Die Zukunft der Türkei in der Europäischen Union

An der Diskussionsrunde zum Thema "Zukunft der Türkei in Europa" beteiligten sich folgende Experten: Heinz- Jürgen Axt, Professor an der Universität Duisburg-Essen, Zafer Mese, Sprecher des Deutsch-Türkischen Forums in der CDU, Rolf Mützenich, Mitglied des Deutschen Bundestags für die SPD, Kemal Sahin, Unternehmer und Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Handelskammer und Peter Trube, Betriebsrat und Kulturmittler bei ThyssenKrupp Steel in Duisburg.

Wenn nach Beendigung der Beitrittsverhandlungen die Türkei Mitglied der Europäischen Union ist, werden sich beide verändert haben, die EU und die Türkei - und zwar deutlich. Dies war auf eine abstrakte Formel gebracht der Gesamttenor der Podiumsdiskussion. Bisweilen ist es aber schwierig, die notwendigen Veränderungen genau zu benennen, weil die Diskussion um den Beitritt der Türkei in einer bisweilen emotionsgeladenen Atmosphäre stattfindet. Das kommt dann auch in ganz anderen Zusammenhängen hoch. Rolf Mützenich erinnerte an eine Schlagzeile der Bild-Zeitung vom 15. September 2005, also drei Tage vorder Bundestagswahl: "Entscheiden 600.000 Türken die Wahl?" - Letztlich, so Mützenich - sei das ausländerfeindlich gewesen. Emotionen und Vorurteile müssen aus Sicht des Abgeordneten aus der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei herausgenommen werden.

Wie versucht werden kann, Fragen sachlich zu debattieren, wurde dann auch in der Diskussion demonstriert. Ein Teilnehmer erklärte, für ihn sei es im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen von zentraler Bedeutung, dass in der Türkei die volle Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Frauen durchgesetzt werden müsse. Hier müsse es zu einer Situation kommen, dass die Standards dem europäischen Niveau angepasst werden. Das heißt allerdings nicht, dass bei der Umsetzung der Standards Deutschland als leuchtendes Vorbild dienen könnte, es gebe schon noch genug Hausarbeiten. Das ändere aber nichts daran, dass Gleichberechtigung eine wesentliche Voraussetzung für den EU-Beitritt der Türkei sein müsse.

Ein anderer Teilnehmer ergänzte: Wenn er in der Türkei gefragt werde, wie die Entscheidung über den Beitritt ausfallen werde, ist seine Antwort klar: Wenn wir in die EU wollen, müssen wir die Frauen in Europa gewinnen, die stellen nämlich die Mehrheit. Und die Frauen in Europa können wir nur dadurch gewinnen, dass wir unsere Frauen in der Türkei gleichbehandeln.

Diese Gleichberechtigung - so eine weitere Ergänzung - sollte nicht nur auf die Frauen in der Türkei bezogen werden, sondern auch auf die hier lebenden Frauen aus der Türkei, was ja eigentlich auf Grund der hier geltenden Gesetze selbstverständlich wäre. Seines Wissens ist die Entwicklung in der Türkei zumindest in den Metropolen sehr viel weiter als unter den Migrantinnen hier.

Hier fühlte sich eine junge Diskussionsteilnehmerin angesprochen. Zunächst einmal gebe es zum Thema Frauenrechte in der Türkei ein positives Beispiel. Dort gibt es mehr Professorinnen als in Deutschland. Das bedeute nicht, dass die Situation in Ordnung sei - im Gegenteil. Nur müsse genau argumentiert werden. Wenn sie sich die Diskussionen im Rahmen der so genannten Kopftuchdebatte ansehe, war es schon sehr merkwürdig, welche Leute auf einmal Frauenrechtler waren. Vorher hätten sie Pickel bekommen, wenn sie nur das Wort Quote gehört haben. Ihrer Meinung nach solle man es akzeptieren, wenn jemand ein Kopftuch tragen möchte, obwohl sie wisse, dass das in der Türkei anders ist. Kein Mann oder keine emanzipierte Frau habe das Recht, zu einer Betreffenden zu sagen: Das ist nicht gut. Du bist doch eine starke Frau, du darfst kein Kopftuch tragen. Das gehe nicht.

Zafer Mese griff die Frage Kopftuch auf, ging aber zunächst auf die angesprochene unterschiedliche Entwicklung in der türkischen Gesellschaft und in der türkischen Community in Deutschland ein. Das Deutsch-Türkische Forum koordiniert auch die Zusammenarbeit der CDU mit der türkischen Regierungspartei AKP. Bei einem entsprechenden Treffen hat ein Deutschlandexperte der AKP erklärt, die in Deutschland lebenden Türken repräsentieren nicht den aktuellen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung in der Türkei. Das habe ihn - so Mese - zunächst einmal brüskiert, schließlich sei er hier geboren und aufgewachsen. Und da kommt jemand aus der Türkei und sagt: Wir sind viel weiter als ihr. Allerdings habe er recht, weil die Türken in Deutschland eher abgeschottet leben und sich nicht im Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft weiterentwickelt haben.

In Bezug auf das Kopftuch verwies Mese auf eine interessante Entwicklung in der Türkei. In anatolischen Regionen hat das Kopftuchtragen eine lange Tradition. Viele Menschen aus diesen ländlichen Regionen sind in die Städte gezogen. Die Eltern aus diesen patriarchalischen Familien haben ihren Töchtern eher erlaubt, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und öffentliche Funktionen zu übernehmen, wenn sie diese traditionelle Sitte aus den ländlichen Regionen übernommen haben. Das hat dazu geführt, dass in vielen Verbänden oder Nicht-Regierungsorganisationen Frauen aktiv sind, die Kopftuch tragen. Wenn man so will haben sich Frauen dadurch den Weg in Berufstätigkeit und gesellschaftliches Engagement dadurch ermöglicht, dass sie ein Kopftuch angezogen haben.

Die Debatte in Deutschland ist für Zafer Mese eine ziemlich leidige Erfahrung.Wenn auf Bundesparteitagen der CDU Delegierte ausländlich konservativen Regionen das Thema ansprechen, und er antwortet,es komme darauf an, was im Kopf ist und nicht auf dem Kopf, findet dasnicht unbedingt Anklang. Im Fall von Frau Ludin hat das Deutsch-Türkische Forum den Parteifreunden in Baden-Württemberg gesagt, sie sollten kein allgemeines Gesetz machen, sondern das Prinzip der Einzelfallentscheidung anwenden. Da können zum Beispiel lokale Gegebenheiten berücksichtigt werden. Dann können die einen sagen: Für uns ist das kein Problem, andre sagen: Wir wollen das nicht. Die ideologische Debatte, die um das Kopftuch geführt wurde - so Mese - hatnicht unbedingt zur Akzeptanz und zur Vertiefung der Integration in Deutschland beigetragen.

Auch Kemal Sahin griff das Thema Frauenrechte auf. Vom Gesetz her gibt es eine Gleichstellung, zum Teil schon sehr lange. So wurde das Wahlrecht bereits unter Atatürk eingeführt. Die Schwierigkeiten liegen in sehr unterschiedlichen Entwicklungen in den Metropolen und auf dem Land. Unter den Studierenden in der Türkei sind über 50 Prozent junge Frauen. Ein anderes Beispiel: In Sahins Unternehmen in der Türkei gibt es vier Generalmanagerinnen - das sind die höchsten Positionen von Firmen. Das zeigt, dass viele Familien ihre Töchter unterstützen, damit sie in Führungspositionen aufsteigen können. In ländlichen Gebieten hingegen sind Frauen und Mädchen benachteiligt. Aber es ist ein Thema in der Öffentlichkeit und es gibt Initiativen, das zu ändern. So wurde eine Stiftung ins Leben gerufen, die sich aktiv dafür einsetzt, dass Mädchen in ländlichen Regionen in die Schule gehen.

Eine Bilanz dieses Teils der Debatte: Gleichberechtigung ist für dieTürkei auf dem Weg in die EU ein wichtiges Thema. Allerdings muss die Situation differenziert betrachtet werden.

Die Diskussion um Gleichberechtigung für türkische Frauen und die EU-Perspektive des Landes werden in der Gesellschaft allerdings selten sehr differenziert geführt. Und wenn dann gegen eine Demonstration zum Frauentag von der Polizei mit Schlagstöcken vorgegangen wird - so geschehen im März 2005 -, ist das am nächsten Tag ein Thema im Betrieb. "Ihr prügelt eure Frauen zusammen. Und so was will in die EU." So eine Äußerung gegenüber einem türkischen Kollegen. Das ist dann ein Moment, in dem Peter Trube, Betriebsrat bei ThyssenKrupp Steel eingreift. Das ist seine Aufgabe als Betriebsrat. Er schlichtet, erklärt, dass Pauschalierungen nicht gehen und so weiter.

Und dann steht er ein wenig vor einem Scherbenhaufen, zu dem eine andere Aufgabe, die er ausfüllt, geworden ist. Er ist einer von derzeit 70 Kulturmittlern im Unternehmen. Sie wurden dafür ausgebildet, Konflikte, deren Ursache kulturelle Unterschiede sind zu erkennen und zu deren Lösung beizutragen. Und sie werben im Betrieb für ein gegenseitiges Verständnis zwischen den Kulturen.

Im Großen und Ganzen funktioniert die Integration im Betrieb gut, berichtet Peter Trube, auch weil sie als Aufgabe nie infrage gestellt wurde. Mit dem Einsatz der Kulturmittler wird der bisherige Ansatz, klar zu machen, dass alle aufeinander angewiesen sind, erweitert. Es geht auch um das Erkennen von Ursachen von Konflikten, was im Übrigen für das Alltagsleben außerhalb des Betriebs gleichermaßen von großem Nutzen ist.

Das Verständnis für unterschiedliche Kulturen ist gewachsen und es wird entsprechend Rücksicht genommen. Bei einem Jubiläum findet auf dem Werksgelände ein kleines Grillfest statt, dann ist es klar, dass die Bratwürste aus Rindfleisch sind. Trube nennt ein anderes Beispiel: In der Produktion bei ThyssenKrupp gibt es ein Vollkonti-Schichtsystem. Am Heiligen Abend wollen die meisten deutschen Beschäftigten aus der Mittagsschicht frei haben. Da arbeiten dann fast ausschließlich Türken. Zum muslimischen Opferfest war es umgekehrt, da haben die Deutschen gearbeitet. Die Betroffenen tauschen die Schichten untereinander, damit die anderen feiern können. Für Peter Trube ist das ein Stück gelebte Integration. Und er findet, die Gesellschaft könnte von diesen Erfahrungen der Arbeitswelt lernen. Es läuft meist andersherum. Da wird das Erreichte zumindest kurzfristig wieder beeinträchtigt durch "das Zeug, was da reinschwappt", so Trube.

Das Problem, dass von außen etwas "reinschwappt", also Diskussionen mit sachfremden oder emotionalen Fragen belastet werden, ist bei der Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei öfter der Fall. Gleichwohl kommt man im Interesse eines Fortschritts bei den Verhandlungen nicht umhin, schwierige Sachverhalte zu diskutieren.

Verantwortliche Politikerinnen und Politiker, so Rolf Mützenich, sollten sich in absehbarer Zeit einmal darüber unterhalten, ob dasVerständnis von Nationalismus, wie es in der Türkei besteht, mit der Politik der Europäischen Union in Einklang zu bringen ist. Entscheidend sei die Frage, ob es der Türkei gelingt, im Rahmen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nationale Prinzipien dem unterzuordnen. Es kommt aus Sicht von Rolf Mützenich auf die Entscheidungsträger in der Türkei und auf die Menschen an, darüber nachzudenken und zu diskutieren. Von außen könnten zwar Anregungen kommen und ein Diskussionsprozess könnte begleitet werden, beantwortet werden muss die Frage einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der Türkei.

Kemal Sahin sieht eigentlich kein Problem mit nationalistischen Haltungen in der Türkei. 70 Prozent der Bevölkerung haben die EU-Normen akzeptiert. Die Rechtspartei im Land bringt es gerade auf sieben, acht Prozent Stimmen. In Österreich oder Frankreich zum Beispiel liegen Haider und Le Pen deutlich darüber. Damit müsse Europa wohl leben.

Dem widersprach Heinz-Jürgen Axt. Nationalismus lasse sich nicht an den Wahlergebnissen für rechte oder rechtsradikale Parteien festmachen. Es gehe auch nicht um deren Auffassung von national. Nationalismus lasse sich sehr schwer anhand von Daten dingfest machen. Aufgrund seiner recht häufigen Besuche in der Türkei und vieler Diskussionen habe er, so Axt, die subjektive Einschätzung, dass es Probleme, zumindest aber heftige Diskussionen geben wird, wenn die Türkei als Mitglied der Europäischen Union oder schon vorher gezwungen ist, einen Teil ihrer Souveränitätsrechte an die Europäische Union abzutreten oder bei Abstimmungen zu akzeptieren, wenn sie unterliegt. Es wird ja in absehbarer Zeit Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat geben. Ob in der Türkei eine Abstimmungsniederlage ohne Weiteres akzeptiert wird, sei ungewiss. Aus der jetzigen Situation heraus, so Heinz-Jürgen Axt, hätte er Bedenken. Man könne das Thema Nationalismus nicht deshalb beiseite schieben, weil es das in anderen Ländern auch gebe. Es müsse diskutiert werden, ob die türkische Gesellschaft bereit ist, Souveränitätsrechte an eine supranationale Europäische Union abzugeben. In der Tat - ergänzte Heinz-Jürgen Axt - haben aber auch andere Mitgliedsländer ähnliche Probleme.

Wie in bestimmten Situationen zuerst auf nationale Interessen geschaut werde, hat aus Sicht von Axt der Irak-Krieg gezeigt. Weder Deutschland noch Polen, noch andere Länder haben eine wirklich überzeugende Rolle gspielt. Alle haben zuerst auf ihre nationalen Interessen geguckt anstatt eine gemeinsame europäische Haltung zu entwickeln, die dann auch den Amerikanern gegenüber wirklich glaubwürdig gewesen wäre.

Dagegen wandte ein Teilnehmer ein, dass man die Frage Nationalismus als Prozess sehen müsse. In den letzten zwei Jahren habe die Türkei in Hinsicht auf Menschenrechte, Minderheitenrechte, Sprachfreiheit und so weiter gewaltige Fortschritte gemacht. Und die entsprechenden Gesetze würden in der Bevölkerung akzeptiert.

Auch Kemal Sahin verwies auf Reformen in der Türkei, die auch eine Zivilisierung einschließen. Die Armee ist zwar nach wie vor eine sehr mächtige Institution, aber auch da gibt es Ansätze für Änderungen. Generalsekretär des nationalen Sicherheitsrates ist inzwischen ein Zivilist, was Kemal Sahin als ermutigend empfindet. Die längere Verhandlungsphase sei wichtig, da die Zivilisierung der staatlichen Apparate vorangetrieben werden kann.

Heinz-Jürgen Axt wollte die Reformen nicht bestreiten. Allerdings müsse man sehen, dass sie bislang ausschließlich oder vorwiegend im türkischen Interesse lagen. Er hatte bei seiner Argumentation Reformen im Auge, bei denen es um europäisches Gemeinwohl geht. Dann werde es spannend.

In einer Erwiderung erklärte ein Teilnehmer, es sei völlig klar, dass die Türkei die EU-Rechtsnormen, die sozialen und politischen Standards voll und ganz übernehmen muss. Allerdings würde der Türkei mehr abverlangt als anderen Beitrittskandidaten. Das störe viele in der Türkei. Sie wollen Gleichbehandlung. Dies könne man nicht als Nationalismus abtun. Er, so Heinz-Jürgen Axt, sehe das etwas anders. Man müsse der Europäischen Union durchaus das Recht zugestehen, bei einem Partner wie der Türkei die Kriterien unter Umständen schärfer zu sehen, als bei einem Partner wie beispielsweise Litauen. Die Türkei habe ein anderes Potenzial. Wenn es gut geht, hat die EU größere Gewinne, wenn es schlecht geht, hat sie höhere Kosten. Das ist etwas anderes als bei einem Land mit ein bis zwei Millionen Einwohnern. Da müsse man schon das Recht haben, genauer hinzusehen. Das müsse nicht bedeuten, dass keine Gleichbehandlung erfolgt. Die Europäische Union betrachtet den Fortschrittsbericht nach den Kopenhagen- Kriterien, und die seien überall angelegt worden.

Ein letzter Diskussionspunkt bezog sich auf die Frage, ob die demografische Entwicklung in Deutschland durch Zuwanderung, etwa aus der Türkei, ausgeglichen werden könne.
Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, ob so die Einzahlung in die sozialen Sicherungssysteme gewährleistet werden könne. Darauf, so Heinz-Jürgen Axt, gebe es aus der Migrationswissenschaft unterschiedliche Antworten. Da gibt es einmal die Position, Migranten sind per se eher junge, qualifizierte Menschen, die dazu beitragen, die sozialen Sicherungskassen zu füllen. Dazu kommt, dass sie eine höhere Geburtenrate haben. Letzteres trifft aber nur begrenzt zu, da auch in der Türkei die Geburtenrate sinkt, was übrigens auch bei den in Deutschland lebenden Migranten zu beobachten ist. Das hieße: Es kämen zwar qualifizierte Menschen arbeitsfähigen Alters nach Deutschland, aber der wichtige Faktor einer nachwachsenden Generation wäre nicht in ausreichendem Ausmaß gegeben.
Die Frage blieb - wie andere auch - offen. Aber eine wichtige Diskussion hat nach Meinung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit der Tagung begonnen.

Autor: 
Von N.N.
Veröffentlicht: 
Köln, 03.07.2006
Thema: 
Podiumsdiskussion in Köln