Die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands unter einer Großen Koalition
Mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages am 18. und der Vereidigung von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 22. November 2005 ist gut zwei Monate nach der Bundestagswahl Deutschlands zweite Große Koalition (nach der von 1966 bis 1969) in Amt und Würden.
Ursachen für die Neuwahlen
Der Anfang vom Ende des rot-grünen Projektes kündigte sich mit der Landtagswahl von Schleswig Holstein an und kumulierte in der Landtagswahl von Nordrhein-Westfalen vom 22. Mai 2005. Mit dem politischen Erdbeben in Nordrhein-Westfalen fand nicht nur die letzte rot-grüne Koalition auf Landesebene ihr Ende - auch in der Länderkammer, dem Bundesrat, verlor die Bundesregierung die letzten Stimmen.
Die Ankündigung Neuwahlen herbeizuführen kam gleichwohl überraschend. Es wurde dabei viel über die Motive und die Gründe spekuliert, die Bundeskanzler Schröder und den SPD-Parteivorsitzenden Franz Müntefering zu diesem Schritt veranlasst haben könnten. Unabhängig davon, ob dadurch nun die linken Kritiker in den eigenen Reihen ruhig gestellt oder ob durch einen Überraschungscoup die Union überrumpelt werden sollte, spricht doch einiges dafür, dass sich die beiden für das Motto, "Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende" entschieden hatten. Aus Sicht des Kanzlers drohte seiner Regierung ein einjähriges Siechtum bis zu den regulären Wahlen im Oktober 2006, bei dem die SPD - in die Zange genommen von CDU/CSU/FDP und PDS/Die Linke von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine - auf die 20-Prozent-Marke zu fallen drohte. Fest steht: Mit ihrer überraschenden Ankündigung am Wahlabend des 22. Mai Neuwahlen noch in diesem Jahr herbeiführen zu wollen, haben Schröder und Müntefering Angela Merkel de facto zur Kanzlerkandidatin und schließlich zur ersten Kanzlerin einer großen Koalition gemacht.
Der Neuwahlcoup stürzte die Partei und die Basis zunächst in tiefe Depression und Konfusion. Es war den meisten Genossen nur schwer zu vermitteln, weshalb man bei aktuellen Umfragewerten von 26 Prozent nun ausgerechnet Neuwahlen ausrufen sollte. Die Presse sprach hämisch von "Selbstmord aus Angst vor dem Tod". Zudem galt es in Berlin bis zum 22. Mai als sicher, dass auch eine Niederlage bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nichts daran ändern würde, dass Rot-Grün bis zum Ende der Legislatur weiter regieren würde. Dahinter stand die Hoffnung auf einen sich ankündigenden Aufschwung 2006, das Greifen der Arbeitsmarktreformen, die Hoffnung auf wirtschaftliche und psychologische Impulse durch eine erfolgreiche WM im eigenen Lande, sowie die nicht unbegründete Hoffnung, dass der Machtkampf innerhalb der Union um die Kanzlerkandidatur jederzeit neu aufbrechen könnte. Auch der grüne Vizekanzler, Außenminister Joschka Fischer, sprach sich ausdrücklich gegen vorgezogene Neuwahlen aus.
Der Bundestagswahlkampf 2005
Der Wahlkampf war zwar relativ kurz, wurde aber mit voller Härte geführt. Vor allem der SPD gelang es ihre Basis zu motivieren und mit Hilfe der im Willy-Brandt-Haus in Berlin angesiedelten Wahlkampfzentrale (Kampa) einen engagierten Wahlkampf zu führen. Die CDU dagegen legte einen desaströsen Wahlkampf voller Fettnäpfchen hin und lieferte somit der SPD - wenn auch unfreiwillig - eine Vorlage nach der anderen. Offenbar kämpft es sich mit dem "Rücken zur Wand" doch engagierter als in der Gewissheit auf einen sicheren Wahlsieg.
Bei der Bundestagswahl 2005 haben sowohl Schwarz-Gelb als auch Rot-Grün jeweils ihr Ziel, eine eigenständige Mehrheit zu erreichen, verfehlt. Während die SPD mit 34,3 Prozent (minus 4,3) und CDU/CSU mit 35,2 Prozent (minus 3,3) verloren, sind die Linkspartei, die mit 8,7 Prozent wieder als Fraktion in den Bundestag einzieht und die FDP mit 9,8 Prozent (plus 2,4) die Gewinner der Wahl. Die Grünen lagen mit 8,1 Prozent der Stimmen nur knapp unter ihrem Ergebnis von 2002 (minus 0,4).
Obwohl die Union knapp als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorging, musste sie das Wahlergebnis - angesichts eines sicher geglaubten und prognostizierten Sieges - als Niederlage empfinden. Die Sozialdemokratie ist dagegen - nach allgemeiner Einschätzung - noch mal mit einem blauen Auge davongekommen. Man muss sich zur Verdeutlichung nur noch mal die Ausgangslage nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 vor Augen führen. Die SPD verlor als Folge einer Serie von Niederlagen auch ihr Schlüsselland Nordrhein Westfalen. Die CDU lag in den Umfragen bei vermeintlich uneinholbaren 48 Prozent, während die SPD bei 25 Prozent vor sich hin dümpelte. Mit dem Rücken zur Wand kämpfend hat die SPD einen fulminanten Wahlkampf hingelegt. Dies galt nicht nur für Schröder und Müntefering, sondern bis hinein in die Ortsvereine. Die CDU verspielte demgegenüber in nur wenigen Wochen einen für uneinholbar gehaltenen Vorsprung und betätigte sich einmal mehr als bester Wahlhelfer für die angeschlagenen Sozialdemokraten: Merkels "Durchregieren", Stoibers frustrierte "Ossi"-Schelte, das "Finanzminister-Kirchhof"-Debakel und andere Pannen wurden von der SPD-Wahlkampfzentrale dankbar aufgenommen.
Ein weiterer Verlierer des Bundestagswahlkampfs 2005 waren die Medien, und insbesondere die großen Meinungsforschungsinstitute, die noch bis zur ersten Hochrechnung einen sicheren Sieg einer CDU/CSU - FDP-Koalition prognostizierten. Allgemein gilt, dass sich auch die Medien fragen lassen müssen, ob sie im zurückliegenden Bundestagswahlkampf nicht eine besonders unrühmliche Rolle gespielt haben. Eine Demokratie braucht zweifelsohne kritische und unabhängige Medien - es geht hier deshalb nicht um wohlfeile Medienschelte. Aber einige Journalisten müssen sich schon die Frage gefallen lassen, ob sie wirklich unabhängig über die Stimmungslage im Lande berichtet, oder nicht doch vielmehr eine Partei - vorzugsweise die CDU - systematisch "hoch geschrieben" haben.
Jamaika-, Ampel oder Große Koalition?
Gerhard Schröder hat mit einem engagierten Wahlkampf, der stark auf seine Person zugeschnitten war, die SPD unerwartet nahe an das Ergebnis der Union herangeführt. Und er hat durch die Chuzpe, mit der er nach der Wahl das Kanzlersamt für sich beanspruchte, mitgeholfen, das Klima dafür zu schaffen, dass die SPD in den Sondierungen mit der Union einen hohen Preis für den Verzicht auf die Kanzlerschaft fordern konnte. Er sorgte damit aber auch dafür, dass die Union sich - trotz des als Katastrophe empfundenen Wahlergebnisses - mehr oder weniger zähneknirschend hinter ihre Kanzlerkandidatin scharte, um die als unverschämt empfundenen Ansprüche Schröders abzublocken. Vorübergehend bot die Berliner Politik deshalb ein Bild der totalen Konfusion, als nach der Wahl sowohl Gerhard Schröder als auch Angela Merkel die Kanzlerschaft für sich beanspruchten. Unklar blieb zunächst auch die Koalitionsfrage. Eine von CDU und FDP ins Gespräch gebrachte grüne Ampel oder so genannte Jamaika-Koalition scheiterte am Widerstand der Grünen Parteiführung, welche - vermutlich zu Recht - glaubte, ihrer Basis ein solches Bündnis nicht zumuten zu können. Eine schwarz-rot-gelbe Ampel schloss wiederum die FDP kategorisch aus, da sich der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle damit endlich vom Ruf des prinzipienlosen Mehrheitsbeschaffers befreien wollte. Die Freien Demokraten wurden somit zum tragischen Wahlgewinner: das beste Ergebnis seit Jahrzehnten im Rücken, mussten sie wiederum auf den harten Oppositionsbänken Platz nehmen.
Nach wochenlangen Sondierungen wurde ziemlich schnell klar, dass die einzige Alternative zu einer Großen Koalition Neuwahlen waren. Diese wollte und konnte man jedoch weder dem Wähler noch der eigenen Basis zumuten. Auch ein Bündnis zwischen Rot-Grün und der Linken blieb lediglich eine rechnerische Möglichkeit, da sowohl die SPD-Führung wie auch die der Grünen ein solches während des Wahlkampfes kategorisch ausgeschlossen hatten. Insofern war die Große Koalition die einzige Möglichkeit und nachdem die SPD eingesehen hatte, dass auch sie nichts an der demokratischen Regel, wonach die stärkste Fraktion den Kanzler bzw. die Kanzlerin stellt, zu ändern vermag, einigte man sich - nach eine der längsten Regierungsbildungen in der Geschichte der Bundesrepublik - auf eine Große Koalition aus CDU, CSU und SPD unter einer Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Die Sozialdemokraten konnten dabei viele ihrer Vorstellungen durchsetzen. Auch wenn die spöttische Bemerkung, bei der Großen Koalition handele es sich um eine sozialdemokratische Regierung mit CDU-Kanzlerin bzw. um einen roten Marienkäfer mit schwarzen Punkten sicher überzogen ist, bleibt die Tatsache, dass der Koalitionsvertrag zu weiten Teilen die Handschrift der SPD trägt. Insofern hat sich Bundeskanzler Schröder mit seinem ungewohnt nassforschen Auftritt am Wahlabend seinen Verzicht auf die Kanzlerschaft teuer erkaufen lassen.
Für einen kurzen Zeitpunkt schien die Große Koalition nochmals in Frage gestellt, als Franz Müntefering als Folge einer Abstimmungsniederlage im Parteivorstand den Parteivorsitz niederlegte und daraufhin auch Edmund Stoiber seinen Rückzug nach München ankündigte. Doch die Führungskrise der SPD konnte überraschend schnell beigelegt werden, so dass die Große Koalition doch noch auf den Weg gebracht werden konnte. Die Union als stärkste Kraft stellt die Kanzlerin, die nahezu gleich starke SPD erhält als Ausgleich ein leichtes numerisches Übergewicht an Ministerien; die zentralen Posten sind gleich verteilt. Es ist ein Kompromiss auf Augenhöhe, ein fairer und tragfähiger Ausgleich zwischen den beiden Parteien. Angela Merkel hat ihr Ziel der Kanzlerschaft erreicht, der Preis dafür - die acht Ministerposten an die SPD - ist hoch, aber angesichts des Wahlergebnisses angemessen. Natürlich wird sie jedoch in der künftigen Regierung keine ähnliche Dominanz ausüben können wie Bundeskanzler Schröder in der rot-grünen Koalition. Dies liegt jedoch nicht an ihrer Person oder ihrem Geschlecht, sondern an den Machtkonstellationen einer großen Koalition. Ihre Rolle im Kabinett wird jedoch sicherlich nicht nur die einer Mediatorin sein, die zwischen den Lagern vermittelt, die den Koalitionsausschuss leitet und Positionen integriert, sondern sie wird durchaus in der Lage sein, auch eigene Akzente zu setzen und von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen. Entscheidend für den Erfolg der Großen Koalition wird sein, ob es der Kanzlerin gelingen wird, die wichtigsten Politiker im Kabinett und in den beiden Fraktionsführungen zu einem Team zusammenzuführen. Zu den zentralen Personen zählen neben Bundeskanzlerin Merkel Wirtschaftsminister Michael Glos, Innenminister Wolfgang Schäuble, Vizekanzler und Arbeitsminister Franz Müntefering, Finanzminister Peer Steinbrück und Außenminister Frank-Walter Steinmeier.
Innen- und wirtschaftspolitische Perspektiven der Großen Koalition: Stillstand oder Chance?
Was bedeutet nun die Große Koalition für das Land? Zum einen wird es dem Bündnis der großen Volksparteien sicherlich gelingen einige liegen gebliebene Reformen in Angriff zu nehmen. Die Föderalismus-Reform, auf die sich eine von SPD-Chef Franz Müntefering und CSU-Chef Edmund Stoiber geleitete Bund-Länder-Kommission bereits weitgehend verständigt hatte, ist eine der wichtigsten Maßnahmen überhaupt. Damit kann es gelingen, die verkrusteten politischen Strukturen aufzulösen und unter den Ländern einen Wettbewerb auszulösen. Das heißt: Die Macht des Bundesrats wird beschnitten, die Zahl der Gesetze, die der Zustimmung der Länder bedürfen, nahezu halbiert. Gleichzeitig werden aber auch die Rechte der Landtage gestärkt. Dies bedeutet auch, dass jede künftige Regierung in Zukunft ein Stück weit unabhängiger von den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat eigene Projekte und Gesetzesvorhaben wird durchbringen können. Man kann deshalb vorsichtig optimistisch sein, dass eine Große Koalition eine Chance für die deutsche Politik ist. Dafür sprechen drei Gesichtspunkte: CDU/CSU und SPD besitzen genügend inhaltliche Schnittflächen, genügend Macht in Bund und Ländern, und genügend Erwartungsdruck aus der Bevölkerung.
Zudem kann in vielen Politikfeldern, bei all den Differenzen in den konkreten Details, durchaus davon gesprochen werden, dass sich Union und SPD in der Einschätzung der Probleme des Landes und der generellen Richtung von Reformen einig sind. Die beiden Partner haben somit eine gute Basis, sich auf Kompromisse zu einigen, die mehr als nur den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellen. Neben der bereits erwähnten Föderalismusreform trifft dies auch auf die Steuerpolitik, die Arbeitsmarktpolitik oder die Rentenreform zu. Schwieriger wird es etwa in der Gesundheitspolitik, wo die beiden Partner weiter voneinander entfernt sind. Hier wird es wohl eher - anstatt grundlegender Reformen - zu Korrekturen innerhalb des bisherigen Systems kommen. Generell aber kann die Große Koalition einiges bewegen. Zumal Union und SPD über ein hohes Machtpotenzial auf beiden Ebenen des politischen Systems verfügen. Sie werden in der Lage sein, verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zu organisieren. Deshalb werden wir sicherlich weniger von den Blockademöglichkeiten des Bundesrates hören, als dies in den letzten Jahren der Fall war. Aus der informellen großen Koalition, die auch in den letzten Jahren von Rot-Grün schon für Reformen notwendig war, wird eine formelle Große Koalition. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die kleineren Parteien für die Entscheidungsfindung kaum noch benötigt werden. Es ist bereits schon jetzt auffällig, dass FDP und Grüne in der veröffentlichten Meinung praktisch kaum mehr vorkommen. Speziell die Linkspartei aus PDS und WASG wird - sofern sie nicht wieder auseinander bricht - gute Chancen haben, sich weiter als Protestpartei zu etablieren, vor allem in Ostdeutschland. Als Oppositionspartei, die nicht beweisen muss, dass ihre Gegenrezepte etwas taugen, wird die Linke insbesondere der SPD schaden können.
Der dritte Grund, warum die Große Koalition eher eine Chance darstellt, ist der hohe Erwartungsdruck, der auf ihr lastet. Die Bürger fordern eine Politik, die es schafft, die Probleme, vor allem die Arbeitslosigkeit und die Sicherung der Sozialsysteme, anzugehen. Union und SPD wissen, dass ein Scheitern, ihrem ohnehin schon beschädigten Ansehen weiteren Schaden zufügen würde, der nicht nur ihre bisherige Dominanz, sondern die Parteiendemokratie insgesamt ernsthaft gefährden würde. Die Große Koalition ist somit zum Erfolg verdammt.
Die Außenpolitik der Großen Koalition
Der Auftritt von Gerhard Schröder beim EU-Gipfel in Hampton Court im November 2005 war nicht nur sein persönlicher Abschied von der europäischen und internationalen Bühne, sondern es war gleichzeitig das Ende von sieben Jahren rot-grüner Außenpolitik, die auf eine Art und Weise neu und aufregend war, wie es sich die Koalitionäre 1998 wohl kaum hätten vorstellen können. Die Möglichkeiten zum außenpolitischen Traditionsbruch, der durch den Wegfall der Blockkonfrontation erst denkbar wurde, hat Rot-Grün in der zweiten Amtszeit weidlich genutzt. Die Bilanz des Versuchs einer Neuschöpfung der deutschen Außenpolitik fällt im Großen und Ganzen positiv aus: Es war mutig und notwendig, im Kosovo und in Afghanistan im Einklang mit dem internationalen Recht mit der "Ohne-mich-Tradition" Nachkriegsdeutschlands zu brechen und mehr Verantwortung zu übernehmen. Es war auch richtig, sich nicht am Irakkrieg zu beteiligen und die USA vor dessen Folgen zu warnen. Die Außen- und Sicherheitspolitik von Rot-Grün fand in turbulenten Zeiten statt. Schröder gelang es sich in Abgrenzung zur Weltmacht USA in der Öffentlichkeit als "Friedenskanzler" zu profilieren. Und dies obwohl er Soldaten auf den Balkan und bei "Enduring Freedom" nach Afghanistan und bis zum Horn von Afrika schickte - etwas, was vor der Wende und der Vereinigung undenkbar gewesen wäre. Beide Entscheidungen machten ihn frei, zum Irak-Krieg nein zu sagen.
Insgesamt ist in der Außen- und Sicherheitspolitik der Großen Koalition nicht mit revolutionären Änderungen zu rechnen. Auch unter der neuen Bundesregierung wird die Bundeswehr angesichts der katastrophalen Finanzlage des Bundes nicht mit mehr Geld rechnen können.
Im Verteidigungsbereich konnte die Union keines ihrer zentralen Anliegen durchsetzen. So wird es nicht zur Aufstellung von Heimatschutzbataillonen kommen, wie dies die CDU und CSU wollten. Die Pläne waren in den Koalitionsvereinbarungen schnell wieder vom Tisch, weil die Kosten zu hoch waren.
Auch aus dem von der Union geforderten Einsatz der Bundeswehr im Innern etwa beim Objektschutz wurde nur eine Öffnungsklausel im Koalitionspapier. Initiativen sollen erst ergriffen werden, wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz die Regierung zu einer Änderung des Grundgesetzes zwingen würde. Gegen das Gesetz, das den Abschuss entführter Jets durch Bundeswehr-Maschinen erlaubt, gibt es verfassungsrechtliche Bedenken. Die SPD will zwar in diesem Fall einer Änderung des Grundgesetzes zustimmen, um den Einsatz der Luftwaffe zu ermöglichen. Zu weitergehenden Änderungen ist sie aber nicht bereit.
In den meisten Feldern der Außenpolitik greift die Große Koalition auf Bewährtes zurück und setzt die bisherige Linie fort, sei es in der Europapolitik, wo der scheintote Verfassungsvertrag wieder belebt werden soll, oder in der UN-Politik, wo ein ständiger deutscher Sitz im Sicherheitsrat ebenso Erwähnung findet wie der zumindest in der Theorie bevorzugte europäische Sitz - so war es schon bei Rot-Grün.
Das gilt grundsätzlich auch für die Sicherheitspolitik, wo aber einige neue Akzente gesetzt werden: Zwar hält die Große Koalition an den Auslandseinsätzen der Bundeswehr fest, will diese aber "stets von politischen Konzepten flankiert" wissen. Die Landesverteidigung wird als "verfassungsgemäßer Kernauftrag" der Bundeswehr besonders hervorgehoben - hier ist deutlich die Handschrift der CDU zu erkennen. Die Wehrpflicht bleibt, und was sonst noch bleibt, soll in einem schon seit Jahren angekündigten "Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands" stehen, das die Bundesregierung nun bis Ende 2006 erarbeiten will.
Was wird sich in der Außenwahrnehmung Deutschlands unter einer Kanzlerin Merkel, und wie werden sich die außen- und sicherheitspolitischen Koordinaten unter schwarz-roter Flagge ändern? Das ist in der Tat eine der spannendsten Fragen, die sich mit der großen Koalition verbinden. In den letzten Jahren schienen ja die Gegensätze zwischen Union und SPD in der Europa- und Außenpolitik größer zu sein als in der Innenpolitik. Mit einer CDU-Kanzlerin Merkel, die natürlich in der Europa- und Außenpolitik eine Rolle spielen wird, und dem SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier könnte diese Bruchstelle in die Koalition hineingetragen werden. Hier besteht die Gefahr, dass die deutsche Regierung in Zukunft vermehrt mit verschiedenen Stimmen sprechen wird und damit insgesamt in eine schwächere Position verfällt, als dies mit Schröder und Fischer gegeben war.
Dennoch ist zu erwarten, dass in der Außen- und Sicherheitspolitik Kontinuität herrschen wird. Klar ist: Das Verteidigungsministerium geht vom Sozialdemokraten Peter Struck auf den Unionspolitiker Franz-Josef Jung über und das Außenministerium wird künftig vom bisherigen Chef des Kanzleramts Frank-Walter Steinmeier übernommen. Zunächst fällt dabei auch die Kontinuität der handelnden Politiker auf. Außenminister Frank-Walter Steinmeier bringt aus dem Kanzleramt den langjährigen Europaberater von Bundeskanzler Schröder, Reinhard Silberberg, mit ins Auswärtige Amt. Er wird dort den Posten des beamteten Staatssekretärs übernehmen. Staatsminister, wie die parlamentarischen Staatssekretäre im Auswärtigen Amt heißen, werden die beiden Außenpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler und Günter Gloser. Nicht zuletzt die Berufung von Gernot Erler unterstreicht auch die Kontinuität der deutsch-russischen Beziehungen und garantiert kritische Nachfragen in Bezug auf die Menschenrechte, die Medienfreiheit und Tschetschenien.
Europapolitik
In der Europapolitik wird ebenfalls Kontinuität vorherrschen, wobei auch hier bereits neue Nuancen erkennbar wurden. Neu in der außenpolitischen Führung der Bundesrepublik ist der Berater im Kanzleramt. Mit Christoph Heusgen hat sich Angela Merkel einen europäischen Spitzenbeamten von Brüssel nach Berlin geholt. Der 50-jährige Heusgen war sechs Jahre lang Leiter des politischen Stabs von EU-Chefaußenpolitiker Javier Solana und in dieser Funktion einer der Verfasser der EU-Sicherheitsdoktrin. Hier deuteten sich schon erste Konfliktlinien an. Heusgen sieht vor allem das enge Verhältnis, das Schröder zu Putin pflegte, kritisch, weil es vor allem die osteuropäischen EU-Mitglieder verunsicherte. Und auch einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat hält der neue außenpolitische Berater nicht für das höchste aller Ziele und will stattdessen die Zusammenarbeit der EU-Staaten in diesem Gremium intensivieren. Was ihm prompt die Kritik von Gernot Erler eintrug, der prompt monierte, es sei "schwer vorstellbar", dass ein Beamter die Koalitionsvereinbarung zu diesem Thema "korrigiere". Die Formulierung im Koalitionsvertrag ist hier jedoch eindeutig: "Deutschland bleibt bereit, mit der Übernahme eines ständigen Sicherheitsratssitzes mehr Verantwortung zu übernehmen. In der Perspektive streben wir einen ständigen Sitz für die EU an."
In Europa sind die Erwartungen an die neue Bundesregierung und Kanzlerin Merkel jedenfalls relativ hoch: Die Amtszeiten des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac und von Großbritanniens Premier Tony Blair neigen sich dem Ende zu - Italiens Silvio Berlusconi gilt als politisches Leichtgewicht. Bleibt die deutsche Kanzlerin - und der außenpolitische Spagat, den sie vollbringen muss: Sie will die Kohlsche Rücksichtnahme auf die Kleinen in Europa verbinden mit Schröders Linie vom normalen deutschen Selbstbewusstsein in der internationalen Politik.
Weit oben auf der Agenda der Kanzlerin steht auch ein Besuch bei der EU-Kommission in Brüssel. Der EU-Gipfel in Brüssel am 15. Dezember 2005 wird der erste wichtige Auftritt von Angela Merkel auf der Brüsseler Bühne. Dabei steht unter britischer Präsidentschaft nichts weniger als die Verabschiedung des Haushalts für die Jahre 2007 bis 2013 auf dem Programm, immerhin fast eine Billion Euro. Hauptstreitpunkt sind einmal mehr die Agrarsubventionen und der von Margaret Thatcher erstrittene "Britenrabatt". Großbritannien beharrt auf seinem Rabatt aus den Zeiten, als es der "kranke Mann Europas" war. Und die Franzosen beharren auf ihren Agrarbeihilfen, als seien nicht seit Jahrzehnten schon eine der größten Industrienationen der Welt. Wenn es nicht gelingen sollte, hier einen Kompromiss zu finden, wird der erste EU-Gipfel der Kanzlerin mit ziemlicher Sicherheit scheitern.
Zwei weitere Streitfragen zwischen CDU/CSU und SPD, die Europapolitik betreffend, haben sich von alleine erledigt. Auch wenn die Frage eines möglichen EU-Beitritts der Türkei nach wie vor potenziellen Konfliktstoff birgt. Während die SPD dem Land eine Beitrittsperspektive offen halten möchte, ist die Union lediglich zu einem "privilegierten Verhältnis" bereit. Bisher forderte die CDU immer eine "privilegierte Partnerschaft" der EU mit der Türkei, und die SPD war ohnehin für eine klare Beitrittsperspektive. Da die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei de facto aber bereits im Oktober 2005 begonnen haben, werden sie während der kommenden vier Jahre keinen Anlass zu grundsätzlichen Streitigkeiten mehr bieten - zumal sie vermutlich länger dauern dürften, als die Große Koalition Bestand haben wird. Europapolitische Differenzen sind deshalb in der Großen Koalition kaum zu erwarten. Sowohl die Union als auch die SPD fühlen sich dem Integrationsprozess und dem Bemühen verpflichtet, die Inhalte der an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten europäischen Verfassung zu retten. Dennoch bleibt abzuwarten, wie sich die neue Regierung zu Fragen wie der Einhaltung des Stabilitätspaktes, der Neuordnung der EU-Strukturpolitik oder der Wiederbelebung der EU-Verfassung stellen wird.
Im Mittelpunkt der großkoalitionären Außenpolitik dürfte die Wiedergewinnung der traditionellen Mittlerrolle zwischen Großbritannien und Frankreich wie zwischen Washington und Paris stehen. Hier möchte sich die Kanzlerin sowohl gegenüber Frankreich als auch gegenüber Russland Spielraum zurückerobern ? ohne die beiden Partner vor den Kopf zu stoßen. Darüber hinaus legt Angela Merkel wert darauf, dass die Staaten Mittel- und Osteuropas weiterhin eine wichtige Rolle in der deutschen Europapolitik spielen. Die Union hatte der rot-grünen Bundesregierung mehrfach vorgeworfen, die engen Beziehungen zu Frankreich und Russland gingen auf Kosten kleinerer Staaten, als deren Anwalt sich Deutschland traditionell verstand. Darüber hinaus baut man jedoch wie bisher auch auf die deutsch-französische Freundschaft und die guten Kontakte zu Russland.
Auch eine Große Koalition bekennt sich zum Europäischen Verfassungsvertrag, der nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden auf Eis liegt. Der Ratifizierungsprozess in den noch ausstehenden EU-Ländern soll über das erste Halbjahr 2006 hinaus fortgeführt werden und unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 neue Anstöße erhalten. Bei den EU-Finanzen wird eine relative Entlastung Deutschlands angestrebt. Deutschland solle nicht mehr als ein Prozent seines Bruttonationaleinkommens an die EU zahlen. Die EU-Defizitgrenze von drei Prozent soll 2007 eingehalten werden. Der EU-Agrarkompromiss von 2002 wird nicht in Frage gestellt.
Eine Baustelle der schwarz-roten Außenpolitik wird das Verhältnis zu Polen sein. Uneins sind die Koalitionspartner über das von der CDU favorisierte "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin, das für die Polen ein rotes Tuch ist. Weil die SPD das Zentrum ablehnt, wird es im Koalitionsvertrag auch nicht direkt erwähnt. Dort heißt es lediglich, dass in Berlin "ein sichtbares Zeichen gesetzt werden soll", um an "das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern". Die neue konservative polnische Regierung von Lech Kaczynski macht jedoch Fortschritte bei den deutsch-polnischen Beziehungen ebenfalls nicht leichter ? ist seine Partei in der Vergangenheit doch in erster Linie durch stark nationalistische, europaskeptische, deutschlandkritische und antirussische Äußerungen aufgefallen.
Transatlantische Beziehungen
Im Verhältnis zu den USA ist durch den Regierungswechsel mit einer Entspannung zu rechnen. Aber auch hier bleiben jedoch Fragezeichen, inwieweit das Zusammenspiel von Kanzleramt und Außenministerium funktionieren wird, wenn es um konkrete Konfliktfälle wie den Iran oder das generelle amerikanische Konzept der Terrorismusbekämpfung geht. Eine der wichtigsten Aufgaben für die deutsche Politik wird in den nächsten Jahren also darin bestehen, ein gelassenes und realistischeres Verhältnis zu Amerika zu entwickeln - wie auch zu jenem Ordnungsrahmen, den die USA in vielen Teilen der Welt sichern.
Das transatlantische Verhältnis ist die Sollbruchstelle der schwarz-roten Regierung. Konflikte über das richtige Verhalten gegenüber dem Bündnispartner aus Washington dürften nicht ausbleiben. Hier funktionieren die parteipolitischen Reflexe nach wie vor besonders gut. Die CDU/CSU setzt auf eine enge transatlantische Partnerschaft, was ihr von SPD-Seite oft genug den Vorwurf der blinden Gefolgschaft und Nibelungentreue einbrachte, wogegen Gerhard Schröder und die Sozialdemokratie nicht zuletzt durch den Widerstand gegen den Irakkrieg und das Bedienen von in der Bevölkerung weit verbreiteten antiamerikanischen Reflexen die Bundestagswahl 2002 noch auf der Zielgeraden für sich entscheiden konnten. Der Koalitionsvertrag stellt diesbezüglich fest: "Das schließt unterschiedliche Auffassungen nicht aus, mit denen im partnerschaftlichen Dialog und im Geist der Freundschaft umgegangen werden muss." Hier sind die Lehren aus dem Streit über den Irak-Krieg eingeflossen, die auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) als bisheriger Kanzleramtsminister aus unmittelbarer Nähe mitbekommen hat. Die Auseinandersetzung über den Irak-Krieg hat auf beiden Seiten des Atlantiks deutliche Spuren hinterlassen. Eine der zentralen Fragen, die zu erörtern sein werden lautet: Wo findet der zentrale Dialog über die transatlantische Politik statt? Die Wiederbelebung der NATO und ihre Rolle als Ort des transatlantischen Dialogs wurden bereits von Kanzler Schröder angemahnt und eingefordert. In diese Richtung wird auch die Große Koalition weiter arbeiten. So hatte es durchaus Signalscharakter, dass Kanzlerin Merkel - nach Frankreich - das Atlantische Bündnis in Brüssel als zweites Reiseziel wählte.
Der größte Test für die deutsche Außenpolitik wie für die Zukunft des transatlantischen Bündnisses ist Irans Atomprogramm. Die EU-3 - Deutschland, Frankreich und Großbritannien - haben in dieser Sache die Führung übernommen und die USA für ein diplomatisches Vorgehen gewonnen. Es ist Europa aber bislang nicht gelungen, Teheran zum Einlenken zu bewegen. Angesichts der aggressiven Re-Khomeinisierung des iranischen Regimes dürfte die Krise um das iranische Atomprogramm eine der ersten außenpolitischen Bewährungsproben für die neue deutsche Regierung sein. Für eine Lösung der Krise bleibt auch das russische Engagement wichtig. Der russische Vorschlag, der auch von der EU gebilligt wird, und vorsieht, dass Iran die umstrittene Urananreicherung in einem Gemeinschaftsunternehmen in Russland vornimmt, an dem beide Länder je zur Hälfte beteiligt wären, ist konstruktiv und geht in die richtige Richtung. Das Unterbinden der unkontrollierten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bleibt eines der wichtigsten Ziele. Für das Fortbestehen der Weltnuklearordnung ist die Aufrechterhaltung und nicht diskriminierende Anpassung des Atomwaffensperrvertrages von überragender Bedeutung. Hier stehen alle Nuklearmächte - einschließlich Russlands - in der Pflicht.
Spannend bleibt auch, inwieweit die Sicherheitspolitik Deutschlands künftig transatlantisch bzw. europäisch ausgerichtet sein wird. In der Union besteht der deutliche Wunsch, das seit dem Irakkrieg belastete Verhältnis zu den USA zu verbessern. Zugleich soll am Ausbau der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer Verteidigungsunion festgehalten werden. Beides soll jedoch nicht in Konkurrenz zu einander gesehen werden, sondern als Ergänzung.
Das Ziel ist klar: Für Frieden und Sicherheit in Europa bleiben das Gelingen des europäischen Einigungsprozesses und eine funktionierende Atlantische Partnerschaft von überragender Bedeutung. Realistische und verantwortbare Alternativen gibt es nicht, weder nationale Alleingänge, noch Sonderbeziehungen oder Politik in exklusiven Zirkeln könnten langfristig zu einem auch nur annähernd vertretbaren Maß an Stabilität verhelfen. Auch die Außenpolitik der Großen Koalition wird deshalb Europäische Integration und Atlantische Partnerschaft nicht als künstliche Gegensätze, sondern als zwei Seiten einer Medaille verstehen. Die transatlantischen Beziehungen sollen zukunftsgerichtet gestaltet werden, ohne die gemeinsame Geschichte zu vergessen: "Dafür - so heißt es im Koalitionsvertrag - ist ein enges Vertrauensverhältnis zwischen den USA und einem selbstbewussten Europa, das sich nicht als Gegengewicht, sondern als Partner versteht, unverzichtbar." Eine Revitalisierung der transatlantischen Beziehungen ist schon deshalb notwendig, weil uns nicht nur der weltweit am stärksten verflochtene Wirtschaftsraum verbindet, sondern weil die Bedrohungen durch transnationalen Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, die in falsche Hände geraten können, zerfallende Staaten, weltweite Armut und Unterentwicklung alle gleichermaßen betreffen und diese Herausforderungen am besten gemeistert werden können, wenn gemeinsame euro-atlantische Positionen entwickelt werden. Das abgestimmte Vorgehen gegenüber dem Nuklearprogramm des Iran kann hierfür als Beispiel dienen.
Die Große Koalition und die deutsch-russischen Beziehungen
Welchen Weg werden die deutsch-russischen Beziehungen unter einer Bundeskanzlerin Merkel einschlagen? Partnerschaft, Freundschaft, oder kalkulierende Kooperation? Wo liegen die Gemeinsamkeiten und wo das Trennende? Die Russlandpolitik der Großen Koalition wird sich aller Voraussicht nach nur unwesentlich von der der rot-grünen Regierung unterscheiden. Auch wenn die Union vor dem 18. September unablässig skandierte, dass die bisherige "Putin-Politik" so nicht fortgeführt werden könne und in ihrem Wahlprogramm gar von einer "prinzipienlosen Russlandpolitik" der Regierung Schröder sprach. Zwar kündigte die Kanzlerin an, dass künftig im Verhältnis zu Moskau nicht mehr "über die Köpfe der Nachbarn hinweg" entschieden sowie über "innenpolitisch problematische Entwicklungen Russlands" nicht länger geschwiegen werden solle. Besonders die "Achse Berlin-Paris-Moskau" wurde von der Union mit Argwohn bedacht. Es ist daher anzunehmen, dass eine Große Koalition in Berlin Wladimir Putins Präsidial-Demokratie in Moskau nicht mit jenem abgeklärten Gleichmut begegnet, wie das unter Gerhard Schröder der Fall war. Allerdings existieren - nicht nur im sozialdemokratisch geführten Außenministerium sondern auch in der deutschen Wirtschaft - einflussreiche Veto-Gruppen, die sich jeder substantiellen Revision der eingespielten Russlandpolitik widersetzen dürften.
Wer die Verschiebungen und neuen Möglichkeiten der Russlandpolitik der Merkel-Regierung sucht, muss bei dem Mann anfangen, der fehlt: Gerhard Schröder. Der Ex-Kanzler hat die Beziehung zu Russland als Männerfreundschaft zu Präsident Wladimir Putin betrieben. Die sehr persönliche Beziehung Schröders zu Putin als Grundlage der bisherigen Beziehung fällt nun weg, was nicht automatisch zu einer Verschlechterung der Beziehungen führen muss. Der Koalitionsvertrag betont jedenfalls die Kontinuität der deutsch-russischen Beziehungen jenseits der Männerfreundschaft. Es zudem nicht so, dass nicht auch unter Rot-Grün der Dialog mit der russischen Opposition geführt wurde und dass nicht auch viele Sozialdemokraten der Russlandpolitik des Kanzlers skeptisch gegenüber standen.
Festzuhalten bleibt, dass Deutschland auch unter Bundeskanzlerin Merkel ein erhebliches Interesse an der Einbindung der Russischen Föderation in die europäischen und weltwirtschaftlichen Strukturen hat und den Transformationsprozess in Russland unterstützt. Deutschland ist der wichtigste Außenhandelspartner Russlands; das Handelsvolumen wies auch 2004 eine beträchtliche Steigerungsrate auf (+ 18,4% auf über 31 Mrd. Euro). Russland exportiert vorwiegend Rohstoffe und Energieträger, während Deutschland vor allem Fertigwaren und Investitionsgüter exportiert. Deutsche Firmen, darunter zahlreiche mittelständische Unternehmen, haben erhebliche Investitionen in Russland getätigt. Ein wichtiger Erfolg auf dem Gebiet der Umweltpolitik ist die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls durch Russland am 27.10.2004, die sich auch wirtschaftlich positiv auswirken wird.
Der Richtungsstreit zur deutschen Russlandpolitik, wo er ernsthaft geführt wird, verläuft eher quer durch alle politischen Lager, selbst durch die neue Linkspartei und auch quer durch die EU. Er betrifft nicht nur die Frage der autoritären Strukturen in Russland, sondern vielmehr die Frage, wie mit der Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energieressourcen umzugehen sei. Dabei ist kaum anzunehmen, dass eine neue deutsche Regierung im Grundsatz eine andere Politik machen wird als die rot-grüne es in den letzten Jahren getan hat. M.a.W.: Auch die Russlandpolitik der Großen Koalition wird letztlich von nüchternen Realitäten geprägt sein.
In Russland selbst wird die neue deutsche Regierung jedenfalls mit Argwohn betrachtet. Man befürchtet atmosphärische Veränderungen, eine kritischere Haltung Deutschlands etwa zu den Menschenrechten sowie zur Tschetschenien-Problematik. Auch eine zu erwartende Wiederannäherung an die Vereinigten Staaten wird in Moskau als negativ für das deutsch-russische Verhältnis angesehen. Die russische Seite sollte jedoch auch die Chancen sehen, die sich mit der neuen deutschen Regierung verbinden. So wird sich bald herausstellen, dass die russischen Besorgnisse unbegründet sind. Gemeinsam mit den europäischen Partnern will sich Deutschland auf bilateraler und EU-Ebene für eine strategische Partnerschaft mit Russland einsetzen. "Ziel bleibt ein Russland, das prosperiert und das - orientiert an den Werten, denen Europa verpflichtet ist, und unter Berücksichtigung seiner Traditionen - den Wandel zu einer stabilen Demokratie erfolgreich bewältigt", heißt es hierzu im Koalitionsvertrag. Die Beziehungen zu Russland sollen danach so gestaltet werden, dass sie die gemeinsamen Nachbarn im "Geiste der Freundschaft und des Vertrauens" einbinden. Zugleich ist klar, dass auch nationale Interessen immer von Werten geleitet werden. Daher wird es zwischen Deutschland und Russland - ebenso wie zwischen Deutschland und den USA - stets auch eine Wertediskussion geben und geben müssen.
Fazit
Wie soll Deutschlands Rolle in Europa und der Welt im 21. Jahrhundert aussehen? Welche politischen Prioritäten setzt sich Deutschland als Nation? Wie gewinnt das Land eine wichtige Rolle in Europas Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie angesichts der internen (Osteuropa) und externen Konkurrenz (China und Indien) zurück. Um dessen Wettbewerbsfähigkeit zu steigern? Will Deutschland ein wachsendes ökonomisches Europa, das ohne Ende seine Grenzen ausdehnt und in eine riesige Freihandelszone imperialen Ausmaßes mutiert? Oder ein sich vertiefendes politisches Europa, das jenseits des Nationalstaates eine politische Gemeinschaft sui generis wird, dann aber die Finalität seiner Grenzen bestimmen muss? Wie können die sozialen Sicherungssysteme so neu justiert werden, dass sie den genannten Herausforderungen gerecht werden? Wie gestaltet sich das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und Russland? Dies sind die Fragen vor denen die Große Koalition in den nächsten vier Jahren stehen wird.
Nicht nur in Europa fragen sich die Regierungen, wie viel außenpolitische Kontinuität zum Duo Schröder/Fischer herrschen wird - und wie viel neues Denken. Für diesen möglichen Konflikt stehen - wie bereits ausgeführt - Steinmeier und Merkel, ebenso für die traditionell latente Rivalität zwischen der Außenpolitik des Kanzleramtes und der Außenpolitik des Außenministeriums. Natürlich gehört es zur politischen Signalsprache jeder neuen Regierung, an den roten Faden ihrer Vorgängerin anzuknüpfen. In der Regel schafft das Vertrauen bei den Nachbarn. Zugleich lässt der Zeitdruck, unter dem die Probleme angegangen werden müssen, keinen Spielraum für behutsames Kennen lernen. Merkel und Steinmeier sind ebenso wie die Große Koalition insgesamt "zum Erfolg verdammt". Ob sich die Zusammenarbeit zwischen Union und SPD aber auch in der politischen Praxis harmonisieren wird, hängt von der Konzentration auf das Gelingen gemeinsamer Projekte ab. Die Kanzlerin wird wissen, dass sie sich einen Grundsatzstreit um die deutsche Außenpolitik nicht leisten kann. Die SPD lässt sich nicht so einfach beiseite schieben wie die Grünen oder früher die FDP. Sollte die Union sich zu Lasten der SPD in der Außenpolitik profilieren wollen, wird es fast zwangsläufig zu Konflikten kommen. Einige Kursänderungen zur Außenpolitik Schröders würden allerdings auch von der SPD-Fraktion begrüßt werden. So stieß der Kanzler bspw. mit seinem Wunsch nach einer Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China auch bei seinen eigenen Leuten auf Unverständnis und handelte zudem gegen die Beschlusslage der eigenen Fraktion. Auch und gerade in einer Großen Koalition wird es zudem darauf ankommen, dass das Parlament und die zuständigen Fachausschüsse ihre Kontroll- und Wächterfunktion wahrnehmen und die Außen- und Sicherheitspolitik der Regierung kritisch unterstützen und begleiten.
Sicher ist, dass es einen abrupten Kurswechsel der deutschen Außenpolitik nicht geben wird. In die guten alten Zeiten Helmut Kohls, als diesseits und jenseits des Atlantiks alles noch seinen festen Platz hatte, führt dennoch kein Weg zurück. Auch Angela Merkel wird auf Probleme stoßen, die mit den Mitteln der Vergangenheit nicht zu lösen sind. Die Zeiten werden aufregend bleiben ? aufregender vermutlich, als Schwarz-Rot lieb sein wird.