option gewesen wäre.

In jedem Fall schwächt die Weigerung Brasiliens die Position der IAEA gegenüber Staaten wie Iran und Nordkorea, die ziemlich eindeutig nach Atomwaffen streben und aus diesem Grund wirksame Kontrollen ihrer kerntechnischen Anlagen ablehnen. Der Vorwurf unterschiedlicher Standards für Brasilien, Indien und Iran ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen.

Wie kann man den Missbrauch angereicherten Urans ausschließen? Möglicherweise bietet die Internationalisierung der Anlagen eine Lösung. Wie müsste dann der NPT weiterentwickelt werden? Noch gibt es mehr Fragen als Antworten. Die Nichtverbreitungspolitik braucht dringend neue Impulse und neue internationale Abrüstungsschritte. Dafür ist es notwendig, der IAEA die notwendigen Mittel in die Hand zu geben, um die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrags wirksamer zu kontrollieren. Darüber hinaus müssen sich die internationale Gemeinschaft und die IAEA entscheiden, ob sie künftig weiterhin Safeguard-Abkommen à la carte abschließen und sich dadurch zurecht den Vorwurf der Doppelstandards und der Doppelmoral gefallen lassen müssen oder ob nicht ein rechtlich verbindliches, einheitliches internationales Kontrollregime, welches für alle Staaten gilt, das Ziel sein muss.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Vom Umgang mit dem brasilianischen Atomprogramm
Veröffentlicht: 
in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2006, S. 905-908.