Der arabische Frühling und der Umbruch im Nahen Osten
Die arabische Welt befindet sich derzeit in einem historischen Umbruch. Menschen begehren gegen Despotismus auf und setzen sich für Wohlstand, Mitsprache und Gerechtigkeit ein - und das in einer Weltregion, die jahrzehntelang als politisch und gesellschaftlich verkrustet galt. Binnen weniger Wochen haben die Protestbewegungen in Tunesien und Ägypten die alten Regime um die Präsidenten Ben Ali und Mubarak gestürzt. Noch ist offen, wohin dies Europas Nachbarländer führen wird. In beiden Staaten wird von Basisbewegungen auf die Erneuerung der Staatsapparate gedrungen. Zugleich aber ist jetzt erst einmal die Armeeführung an der Macht, das heißt die bisherige Hauptstütze des Regimes. Die Demokratisierung Ägyptens wird auch maßgeblich davon abhängen, ob das Militär seine Zusagen einhalten wird, wenn es um freie Wahlen und die Machtübergabe an eine zivile Regierung geht.
Ägypten und Tunesien haben jedoch schon jetzt im ganzen Nahen Osten ein Signal gesetzt, von Algerien über Libyen bis nach Bahrein. Das tunesische Volk hat mit dem Sturz von Präsident Ben Ali und seiner Regierungspartei den Präzedenzfall für den arabischen Raum geschaffen. Es hat das Vorurteil, arabische Staaten seien nicht demokratiefähig, endgültig widerlegt.
Der arabische Krisengürtel, von Marokko bis Jordanien, liegt in Europas unmittelbarer Nachbarschaft. Der Westen schwankt bislang zwischen Unterstützung und Sorge um das geopolitische Machtgefüge im Nahen Osten. Wird etwa Israel größere Probleme als bisher bekommen, wenn die starken Männer der arabischen Welt abtreten? Die Europäische Union hat Tunesien und Ägypten ihre Hilfe angeboten. Dafür muss sie neue Instrumente und Strategien entwerfen. Fast alle Staaten rund um das Mittelmeer und die 27 EU-Mitglieder haben 2008 die "Union für das Mittelmeer" ins Leben gerufen. Dieses Forum hat die hohen Erwartungen bislang nicht erfüllt. Die politische Blockade der "Union für das Mittelmeer" muss nun aufgelöst werden zugunsten der Förderung von konkreten Kooperationsprojekten und der Förderung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaatsmodells in den südlichen Mittelmeeranrainern. Dringend notwendig ist eine Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union gegenüber Nordafrika und dem Nahen Osten. Ein Schwerpunkt muss dabei auf der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Bürgergesellschaft liegen. Und die EU muss ihren Agrarmarkt für Produkte aus Nordafrika und Nahost weiter öffnen.
Auch im Bereich der kontrollierten Einwanderung sollte die EU Angebote machen, die jungen Menschen aus der Region Zugang zu Bildung und Ausbildung bieten. Die restriktive Visa-Politik der Union setzt hier ein falsches Zeichen. Zudem dürfen die Südländer nicht mit der Flüchtlingsproblematik allein gelassen werden. Wenn die Bundeskanzlerin langfristig politische Flüchtlinge in Deutschland nicht aufnehmen möchte, muss sie jetzt beim Aufbau demokratischer Gesellschaften vor Ort mitwirken, um den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zu bieten. Das ist die beste Flüchtlingspolitik.
Was derzeit in der arabischen Welt geschieht, ist gut für das Selbstbewusstsein der Bürger dort. Sie handeln aus eigenem Antrieb für das eigene Wohl und sie befrei-en sich damit zugleich von dem lang gehegten Selbstbild, nur ein Spielball äußerer Mächte und autokratischer Herrscher zu sein. Wenn alles gut geht, werden diese Gesellschaften ein selbstbewussterer und damit zugleich verlässlicherer Partner sein. Dann wären Demokratisierung und Stabilität langfristig keine Gegensätze mehr. Bis dahin ist es allerdings noch ein langer Weg, der - wie die Bürgerkriege in Libyen und Syrien zeigen - leider auch von blutigen Rückschlägen begleitet werden kann. Auch wenn das Gaddafi-Regime unter maßgeblicher Mitwirkung der NATO (die dabei das Mandat der UN-Resolution 1973 äußerst weit interpretierte) gestürzt werden konnte, bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich das Land entwickelt wird. Es hat zumindest den Vorteil, dass es über die Erdöleinnahmen ein potenziell wohlhabendes Land ist.
Seit März dieses Jahres hat die Brutalität des syrischen Regimes annähernd 2.000 Menschenleben gefordert. Die verantwortlichen Akteure im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen - insbesondere China und Russland - müssen sich angesichts dieser untragbaren Gewaltanwendung ihrer Verantwortung für die vom Tode bedrohten Menschen in Syrien bewusst werden. Dasselbe gilt für die Arabische Liga und die Europäische Union. Auch wenn die EU der-zeit mit der Lösung eigener Probleme gebunden ist, ist ein größeres europäisches Engagement im Falle Syriens unbedingt notwendig. Die Glaubwürdigkeit Europas in der Nahostregion wird in der Zukunft auch an ihrem Verhalten gegenüber dem Assad-Regime gemessen werden.
Aber nicht nur in Syrien und Libyen, in allen Ländern der arabischen Welt gilt: die Zukunft ist weiter unklar. In Tunesien und Ägypten haben die Menschen zwar die Diktatoren verjagt - noch ist aber nicht klar, wie tiefgreifend die Veränderungen gehen werden. Viele der alten Eliten sitzen nach wie vor in entscheidenden Positionen. Wenn vom arabischen Frühling die Rede ist, werden jedoch zumeist nur die Risiken und viel zu wenig die Chancen genannt. Tunesien ist neben Ägypten das Land, in dem die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklung gegeben sind und von dem wir uns eine Vorbildfunktion erhoffen.
Allerdings steht jetzt schon fest, dass die Weichen in der arabischen Welt neu gestellt werden. Das birgt auch für uns in Europa Chancen wie Risiken. Es liegt im ureigenen wirtschaftlichen und sicherheits-politischen Interesse der EU, den Menschen dieser Region zu helfen. Die EU hat die Möglichkeit, durch entschlossenes Handeln den Wandel positiv zu beeinflussen. Wir brauchen deshalb dringend eine gesamt-europäische Strategie, um die Demokratisierung und den Umbau der arabischen Staaten und Gesellschaften schnell und nachhaltig zu unterstützen. Wir brauchen einen Marshallplan für den Nahen Osten, der eine Zukunftsperspektive für die junge Generation eröffnet. Die EU muss die Zusammenarbeit in Bildung und Wissenschaft intensivieren. Dazu gehören beispielsweise Visaerleichterungen für Jungakademiker und ein Wirtschaftsaufbau vor Ort über regional ausreichend ausgestattete Entwicklungsfonds ebenso wie der Abbau von Handelshemmnissen und das Projekt einer euromediterranen Freihandelszone.
Die EU steht in der Verantwortung und ist gefordert, die in Mittel-und Osteuropa gewonnenen Erfahrungen bei der Unterstützung von Transformationsprozessen für die arabische Welt fruchtbar zu machen. Wir brauchen einen Neustart der Mittelmeerunion. Zudem muss die Bundesregierung ihre guten Beziehungen zur Regierung Israels nutzen, um bilateral und im Nahost-Quartett eine Wiederaufnahme direkter Gespräche zwischen Israel und Palästina zu erreichen. Deutschland muss gemein-sam mit anderen Ländern Europas und mit der EU aktiv werden, damit die Demokratisierung der arabischen Welt zu einer
Chance auch für die Lösung des Nahost-Konflikts wird. Um den Weg dafür frei zu machen, muss die israelische Regierung die Siedlungspolitik beenden. Eine Regelung des Nahostkonflikts ist im elementaren und langfristigen Interesse Israels, der gesamten Nachbarregion und Europas. In der komplizierten Frage einer möglichen Anerkennung eines Staates Palästina hat sich Frau Merkel schon Anfang April ohne jede Not auf ein Nein festgelegt und sich damit jede Möglichkeit Druck auf die Regierung Netanyahu auszuüben genommen. Zudem erfolgte diese Vorfestlegung Merkels offenbar ohne jede Rücksprache mit den europäischen Partnern. Die EU braucht trotz Euro- und Finanzkrise ein schlüssiges Konzept gegenüber dem Nordafrikas und dem Nahen Osten. Dies muss auch die Aufgabe eines neuen transatlantischen Projektes sein. Die EU und der Westen müssen aufpassen. Es besteht die Gefahr, dass eine Jahrhundertchance leichtfertig verspielt wird.