Abrüstung und Rüstungskontrolle als unverzichtbare Bestandeile einer progressiven Außen- und Sicherheitspolitik

Die SPD ist spätestens seit dem Leipziger Parteitag von 2013 offen für ein rot-rot-grünes Fortschrittsprojekt. Dort wurde beschlossen: „Für die Zukunft schließen wir keine Koalition (mit Ausnahme von rechtspopulistischen oder -extremen Parteien) grundsätzlich aus.“ Zudem wurden drei Bedingungen festgeschrieben: 1. Es müsse eine „stabile und verlässliche parlamentarische Mehrheit“ vorhanden sein. 2. Der Koalitionsvertrag müsse „verbindlich und finanzierbar“ sein. 3. Und last but not least müsse eine „verantwortungsvolle Europa- und Außenpolitik im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen“ gewährleistet sein.

Der letzte Punkt dürfte zugleich auch die Sollbruchstelle etwaiger zukünftiger Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und der LINKEN in der Außenpolitik sein. Während die Grünen offenbar so dringend an die Macht wollen, dass sie dafür mittlerweile auch bereit sind, einige „heilige Kühe“ zu schlachten und ihre pazifistischen Wurzeln zu kappen, hält die Mehrheit der LINKEN nach wie vor an ihrer generellen Ablehnung der NATO und einer deutschen Beteiligung an internationalen Einsätzen fest. Die Durchsetzung der Herrschaft des Rechtes und die Sicherung von humanitären Einsätzen der Hilfsorganisationen durch UN-Einsätze sind für die Stärkung des Friedens und die Stärkung der Menschenrechte in bestimmten Fällen jedoch unverzichtbar. 

Dennoch muss eine rot-rot-grüne Regierung nicht zwangsläufig an der Außen- und Sicherheitspolitik scheitern – zumal die LINKEN in einer solchen Konstellation kaum den Außenminister oder die Außenministerin stellen dürften.

Zudem bietet die Friedens- und Sicherheitspolitik für ein linkes zukunfts-gerichtetes Fortschrittsprojekt ohne Zweifel auch viele Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte. Dies gilt vor allem für die Kernpunkte sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik: Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.  Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten „linker Außenpolitik“ in den Bereichen Internationale Sozial- und Rohstoffpolitik, zivile Friedenssicherung, restriktive Rüstungsexportpolitik und Stärkung der Vereinten Nationen, der OSZE und der internationalen (Straf-)Gerichtsbarkeit. 

Ein progressives rot-rot-grünes Bündnis dürfte sich in folgenden drei Bereichen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik relativ schnell auf eine gemeinsame Agenda einigen: 1. die Wiederbelebung von Abrüstung und Rüstungskontrolle und die Abkehr vom sogenannten 2-Prozent-Ziel der NATO; 2. dem gemeinsamen Ziel eines Abzuges der in Deutschland und Europa lagernden taktischen US-Atomwaffen und 3. einer gerechteren und solidarischeren Europa- und Entwicklungspolitik.

Rückkehr zu Abrüstung und Rüstungskontrolle

Eine Welt ohne Atomwaffen ist und bleibt ein wichtiges Ziel sozialdemokratischer Außenpolitik.  Wir brauchen heute Abrüstung und Rüstungskontrolle dringlicher denn je. Nach einem Jahrzehnt der Abrüstung, das 1987 mit dem INF-Vertrag begann und 1997 mit der Chemiewaffenkonvention endete, steigen die Militärausgaben seit 1998 wieder deutlich an. Laut SIPRI-Jahrbuch 2019 wurden im Jahr 2018 ca. 1.822 Milliarden US-Dollar weltweit für militärische Zwecke ausgegeben – dies entspricht 2,1 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Die USA liegen dabei mit großem Abstand an der Spitze: Auf sie entfallen mit 649 Milliarden Dollar 36 Prozent der globalen Rüstungsausgaben. Mehr als 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges lagern weltweit immer noch 13.865 nukleare Sprengköpfe. Und in den Planungsstäben der Großmächte erlebt die Atombombe eine strategische Renaissance. Die führenden Militärmächte befinden sich längst wieder in einem neuen atomaren Rüstungswettlauf, der dringend gestoppt werden muss.

Wir sind davon überzeugt, dass in einer politisch unsicheren Welt mehr Waffen keine Sicherheit schaffen. Eine wirksame Rüstungskontrolle, das Ziel einer vollständigen weltweiten Abrüstung der bestehenden Arsenale von Nuklearwaffen und anderer Massenvernichtungswaffen sowie die weltweite Ächtung vollautonomer Waffensysteme sind prioritäre Ziele sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik.

Fakt ist: Abrüstung und Rüstungskontrolle befinden sich heute in einer tiefen – vielleicht sogar existenziellen – Krise. Wir sehen uns heute zunehmend mit neuen nuklearen Akteuren (Nordkorea, Indien, Pakistan, Israel) und der Gefahr der Proliferation (Iran, Türkei) konfrontiert. Hinzu kommen Rüstungswettläufe und die technologische Modernisierung hochkomplexer, selbstlernender Waffensysteme (Mini NukesCyberwar, Drohnen, Überschallwaffen etc.) und eine Vermischung von konventionellen und nuklearen Abschreckungssystemen. Eine immer unübersichtlichere Gemengelage, die äußerst gefährlich ist.  

Im Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüstung richten sich große Hoffnungen auf die neue US-Administration. So ist davon auszugehen, dass die Regierung Biden den im Februar 2021 auslaufenden New Start-Vertrag über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen verlängern und sich insgesamt um die mühsame Wiederherstellung der von Donald Trump in Trümmern gelegten Rüstungskontrollarchitektur bemühen wird. Zu den „Opfern“ gehören das iranische Atomabkommen, der INF-Vertrag und das Open Skies-Abkommen. Der New START-Vertrag muss als Eckpfeiler der weltweiten Rüstungskontrolle unbedingt erhalten und weiterentwickelt werden. Auch die Atommacht China muss sich ihrer Verantwortung in der Rüstungskontrolle stellen. Zudem sollte Europa darauf drängen, dass die Biden-Administration und Russland Verhandlungen über die verifizierbare, vollständige Abrüstung im substrategischen Bereich aufnehmen mit dem Ziel, die in Europa und in Deutschland stationierten taktischen Atomwaffen endlich abzuziehen und zu vernichten.

Wir sollten mit der neuen US-Aministration die Grundlagen für eine neue transatlantische Rüstungskontrollagenda entwickeln und eine offene Debatte über die Rolle der Nuklearwaffen, die Nuklearstrategie der NATO und der in Deutschland und Europa stationierten amerikanischen Atomwaffen führen. Und dies nicht nur, weil in Berlin bis 2025 die Entscheidung über ein Nachfolgeflugzeug des potentiellen Trägersystems Tornados ansteht. Wir agieren und diskutieren immer noch in den veralteten und überkommenen Abschreckungskategorien des Kalten Krieges. Dabei sind wir mit einer neuen nuklearen Ordnung konfrontiert, die weit komplexer, unübersichtlicher und vor allem gefährlicher ist, als das relativ stabile „Gleichgewicht des Schrecken“, welches im Übrigen bei weitem nicht so sicher war, wie es im Nachhinein vielen scheinen mag. Man stelle sich nur kurz einmal vor, während der Kuba-Krise 1962 wären Donald Trump und Wladimir Putin die verantwortlichen Akteure auf beiden Seiten gewesen!

Am 22. Januar 2021 trat der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft und brachte eine weitere, kontroverse Dynamik in die Bemühungen um eine nuklearwaffenfreie Welt. Trotz einiger Mängel des Verbotsvertrages (bspw. bei Verifikation und Exportkontrollen) wäre es ein wichtiger Schritt, wenn Deutschland sich als Beobachter einbringen und die Intentionen des Vertrages konstruktiv begleiten könnte. Berlin sollte mithelfen, Brücken zu bauen zwischen den Befürwortern der sofortigen atomaren Abrüstung des Verbotsvertrages und den atomaren Abrüstungsverpflichtungen, die sich aus Artikel 6 des Atomwaffensperrvertrages ergeben. Wir brauchen reale Abrüstungsschritte und verbindliche Zusagen zur NVV-Überprüfungskonferenz 2021.Es ist höchste Zeit, die stagnierenden Abrüstungsbemühungen mit neuem Leben zu erfüllen. Wir brauchen deshalb dringend Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle, wie sie Heiko Maas bereits im Rahmen der Stockholm Initiative unternommen hat. Wir brauchen zudem einen Neustart bei der Entwicklung einer kooperativen Sicherheitsordnung und eines konventionellen Rüstungskontrollregimes im Rahmen der OSZE. Bestehende Gesprächskanäle wie der NATO-Russland-Rat (NRR) sollten wieder regelmäßiger genutzt werden.

Abrüstung und Rüstungskontrolle sind nach wie vor unabdingbar für die Gestaltung einer friedlichen Weltordnung. Voraussetzung dafür ist und bleibt allerdings der politische Wille der relevanten Akteure, an dem es in den vergangenen Jahren ganz offensichtlich gemangelt hat. Daran konnte auch der unermüdliche Einsatz dreier sozialdemokratischer Außenminister nichts ändern. Ein rot-rot-grünes Projekt würde zweifelsohne Abrüstung und Rüstungskontrolle, zivile Friedenssicherung, Konfliktprävention und -nachbereitung noch stärker in den Mittelpunkt deutscher Außen und Sicherheitspolitik stellen. Wobei man sich hier keinen Illusionen hingeben sollte: Ohne die Bereitschaft der Atommächte, ihre Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag zur atomaren Abrüstung endlich umzusetzen, wird es hier keine Fortschritte geben. Daran könnte auch ein grüner oder ein sozialdemokratischer Außenminister/Außenministerin in einer rot-rot-grünen Koalition nur wenig ändern.

Burden sharing und das Zwei-Prozent-Ziel der NATO

Bei den Fragen nach einer gerechten Lastenteilung (burden sharing) und der Höhe der deutschen Verteidigungsausgaben wird es auch mit der Regierung Biden zu Konflikten und Meinungsverschiedenheiten kommen. Auch die SPD möchte, dass die Bundeswehr die Ausrüstung bekommt, die sie braucht. Es ergibt aber nur wenig Sinn, die Höhe der Verteidigungsausgaben an einer bestimmten willkürlich festgelegten Prozentzahl festzuschreiben ohne das internationale Umfeld, die konkrete Bedrohungslage sowie die ökonomische Lage des jeweiligen Landes zu berücksichtigen. Zudem muss sich Deutschland hier keinesfalls verstecken. Wir haben die Verteidigungsausgaben deutlich auf 51,5 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr erhöht und unseren Anteil (befördert durch den Konjunktureinbruch durch die Corona-Pandemie) von 1,2 Prozent auf fast 1,6 Prozent des BIP gesteigert. Konsequenterweise müsste man im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffes auch die Ausgaben für Entwicklungs- und humanitäre Hilfe mit einbeziehen. Statt blindlings in vorauseilendem Gehorsam weiter aufzurüsten, sollten wir uns um ein effizienteres Beschaffungswesen und – Stichwort pooling und sharing – um die effektivere Nutzung der vorhandenen europäischen Potenziale bemühen. Das würde auf der einen Seite erhebliche Ressourcen einsparen und auf der anderen Seite die Interdependenz europäischer Streitkräfte stärken.

Die Fixierung auf das Zwei-Prozent-Ziel kommt mittlerweile einem „Tanz um das goldene Kalb" gleich. Zumal auf dem Gipfel in Wales lediglich vereinbart wurde, dass die NATO-Staaten „darauf abzielen, sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von zwei Prozent zuzubewegen“. Zudem muss man den historischen Kontext berücksichtigen. In Wales versuchte das Bündnis, unmittelbar nach der russischen Annexion der Krim, ein Abschreckungssignal an Russland und ein Beruhigungssignal an die osteuropäischen Partner zu senden. 

Sollte Deutschland 2024 tatsächlich zwei Prozent des BIP ausgeben, hätte dies zur Folge, dass der Verteidigungsetat auf etwa 70 Mrd. US-Dollar steigen würde und damit höher läge als der Russlands. Ein Blick auf die Militärausgaben der USA, Chinas und Russlands zeigt zudem, wer sich vor wem fürchten müsste. Laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI gaben 2019 allein die USA 732 Mrd. US-Dollar aus und damit 2,8-mal so viel wie China, das auf 261 Milliarden kommt. Es folgt Russland mit 65,4 Mrd. US-Dollar. Die 27 EU-Staaten zusammen geben derzeit über 300 Milliarden US-Dollar für Militär aus – hinzu kommt Großbritannien mit knapp 50 Mrd. US-Dollar. Insgesamt lagen die Militärausgaben der 29 NATO-Mitgliedsstaaten 2019 bei über einer Billion (1.000 Mrd.) US-Dollar. https://www.sipri.org/media/press-release/2020/global-military-expenditure-sees-largest-annual-increase-decade-says-sipri-reaching-1917-billion

Angesichts der Herausforderungen der Corona-Pandemie muss es im Interesse aller sein, Abrüstung und Rüstungskontrolle zu stärken. Die Milliarden sind im Kampf gegen die Pandemie und gegen Armut besser angelegt, als in weiteren Aufrüstungsrunden. Es ist unsinnig, Europa ausschließlich militärisch zu denken. Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit sind mindestens genauso wichtig. Die Stärke und der Vorteil der EU – das haben die letzten Jahre immer wieder gezeigt – liegt vor allem in ihrem starken internationalen zivilen Engagement. Die europäische Nachbarschaft im Süden und Osten stabilisiert man auf Dauer durch Investitionen und weniger durch Interventionen. Zudem die Bilanz der Kriege und militärischen Interventionen seit Ende des Kalten Krieges äußerst ernüchternd ausfällt – sowohl in Afghanistan wie in Libyen, Mali und auch auf dem Balkan. Der militärische und finanzielle Aufwand sowie der Ertrag stehen in einem krassen Missverhältnis. Nirgendwo – mit Ausnahme von Teilen des Balkans – ist es gelungen, einen halbwegs stabilen Frieden zu sichern.

Ein stärkeres und autonomeres Europa bemisst sich nicht in der Höhe seiner Militärausgaben. Eine Erhöhung der Militärhaushalte der 27 Mitgliedstaaten an sich bringt überhaupt nichts, wenn dahinter kein gemeinsames außen- und sicherheitspolitisches Konzept steht. Es geht um pooling und sharing. Verteidigungsfähigkeit kann nicht national, sondern muss europäisch gedacht werden.   

In Zeiten, in denen sich der Bund wegen der Bekämpfung der Corona-Pandemie hoch verschuldet, die Mittel knapp sind und gleichzeitig offenkundig wird, wie dringlich Investitionen in das Gesundheitssystem, den digitalen Netzausbau, den Klimaschutz und die Infrastruktur sind, muss über jede Ausgabe außerhalb der derzeitigen Pandemie ernsthaft debattiert werden können.

Für die Bewahrung und Reparatur internationaler Regeln und Institutionen der Friedenssicherung braucht es gemeinsame Anstrengungen. Deutschland und Europa sind jetzt gefragt, konkrete Vorschläge für den Erhalt der multilateralen Rüstungskontrolle, der internationalen Stabilisierungspolitik und der Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung zu machen. Spätestens die Corona-Krise hat uns deutlich vor Augen geführt, dass sich die tatsächlichen existenziellen Bedrohungen wie Pandemien und die globale Erderwärmung nur durch internationale Kooperation und Solidarität lösen lassen. Hierfür braucht es ein Bündnis fortschrittlicher Kräfte jenseits von Konservatismus und Neoliberalismus.

  

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
In: Denkfabrik (Hg.), Verbündet Euch! Für eine Bunte solidarische und Freie Gesellschaft. Edition Nautilus, S. 208-214. 01. März 2021