60 Jahre NATO: Zwischen Irrelevanz und Überforderung
60 Jahre nach seiner Gründung befindet sich das "erfolgreichste Militärbündnis aller Zeiten" (Volker Rühe) wieder einmal in der Krise. Diese ist auch auf unterschiedliche Bedrohungsperzeptionen und Sicherheitskonzepte zurückzuführen - nicht nur diesseits und jenseits des Atlantiks, sondern auch innerhalb der Europäischen Union. Amerikanische Allmachtsvorstellungen sind dabei ebenso von der Wirklichkeit widerlegt worden, wie der europäische (Irr-)Glaube, die Europäische Union als Gegengewicht zu den USA konstruieren zu können.
Dabei reüssierte die NATO noch bis Ende der neunziger Jahre als institutionelle "Allzweckwaffe". Immerhin hat das Bündnis seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zwei Erweiterungsrunden hinter sich gebracht, mit dem NATO-Russland-Rat, dem Euroatlantischen Partnerschaftsrat, den Partnerschaften für den Frieden und dem Mittelmeerdialog eine ganze Palette von Kooperationsgremien entwickelt und sich auf dem Balkan und in Afghanistan einmal mehr, einmal weniger erfolgreich als Subunternehmer der UNO betätigt - im Kosovo führte es 1999 gar einen Krieg ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates. Zu ihren Hochzeiten verstand sich die NATO sowohl als kollektives Verteidigungsbündnis, kooperatives Sicherheitssystem, bewaffneter Arm der UNO und gesamteuropäische Alternative zur OSZE.
Dies hat sich mit dem 11. September 2001 - wie so vieles - grundlegend geändert. Zwar rief die NATO unmittelbar nach den Anschlägen den Bündnisfall aus und ist spätestens mit dem Engagement in Afghanistan endgültig zur global agierenden NATO geworden - zugleich ist das Bündnis auf der Suche nach seiner Identität. Auch stellt sich die Frage, ob sich die "Operation Enduring Freedom" mehr als sieben Jahre nach dem 11. September tatsächlich noch durch das Recht auf Selbstverteidigung begründen lässt. Festzuhalten bleibt, dass die durch das Ende der Sowjetunion und den (militärischen) "Erfolg" im Kosovo ausgelöste Euphorie über eine NATO, die fast alles kann, der Ernüchterung über die Beschränktheit ihrer Kräfte gewichen ist.
An Vorschlägen zu Wegen aus der Krise verbunden mit der künftigen Rolle der Allianz mangelt es dabei nicht. Das Problem ist ein anderes: Bei der Bewertung dessen, was eine Bedrohung der Sicherheit ist und darin, wie man auf sie reagieren sollte, tun sich die Bündnispartner zunehmend schwer eine gemeinsame Position zu finden. Einige wollen die NATO zur militärischen Sicherung der Öl- und Gasversorgung einsetzen, was andere strikt ablehnen. Auch die Frage nach weiteren Mitgliedern, der Streit mit Russland um das geplante Raketenabwehrschild in Polen und Tschechien, die Zukunft des Vertrages über die konventionelle Rüstungskontrolle und die Energiesicherheit sorgen für Reibungen im Bündnis.
Im Kern geht es um die Frage, wofür die NATO 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges noch gebraucht wird? Als Verteidigungsbündnis oder als globale Eingreiftruppe? Nach dem Selbstverständnis vieler Mitglieder ist die NATO nach wie vor in erster Linie ein Verteidigungsbündnis demokratischer Staaten. Vor allem in den USA mehren sich dagegen die Stimmen, die argumentieren, dass angesichts der globalen Herausforderungen für die NATO auch ihre Mitgliedschaft global sein sollte. Neben den traditionellen pazifischen Partnern Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea werden in Washington auch Israel, Südafrika, Georgien und die Ukraine als mögliche Beitrittskandidaten gehandelt. Diese "neue NATO" wäre dann jedoch kein Bündnis und keine Wertegemeinschaft mehr sondern realistischerweise eine Art "Dauerpool" von Koalitionen der Willigen unter amerikanischer Führung. Mit Antritt der Obama-Regierung scheint das Thema "globale NATO" mittlerweile vom Tisch und es schält sich ein Konsens heraus, wonach die NATO eine regionale Allianz mit globaler Reichweite bleiben soll. Es ist kontraproduktiv allein aus der Wahrnehmung einer vermeintlichen Sinnkrise der NATO geradezu zwanghaft nach "neuen Missionen" für das Bündnis zu suchen. Die Allianz hat mit ihren derzeitigen Aufgaben genug zu tun und erfüllt zudem eine Reihe unverzichtbarer Funktionen für den europäischen Sicherheitsraum ? wie die sicherheitspolitische Einbindung der USA, Deutschlands und Russlands, die Stabilisierung des Balkans, die Förderung kooperativer Sicherheitsbeziehungen mit 46 Partnern, sowie last but not least die Verhinderung einer Renationalisierung der Verteidigung.
Dabei sollte man völlig legitime und verständliche Debatten über den zukünftigen Kurs der NATO nicht mit grundlegenden Streitigkeiten über den Wert des Bündnisses verwechseln, der bis heute von den Mitgliedstaaten - einschließlich den USA - nicht ernsthaft in Frage gestellt wird. Ob dies in Zukunft auch der Fall sein wird, bleibt abzuwarten.
Der NATO-Gipfel am 3. und 4. April 2009 in Straßburg, Kehl und Baden-Baden könnte jedenfalls ein Ende der Agonie einleiten, in der sich das Bündnis seit dem 11. September 2001 befindet. Die neue US-Administration, die Rückkehr Frankreichs in die militärische Integration, die Wiederaufnahme der Arbeit im NATO-Russland-Rat, die Erweiterung um Kroatien und Albanien sowie der erwartete Auftrag für die Erarbeitung eines neuen strategischen Konzeptes signalisieren einen Neuanfang. Zum ersten Mal seit Jahren spürt die NATO wieder so etwas wie Aufwind. In den kommenden Monaten werden sich die dann 28 Bündnispartner dem Realitätstest stellen müssen und der Frage, welche konkreten Auswirkungen die von Amerikanern wie Europäern beschworene neue Harmonie in den transatlantischen Beziehungen für die Zukunft der NATO hat. Ein zentrales Thema des anstehenden Jubiläumsgipfels wird ohne Zweifel Afghanistan sein.
Entscheidet sich in Afghanistan die Zukunft der NATO?
Das von Richard Lugar geprägte Bonmot, die NATO müsse "out of area or out of business" gehen hat sich nicht bewahrheitet. Die NATO ist zwar längst "out of area ", aber die Geschäfte laufen schlecht - vor allem in Afghanistan, aber auch der Balkan ist alles andere als befriedet. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht Wenige das Schicksal der NATO sich in Afghanistan erfüllen sehen. Scheitert die NATO in Afghanistan ist das jedoch noch lange nicht das Ende des Bündnisses. Es ist deshalb nicht nur falsch, sondern ausgesprochen töricht, die Existenz der NATO vom Erfolg ihres Einsatzes in einem unterentwickelten Land ohne staatliche Strukturen abhängig zu machen. Zudem hängt der Erfolg der NATO bei der Stabilisierung Afghanistans stark von nichtmilitärischen Institutionen (Vereinte Nationen, EU, Weltbank) ab, auf deren Handeln die NATO nur sehr begrenzten Einfluss hat. Kooperation miteinander und untereinander ist zwar das Gebot der Stunde, stellt sich in der Praxis aber viel schwieriger dar, als in den wohlfeilen Konzepten von der vernetzten Sicherheit erdacht.
Auf dem NATO-Gipfel haben sich jetzt die neue US-Regierung und ihre Verbündeten auf einen Strategiewechsel geeinigt, um die immer schlimmer werdende Sicherheitslage am Hindukusch doch noch zu meistern: erstens mehr Bodentruppen und stärkere Anstrengungen für den zivilen Wiederaufbau und zweitens ein "regionaler Ansatz" d.h. die Einbindung der Nachbarn in die Stabilisierungsbemühungen. Auch die Ernennung von Richard Holbrooke als Sonderbeauftragter für Afghanistan und Pakistan zeigt die Bedeutung, die die neue US-Regierung der Region zumisst. Darüber hinaus will Obama - nach dem Erfolgsbeispiel im Irak - die Aufständischen spalten, indem die Amerikaner ?gemäßigte Taliban? mit Geld und Gesprächsbeteiligung ködern. Ein Vorschlag für den im Übrigen vor einem Jahr Kurt Beck von den selbst ernannten sicherheitspolitischen Experten der Union und in der Presse seinerzeit mit Hohn und Spott überhäuft wurde.
Ein neues strategisches Konzept?
Erwartungsgemäß haben die 28 Staats- und Regierungschefs die Erarbeitung eines neuen strategischen Konzeptes in Straßburg, Kehl und Baden-Baden in Auftrag gegeben. Die Bündnispartner haben ihre Strategiekonzepte nicht oft geändert: 1952, 1967, 1991 und 1999. Das noch immer gültige strategische Konzept der NATO ist mittlerweile zehn Jahre alt und auf dem 50-jährigen Jubiläumsgipfel in Washington verabschiedet worden. Eine Anpassung an die Herausforderungen der Gegenwart ist für viele überfällig. Diese sind mit den Stichworten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, atomares Wettrüsten, Cyberterrorismus, Klimawandel, Ressourcenknappheit, Energiesicherheit, Staatszerfall und asymmetrische Konflikte beschrieben. Schon anhand dieser Aufzählung wird deutlich, dass die sicherheitspolitische Herausforderungen, denen sich die NATO-Mitglieder gegenübersehen zunehmend nichtmilitärischer Natur sind. Die neuen Bedrohungen machen das Militär zwar nicht überflüssig, aber sie marginalisieren es.
Fest steht nur eins: Zur westlichen Schicksalsgemeinschaft des Kalten Krieges führt kein Weg zurück. Auch die strategischen Neuorientierungen der jüngsten Jahre beiderseits des Atlantiks - drüben Hegemonie durch militärische Überlegenheit, hier die Utopie der Zivilmacht - sind gescheitert; zumindest in der reinen Lehre. Wenn die Nordatlantische Allianz auch in den kommenden Jahrzehnten noch relevant sein will, braucht sie ein einleuchtendes strategisches und politisches Konzept. Die meisten Mitglieder sind sich mittlerweile durchaus darin einig, dass die NATO wieder zum Hauptforum transatlantischer Debatten über globale Sicherheitsprobleme werden muss - eine Forderung, für die der damalige Bundeskanzler Schröder während der Münchener Sicherheitskonferenz 2005 noch heftig gescholten wurde.
Es ist deshalb durchaus vernünftig eine internationale Expertengruppe einzusetzen, die ein neues politisches und strategisches Konzept erarbeitet, das jedoch mehr sein muss als eine Ansammlung von Beschwörungsformeln zur transatlantischen Freundschaft. Aufgabe dieses neuen "Harmel-Berichtes" wäre es, das Verständnis einer erneuerten transatlantischen Partnerschaft zu entwickeln und die Rolle der Allianz in einer veränderten Welt zu definieren. Dazu gehört auch eine engere Abstimmung mit der EU, den Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und den G-8 bzw. den G-20. Damit würde auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Stabilisierung in Konfliktregionen sich nicht auf die militärische Absicherung beschränken darf, sondern auch die politische, diplomatische, ökonomische und rechtliche Dimension berücksichtigen muss. Dennoch: Für militärische Operationen, die Amerikaner und Europäer gemeinsam unternehmen, bleibt die NATO alternativlos. Gemeinsame Stäbe, Doktrinen, Übungen und inzwischen mehr als ein Jahrzehnt Einsatzerfahrung sorgen dafür. Davon ist die EU noch weit entfernt.
Eines ist jedenfalls klar: Ohne eine couragierte strategische Neuausrichtung wird die NATO vermutlich zu einem sicherheitspolitischen Debattierclub mutieren. Gebraucht wird deshalb eine Strategie, die auf Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle setzt - nicht nur mit Russland, sondern auch mit den großen globalen Partnern in der neuen multipolaren Weltordnung. Dabei geht es auch um eine realistische Einschätzung dessen, was die NATO leisten soll und vor allem kann. Will die NATO überleben, wird sie sich bescheiden müssen.
Die NATO ist keine globale Allianz und kann daher nicht anstelle der UNO zur Weltpolizei werden - zumal nur der UN-Sicherheitsrat Militäreinsätze legitimieren kann und darf. Aber sie bleibt eine regionale Allianz mit globalen Aufgaben, die ihre Dienste anbieten und ihre Kernfunktion - Schutz für ihre Mitglieder - wahrnehmen kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn sich die NATO-Staaten einig sind, können sie den Kern globaler Koalitionen bilden, wenn sie uneins sind, gibt es keine globalen Koalitionen.
Die Schwäche des europäischen Pfeilers und die Rückkehr Frankreichs
Auch wenn die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) noch im Aufbau steckt, sind doch erhebliche Fortschritte erreicht worden. Darauf wird sich auch eine neue NATO-Strategie einstellen müssen. Die institutionellen Beziehungen zwischen beiden Organisationen müssen dringend verbessert und effektiver werden. Hier gibt es einige Hindernisse, die aus dem Weg geräumt werden müssen.
Dabei sollten sich die Europäer durchaus auch an die eigene Nase fassen. In der Tat war es in jüngster Zeit weniger der lange Arm Washingtons, der die Europäer daran hinderte, sicherheitspolitisch und militärisch voranzugehen. Vielmehr verlangsamte die Uneinigkeit auf dem alten Kontinent fast alle größeren Bemühungen. Zu nennen sind hier in erster Linie die Türkei und Zypern, die seit Jahren wegen des Zypern-Streits eine Annäherung der NATO und der Europäischen Union in Sicherheitsfragen verhindern.
Auch ist mittlerweile offensichtlich, dass die USA ihr weltpolitisches Interesse an Europa und der NATO - entgegen mancher Voraussagen - nicht verlieren werden. Dafür spricht, dass die Allianz mittlerweile genau die Eigenschaften entwickelt hat, die von Washington immer gefordert wurden: nämlich militärisch nutzbar und weltweit einsetzbar zu sein. Damit wird der NATO unter Obama als effizientes und werteorientiertes Bündnis Gleichgesinnter wieder eine wichtige Funktion in der amerikanischen Globalstrategie zugewiesen. Gleichzeitig verhindert der Grundsatz, dass alle Entscheidungen im Bündnis einstimmig getroffen werden müssen, einen Missbrauch der Atlantischen Allianz als Weltpolizist.
Ein weiterer Erfolg, der von Paris auf dem Gipfel mit gebührendem Aplomb gefeiert und inszeniert wurde, ist die Rückkehr Frankreichs in die integrierte Militärstruktur der NATO. Die Zusage, dass zwei wichtige Kommandoposten der Allianz - für das strategische Hauptquartier der NATO in Norfolk und das Hauptquartier der schnellen Reaktionskräfte in Lissabon - mit französischen Generälen besetzt werden sollen, hat den Weg frei gemacht und die Forderung Frankreichs erfüllt, in der NATO seinem Rang gemäß berücksichtigt zu werden. Damit wird ein Sonderstatus beendet, der seinen Anfang im März 1966 nahm, als General de Gaulle die französischen Truppen aus der alliierten Kommandostruktur herausnahm und deren Hauptquartier des Landes verwies. Ein einfacher Partner für Amerika und die NATO wird Frankreich auch künftig nicht werden. Denn mit oder ohne Sonderstellung wird es selbstbewusst an seiner Vorstellung von nationaler Größe und Selbstbestimmung festhalten.
De facto hat Paris seine Rückkehr in die NATO schon längst vollzogen. Bereits heute sind die Franzosen an 90 Prozent aller NATO-Operationen beteiligt und in 36 von 38 NATO-Militär-Komitees vertreten. Da Paris schon seit längerem wieder einen Vertreter in den Militärausschuss entsendet und auch der französische Verteidigungsminister an NATO-Treffen teilnimmt, geht es bei der feierlichen Rückkehr Frankreichs im Grunde nur noch um die Mitwirkung im Ausschuss für Verteidigungsfragen und um die Nukleare Planungsgruppe.
Die Grenzen der Erweiterungspolitik
An seinem 60. Geburtstag wurde das Bündnis von 26 auf 28 Staaten erweitert: Kroatien und Albanien wurden in die Allianz aufgenommen, wobei das NATO-Mitglied Slowenien bis zuletzt wegen eines Grenzstreits den Beitritt seines Nachbarlandes Kroatien zu blockieren drohte. Die Posse um den Namen des künftigen Mitgliedslandes FYROM, das Mazedonien heißen will und nicht darf, weil Griechenland sein Alleinerbe auf Alexander den Großen in Gefahr wähnt, fand auch auf dem Jubiläumsgipfel kein Ende. Mazedonien bleibt also lediglich Beitrittskandidat. Zudem wurde deutlich, dass Obama eine baldige NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgien weniger vehement verfolgen wird als sein Vorgänger. Es gilt daher die Beschlusslage des NATO-Gipfels von Bukarest im April 2008: privilegierte Beziehungen, aber keine überstürzte Mitgliedschaft. Andererseits hat die Bukarester Gipfelerklärung auch unmissverständlich festgestellt, dass die Frage einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine keine des "ob", sondern lediglich des "wann" ist.Die diversen Erweiterungsrunden sind seit langem ein fester Tagesordnungspunkt der NATO-Gipfel seit 1990. Entscheidend sind dabei vor allem zwei Fragen: Wo soll die NATO enden und wie kann der Schutz der Neumitglieder gewährt werden? Die Antwort auf die erste Frage ergibt sich für die meisten Europäer eindeutig aus Artikel 10 des NATO-Vertrages. Dort heißt es, dass die NATO "jeden anderen europäischen Staat" zum Beitritt einladen könne, sofern er die Zustimmung aller findet. Demnach bliebe die NATO auf Dauer ein europäisches Bündnis mit den zwei nordamerikanischen Mitgliedern USA und Kanada. In den USA mehren sich hingegen seit Jahren die Stimmen, nach einer globalen NATO, die durch ihre Ausdehnung in die Kaukasusregion die Sicherheits- oder Energie-Interessen ihrer Mitglieder wirkungsvoller vertreten könne. Ähnlich würde nach dieser Logik eine Aufnahme Israels in die NATO die Stabilität im Nahen Osten verbessern. Auch eine NATO-Norderweiterung um Finnland und Schweden wird vor dem Hintergrund der wachsenden strategischen Bedeutung des Nordens -Stichwort: Rohstoffvorkommen der Arktis - mittlerweile wieder verstärkt diskutiert. Es bleibt insofern abzuwarten, ob und welche Staaten zur NATO der 28 noch dazu kommen werden.
Sicherheit mit oder vor Russland?
Ein Dauerbrenner jedes NATO-Treffens ist naturgemäß das Verhältnis zu Russland Ist Russland der neue Freund oder der alte Feind? Die NATO-Politik kann sich bis heute nicht entscheiden und verharrt in Doppeldeutigkeit. Nach dem Regierungswechsel in Washington hat sich die Lage zwar vorerst etwas entspannt, es bleibt aber das Grundsatzproblem, dass die NATO einst als Bollwerk gegen die Sowjetunion gegründet wurde und die neuen NATO-Mitglieder kein Geheimnis daraus machen, dass sie das Bündnis sehr wohl nach wie vor in erster Linie als Schutzwall gegenüber dem übermächtigen Nachbarn betrachten.
Russland hingegen schätzt es ebenso wenig wie andere Großmächte, wenn man ihm zu nah auf den Leib rückt. Das mag altes Denken sein - aber es ist nun mal das Denken einer Großmacht, als die sich Moskau immer noch sieht. Sollten mit der Ukraine und Georgien Staaten, die entweder Teil des alten Russlands waren, oder in schwere ethnische und geografische Konflikte mit ihm verstrickt sind, nun tatsächlich in die NATO aufgenommen werden, stellt die Frage nach der Legitimität eines solchen Handelns. Und wären die NATO-Partner im Ernstfall wirklich dazu bereit, mit militärischen Mitteln die territoriale Integrität Georgiens zu schützen? Wird Deutschland in Zukunft nicht nur am Hindukusch, sondern auch in Südossetien verteidigt? Fragen, die durch den Georgien-Krieg an zusätzlicher Brisanz gewonnen haben und von den meisten Bündnispartnern wohl mit einem klaren "Nein" beantwortet werden würden.
Ungeachtet der öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen war die Zusammenarbeit zwischen Russland und der NATO bis zum Georgien-Krieg besser und enger als in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Zu den zahlreichen Kooperationsfeldern gehören gemeinsame Übungen, gemeinsame Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung und zur Streitkräfteplanung. Zudem war es zweifelsohne ein Fehler als Reaktion auf den Krieg im Südkaukasus die Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat auszusetzen und sich damit das Mittel zu nehmen, das für das Management solcher Krisen eigentlich geschaffen wurde. Fast sieben Monate nach dem Georgien-Krieg hat der NATO-Russland-Rat zum Ärger vieler Osteuropäer am 04. März seine Arbeit formell wieder aufgenommen. Dies ist nicht nur uneingeschränkt zu begrüßen, sondern ein längst überfälliger Schritt. Der NATO-Russland-Rat darf kein "Schönwettergremium" sein. Gerade in schwierigen Perioden und Krisen - wie während des Krieges im Kaukasus - hätte man ihn, statt auf Eis zu legen, als operatives Instrument der Krisenbewältigung nutzen müssen.
Das Ende der Eiszeit zwischen Russland und der NATO hängt dabei nicht nur mit der neuen US-Administration zusammen, sondern hat durchaus pragmatische Gründe. So wächst bei beiden Seiten die Erkenntnis, dass man sich braucht. Die USA sorgen sich um ihre Nachschubrouten nach Afghanistan, sind zur Abrüstung ihrer Atomraketen bereit (deren Unterhalt 50 Milliarden Dollar pro Jahr kostet), locken mit einem Deal -Zusammenarbeit gegen die Nuklearambitionen des Iran gegen den Verzicht auf einen US-Raketenschild in Europa - und wollen den gemeinsamen Kampf gegen den Terror verstärken. Putin wiederum hat erkannt, dass eine Strategie, die auf hohe Öl- und Gaspreise setzt, angesichts der dramatischen Weltwirtschaftskrise verfehlt ist - auch Russland braucht Hilfe. Sogar über eine "neue europäische Sicherheitsarchitektur", wie sie Medwedjew vorschlug, wird nun beraten. Dies macht Hoffnung, dass der NATO-Gipfel auch eine neue Ära der Partnerschaft mit Russland einläuten wird. Ob das für Mai geplante NATO-Manöver in Georgien deshalb der Weisheit letzter Schluss ist, darf mit Fug und recht bezweifelt werden.
Ausblick
Totgesagte leben bekanntlich länger. Die NATO hat jedenfalls bislang nicht nur alle Krisen überstanden, sondern zudem eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit bewiesen. Ob dies in Zukunft ebenfalls der Fall sein wird, bleibt abzuwarten. Prognosen, die den Sturz des Bündnisses in die Bedeutungslosigkeit bzw. dessen Marginalisierung vorhersagen, finden sich ebenso wie jene "Atlantiker", die in der NATO jetzt und für alle Zukunft das zentrale Sicherheitssystem sehen. Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen.
Die größte Stärke der NATO, ihre Fähigkeit zur Anpassung, ist mittlerweile auch ihr größtes Problem: Die NATO ist inzwischen zur multifunktionalen Sicherheitsinstitution mutiert unter der jeder etwas anderes versteht: Die Amerikaner eine Antiterroreinheit und einen Werkzeugkasten für multilaterale Ad-hoc-Koalitionen, die (alten) Europäer einen kooperativen Sicherheitsrahmen und eine (womöglich die einzige) Möglichkeit die Politik der USA zu beeinflussen; die Russen ein politisches Koordinationsgremium und die alten und die neuen Beitrittskandidaten ein Verteidigungsbündnis zur Rückversicherung gegen künftige russische Hegemoniebestrebungen. Die große Frage wird deshalb lauten, ob es gelingen kann, die verschiedenen ?Allianzen? auch künftig beieinander zu halten, oder ob die inneren Widersprüche zwischen den verschiedenen NATO-Klonen so groß werden, dass das Bündnis daran zerbricht.
Die NATO wird aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch auch in Zukunft nicht irrelevant werden, dazu erfüllt sie zu viele nützliche Funktionen. Sie wird allerdings als klassischer Militärpakt weiter an Bedeutung verlieren und sich mehr und mehr zu einem politischen Bündnis für die Sicherheitskooperation im euro-atlantischen und eurasischen Raum und zum Werkzeugkasten für multinationale, zumeist US-geführte ("humanitäre") Interventionen wandeln. Während erstere Funktion uneingeschränkt zu begrüßen ist, besteht über Art und Umfang der letzteren Aufgabe zwischen den Bündnispartnern noch erheblicher Diskussions- und Klärungsbedarf. So macht es wenig Sinn, der NATO neue Aufgaben zuzuweisen, die sie überfordern und nahezu zwangsweise zu Zerreißproben führen werden. Es wäre sinnvoller und vernünftiger anzuerkennen, dass das Bündnis nicht mehr die überragende sicherheitspolitische Bedeutung hat, die zu Hochzeiten des Ost-West-Konflikts hatte. Es besteht deshalb jedoch kein Grund in eine Kalte Krieg-Nostalgie zu verfallen. Die NATO ist nicht identisch mit der Atlantischen Gemeinschaft - sie ist lediglich ein wichtiger Teil davon. Die NATO wird auch künftig keine Rundum Zuständigkeit für die europäische Sicherheit in Anspruch nehmen können. Im Schatten der scheinbar übermächtigen Allianz sind wichtige Projekte nicht bzw. nur unvollständig in Angriff genommen worden: Die Reform der Vereinten Nationen und die Stärkung der OSZE. Es wäre nicht nur wünschenswert sondern dringend notwendig, dass diese mit dem gleichen Elan angegangen würden, wie der Umbau und die Erweiterung des atlantischen Bündnisses.