50 Jahre Schlussakte von Helsinki: Sicherheit geht nur gemeinsam, heute mehr denn je

Am 1. August dieses Jahres jährte sich die Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) in Helsinki zum fünfzigsten Mal. Nur wenige Jahre nach der Kubakrise (1962) und dem gewaltsamen Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei (1968) markierte die KSZE einen bedeutenden Wendepunkt in der Geschichte des Kalten Krieges. Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen ab 1973 insgesamt 35 Staaten aus Ost und West zu einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz zusammen, um über Wege zu einer friedlichen Koexistenz zu beraten. Nach 672 Tagen intensiver Verhandlungen verständigten sich die Teilnehmerstaaten der KSZE schließlich auf ein umfassendes Abschlussdokument, das die künftige Zusammenarbeit in drei zentralen Bereichen regelte: Sicherheit und vertrauensbildende Maßnahmen (Korb I), Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt (Korb II) sowie humanitäre Fragen (Korb III).  

Besonders der dritte Korb erwies sich rückblickend als historisch folgenreich. Gegen den erbitterten Widerstand Moskaus setzte der Westen damals durch, dass auch die Menschen- und Freiheitsrechte in das Abschlussdokument von Helsinki aufgenommen wurden. Für die osteuropäischen Dissidenten und Bürgerrechtler wurde dieses erzwungene Bekenntnis der Regierenden zu universellen Rechten zum Hebel im Kampf um Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Die KSZE trug dadurch nicht nur wesentlich zu einem Abbau der Spannungen im Kalten Krieg bei, sondern leistete einen entscheidenden Beitrag zur schrittweisen Transformation kommunistischer Herrschaft und letztlich zur friedlichen Überwindung des Ost-West-Konflikts.

Mit dem Ende des Kalten Krieges erwuchs aus dem KSZE-Prozess schließlich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE). Die Charta von Paris weckte Anfang der 1990er Jahre zunächst große Hoffnungen auf ein „neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ in Europa. Doch bereits ab der Jahrtausendwende sah sich die OSZE mit einem schleichenden Bedeutungsverlust konfrontiert. Für die abnehmende Relevanz der OSZE gab es vielfältige Gründe: Die Konkurrenz durch andere Akteure, die resultierende Prioritätensetzung der Staaten zu Gunsten von NATO und EU, die Lähmung der Organisation durch die Spaltung zwischen Russland und dem Westen sowie ein unscharfes Profil und eine geringe Sichtbarkeit nach außen. Gleichzeitig wuchs das Desinteresse ehemaliger Antreiber der OSZE, da in ihrem Innern nationale Egoismen, Abschottung und multiple Krisensymptome wuchsen. Die OSZE wurde nicht mehr als belastbare Plattform angesehen und stattdessen zu einem punktuell einsetzbaren Instrument für begrenzte außenpolitische Ziele, hauptsächlich in Regionen, in denen weder die EU noch die NATO auftreten konnte oder wollte. In der öffentlichen Wahrnehmung wie auch bei politisch Verantwortlichen geriet die Organisation zunehmend aus dem Blickfeld.

Erst mit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 geriet die OSZE mit der Einrichtung einer Sonderbeobachtermission (Special Monitoring Mission) und der Bildung einer trilateralen Kontaktgruppe vorübergehend wieder verstärkt ins politische Bewusstsein. Doch mit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine stürzte die OSZE erneut in eine schwere Krise. Seither missbraucht Russland das Konsensprinzip innerhalb der OSZE, um grundlegende Entscheidungen zu blockieren. Ein regulärer Jahreshaushalt konnte zuletzt im Jahr 2021 verabschiedet werden und auch die Sonderbeobachtermission in der Ukraine lief zum 31. März 2022 aus, da Moskau seine Zustimmung einer Verlängerung des Mandats verweigerte.

Der Krieg in der Ukraine und die institutionelle Krise der OSZE stehen sinnbildlich für eine tiefgreifende Krise der liberalen und regelbasierten Ordnung im Ganzen. Weltweit geraten internationale Institutionen zunehmend unter Druck. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist durch das Veto der ständigen Mitglieder in zentralen Fragen weitgehend handlungsunfähig, die Welthandelsorganisation (WTO) ist bereits seit Jahren aufgrund ausbleibender Reformen und der Blockade des Streitbeilegungssystems nur eingeschränkt funktionsfähig und internationale Gerichtsbarkeiten und das Völkerrecht werden immer häufiger offen in Frage gestellt oder gar missachtet.

Auch die globale Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung befindet sich bereits seit vielen Jahren in einer existentiellen Krise. Mit dem Auslaufen des New-START-Abkommens am 5. Februar 2026 droht das letzte verbleibende bilaterale Rüstungsabkommen zwischen Russland und den USA endgültig zu entfallen.

Die Welt befindet sich längst in einem neuen Rüstungswettlauf. Laut dem SIPRI-Bericht 2025 stiegen die weltweiten Rüstungsausgaben 2024 zum zehnten Mal in Folge. Im vergangenen Jahr verzeichnete das Forschungsinstitut sogar den größten Anstieg der Militärausgaben seit dem Ende des Kalten Krieges. Gleichzeitig bleiben neue Technologien wie künstliche Intelligenz, autonome Waffensysteme oder Cyberwaffen weitgehend unreguliert.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wie internationale Institutionen wie die OSZE und andere multilaterale Formate heute noch dazu beitragen können, globale Spannungen abzubauen und gemeinsame Lösungen für globale Herausforderungen zu finden.

Bei der Beantwortung dieser Frage ist es zunächst wichtig, die heutigen politischen Realitäten nüchtern zu beschreiben. Die weltpolitische Lage im Jahr 2025 unterscheidet sich grundlegend von der Situation im Jahr 1975. Anders als damals die Sowjetunion, versucht Russland heute nicht, den Status quo zu bewahren, sondern mit militärischer Gewalt die Grenzen in Europa neu zu ziehen, um seine Einflusssphäre als Großmacht in Osteuropa wiederherzustellen. Zudem sind auch die USA nicht länger gewillt, als „wohlwollender Hegemon“ und Ordnungsmacht aufzutreten. Vielmehr legen sie unter Donald Trump selbst die Axt an der multilateralen und regelbasierten Ordnung mit an. Gleichzeitig ist die Welt heute nicht mehr bi- sondern multipolar mit unterschiedlichen Machtzentren. Aufstrebende Großmächte wie China und Indien und regionale Akteure wie Brasilien, Indonesien, Israel oder die Türkei drängen in das entstandene machtpolitische Vakuum der USA und der ehemaligen Sowjetunion und versuchen, die globale Ordnung und ihre Institutionen nach ihren Vorstellungen umzugestalten.

Die Abnahme multilateralen Handelns geht zudem einher mit einer globalen Krise der Demokratie. Demokratien sind grundsätzlich aufgeschlossener gegenüber internationaler Kooperation, Institutionen, Regeln und Werten. Mit dem weltweiten Rückgang an Demokratien schwindet auch der Rückhalt für Multilateralismus. Ein weiterer Grund ist der Wandel der globalen Wirtschaftsordnung. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten Kapitalismus und Demokratie noch eine starke Interessengemeinschaft. Heute wird diese Verbindung jedoch zunehmend in Frage gestellt. Autoritäre Herrschaftsformen und kapitalistisches Wirtschaften sind teilweise genauso erfolgreich, wenn nicht sogar im Vorteil. Zugleich fällt es Demokratien immer schwerer, ihren eigenen Anspruch auf Gerechtigkeit, Teilhabe und faire Verteilung im Inneren glaubwürdig einzulösen.

Wir befinden uns derzeit in einer tiefgreifenden geopolitischen Umbruchsphase. Die Nachkriegsordnung, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Ost-West-Konflikts entstanden ist, geht zu Ende und eine neue stabile Ordnung hat sich bislang noch nicht herausgebildet. Tatsächlich könnte es noch Jahrzehnte dauern, bis sich eine multipolare Ordnung neu sortiert hat. Die gegenwärtige Lage ist damit weitaus fragiler, komplexer und unübersichtlicher als sie es während des Kalten Krieges jemals war.

Gerade deshalb ist es heute umso dringlicher, neben glaubhafter Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit auch demokratische Strukturen zu stärken und gemeinsame und verlässliche Regeln und Mechanismen für internationale Zusammenarbeit und friedliche Konfliktlösung zu schaffen. Dabei ist es nicht nötig, das Rad neu zu erfinden. Oftmals würde es ausreichen, bereits bestehende Regeln einzuhalten und Institutionen, falls notwendig, zu reformieren und zu stärken. Zahlreiche internationale Institutionen sind auch heute noch handlungs- und funktionsfähig und tragen maßgeblich zur Sicherung der globalen Ordnung bei. So unterstützt die OSZE trotz der russischen Blockade weiterhin die Ukraine durch freiwillige Beiträge außerhalb des regulären OSZE-Budgets. Zudem bleibt die OSZE die einzige sicherheitspolitische Organisation, in der sowohl Russland als auch die Ukraine, Europa und die USA vertreten sind. Sollte es zu ernsthaften Gesprächen über einen möglichen Waffenstillstand und dessen Einhaltung kommen, könnte der OSZE erneut eine Schlüsselrolle bei der Überwachung des Waffenstillstands und beim Wiederaufbau der Ukraine zukommen.

Auch jenseits Europas zeigt sich, wie dringend kooperative und multilaterale Sicherheitsmechanismen gebraucht werden. Die aktuellen Spannungen im Indopazifik und auf der koreanischen Halbinsel, die wachsenden militärischen Drohgebärden der Volksrepublik China gegenüber Taiwan sowie die jüngsten Kriege im Nahen und Mittleren Osten machen deutlich, dass es auch in anderen Weltregionen an verlässlichen Foren und Mechanismen für Dialog, Transparenz und Vertrauensbildung fehlt. Trotz aller Rückschläge der vergangenen Jahre können die OSZE oder andere regionale Organisationen in anderen Weltregionen weiterhin als Modelle für Vertrauensbildung und Sicherheit dienen.

Aufgrund seiner historischen Erfahrungen mit multilateralen Institutionen wie der OSZE, dem Europarat oder der EU kommt Europa eine besondere Verantwortung bei der Verteidigung und Erneuerung des Multilateralismus zu. Eine regelbasierte und multilaterale Ordnung bleibt auch in einer multipolaren Welt besonders für viele kleine und mittelgroße Staaten von existentieller Bedeutung. Doch viele Länder des Globalen Südens fühlen sich im gegenwärtigen Gefüge internationaler Institutionen nicht angemessen repräsentiert. Ihre Interessen finden in Gremien wie der UNO, der WTO oder der Weltbank oftmals nur begrenzte Aufmerksamkeit. Europa muss diese berechtigten Anliegen ernst nehmen und aktiv daran mitwirken, die multilaterale Ordnung inklusiver und gerechter zu gestalten. Gleichzeitig sollten wir dazu beitragen, bestehende regionale Organisationen wie ASEAN und die Afrikanische Union stärker für gemeinsame Initiativen zu gewinnen und ein unverkrampftes, aber kritisches Verhältnis zu Institutionen wie den BRICS und der Shanghaier Sicherheitskooperation zu finden.

Dafür muss der Westen auch das Gespräch mit schwierigen Partnern wie China und anderen autoritären Staaten suchen. Auch schwierige Partner in multilaterale Ansätze einzubinden, ist keine Prinzipienlosigkeit, sondern Einsicht in das Machbare und in die Erkenntnis, dass Druck allein keine Verhaltensänderung bewirken kann. Ob wir es wollen oder nicht: Die großen Menschheitsaufgaben wie Rüstungskontrolle, die Bekämpfung der Klimakrise und Pandemien sowie die Regulierung neuer Technologien können nur gemeinsam bewältigt werden. Multilaterale Formate und ein umfassendes und kooperatives Sicherheitsverständnis, wie es in der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris verankert ist, bleiben dafür unerlässlich. Ansonsten droht eine fragmentierte und konfrontative Ordnung, in der ausschließlich das Recht des Stärkeren gilt.

 

Dr. Rolf Mützenich gehört seit 2002 dem Deutschen Bundestag an. Er war von 2019 bis 2025 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
KSZE OSZE
Veröffentlicht: 
01.09.2025