Liebesgrüße nach Moskau
Die russische Aggression in Syrien spaltet die Koalition. Kanzlerin Merkel liebäugelt mit einer härteren Gangart, CSU und SPD setzen unbeirrt auf Dialog. Die Genossen wollen mit ihrer Russlandpolitik im Wahlkampf punkten.
Am Tag seiner Rückreise aus New York trifft der Außenminister die Kanzlerin zum Mittagessen. Zwei Stunden lang sitzen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier an diesem letzten Montag im September zusammen, um vor allem über eines zu reden: die deutsche Russlandpolitik – oder, genauer gesagt: was von ihr übrig geblieben ist.
Steinmeier hatte am Rande der Uno-Generalversammlung erlebt, wie wenig Interesse Russland an einer friedlichen Lösung des Syrienkonflikts hat. Während er und seine Kollegen hartnäckig versuchten, die Russen an den Verhandlungstisch zu bringen, fielen russische Bomben auf Aleppo und womöglich sogar auf einen Hilfskonvoi der Uno.
Dies stehe "in krassem Widerspruch zu Russlands Behauptung, es unterstütze eine diplomatische Lösung", beschwerte sich Steinmeier zusammen mit seinen Kollegen aus den USA, Frankreich und Großbritannien. Die Geduld des westlichen Quintetts mit Russland sei "nicht unbegrenzt", so die Außenminister.
Die der SPD aber offenbar schon. Merkel hatte nach dem Mittagessen jedenfalls nicht den Eindruck, dass mit Steinmeier und den Sozialdemokraten eine härtere Gangart gegenüber Russland möglich wäre – im Gegenteil.
Noch steht nicht fest, wer die SPD in den Bundestagswahlkampf führt, eine Grundsatzentscheidung ist aber bereits gefallen: Die Genossen wollen sich im Wahlkampf bewusst von der Russlandpolitik des Kanzleramts absetzen und sich auf ihre Tradition als Friedenspartei berufen.
Sie tun das aus alter Überzeugung, aber auch aus taktischen Überlegungen: Große Teile der Bevölkerung, vor allem in Ostdeutschland, fühlen sich Russland näher als den Vereinigten Staaten; viele, auch in Westdeutschland, fürchten einen neuen kalten Krieg. Entsprechend hoch schätzt man in der SPD-Führung die Sympathien der Wähler für die Neuauflage einer Entspannungspolitik mit Moskau ein.
Einen Vorgeschmack liefert die aktuelle Sanktionsdebatte. Amerikaner, Briten und Franzosen werfen Russland mutmaßliche Kriegsverbrechen in Syrien vor, trotzdem erteilen führende SPD-Politiker neuen Strafmaßnahmen gegen Moskau eine Absage. "Ich habe eine ganz grundsätzliche Skepsis gegen neue Sanktionen im Zusammenhang mit dem Syrienkonflikt gegen Russland", sagt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil.
Für Merkel sind das schlechte Nachrichten. Die CDU-Chefin ist im Prinzip dafür, Sanktionen zu verschärfen, wenn Russen und das Assad-Regime Aleppo weiterhin in Schutt und Asche legen.
Allerdings geht bei Horst Seehofer und der CSU die Russlandliebe ähnlich weit wie bei den Sozialdemokraten. "Ich sehe nicht, dass neue Sanktionen Russland zum Einlenken bringen", sagt CSU-Vize Christian Schmidt.
Auch in der EU werben viele Regierungen für eine Revision der Russlandpolitik. Italiens Premier Matteo Renzi hat durchgesetzt, dass beim Abendessen der Staats- und Regierungschefs am kommenden Donnerstag über das Thema gesprochen wird.
Die SPD kann also, innen- wie außenpolitisch, auf mächtige Verbündete setzen, wenn sie sich in den kommenden Monaten beim Thema Russland gegen die Kanzlerin zu profilieren versucht. "Sich auf die Friedenspolitik von Willy Brandt und die Aussöhnung zwischen Ost und West zu berufen, stößt auf ungebrochene Unterstützung", sagt Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der SPD im Bundestag. "Sich trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge für den Dialog mit Moskau einzusetzen, wird von vielen Wählern honoriert."
Schon jetzt würden SPD-Veranstaltungen zur Außenpolitik sehr gut besucht, berichtet der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. "Die SPD sollte sich wie in früheren Wahlkämpfen als die Friedenspartei präsentieren", sagt der Außenexperte. Dass man ein Plädoyer für die Zusammenarbeit mit Moskau mit den Sympathien der Rechtspopulisten von der AfD für den Kremlchef verwechseln könnte, ficht Mützenich nicht an. "Wir biedern uns nicht bei Putin an." Es sei Aufgabe der SPD, "in Zeiten neuer Unsicherheiten politische Auswege aufzuzeigen".
Erwin Sellering, kürzlich wiedergewählter sozialdemokratischer Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, hat die neue Strategie bereits erfolgreich getestet. Noch vor dem Landtagswahlkampf veranstaltete Sellering einen Russlandtag für deutsche Unternehmen und erklärte im Beisein des russischen Industrieministers Denis Manturow und des Vizekanzlers Sigmar Gabriel: "Wir warten gemeinsam ungeduldig darauf, dass die Sanktionen endlich fallen, damit wir an den früheren wirtschaftlichen Austausch wieder anknüpfen können."
Das Verhältnis zu Russland habe sich seit Verhängung der Sanktionen massiv verschlechtert, klagt Matthias Platzeck, ehemaliger SPD-Chef und Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. "Das sollte jeder bedenken, der jetzt neue Sanktionen fordert."
Die SPD glaubt die Mehrheit der Bevölkerung dabei hinter sich. In Umfragen geben regelmäßig mehr als die Hälfte, zum Teil sogar zwei Drittel der Deutschen an, dass die Sanktionen gegen Russland gelockert oder aufgehoben werden sollten. Erstaunlich hoch sind auch die Sympathiewerte für Kremlherrscher Putin. Nach einer Umfrage der "Zeit" von Anfang September vertrauen 29 Prozent der Deutschen dem russischen Präsidenten genauso oder sogar mehr als der Kanzlerin. Unpopulär ist dagegen die Doppelstrategie der Nato aus Abschreckung und Dialog. 63 Prozent der Befragten einer Forsa-Umfrage waren der Ansicht, die Nato solle sich allein auf den Dialog beschränken.
Auch bei der deutschen Wirtschaft, sonst keineswegs natürlicher Verbündeter der SPD, können die Genossen damit punkten. Deutschland ist einer der wichtigsten russischen Handelspartner. Entsprechend drastisch sind die Auswirkungen der Sanktionen. 2014 gingen die Exporte aus der Bundesrepublik um gut 18 Prozent zurück. Im vergangenen Jahr sanken sie um ein Viertel.
Im Frühjahr schlug Steinmeier vor, die Sanktionen gegen Russland "stufenweise" abzubauen und nicht erst, wenn Moskau sämtliche Bedingungen des Minsker Friedensplans erfüllt habe. Wenig später warnte Steinmeier die Nato vor "Säbelrasseln und Kriegsgeheul" gegenüber Russland. "Natürlich nähert sich der Wahlkampf", sagte Steinmeier bei einem Fernsehauftritt im August und verwies auf die Ostpolitik Brandts. "Das wird Sie ja nicht wundern, dass ich gerade als Sozialdemokrat versuche, an Erfahrungen anzuknüpfen, die unser Land sicher gemacht haben."
Die Zeit für den Vorstoß des Außenministers war damals noch günstig. Die Hardliner in der Nato übertrumpften sich kurz vor dem Warschauer Gipfel mit immer neuen Forderungen. Gleichzeitig kam der Minsker Friedensprozess, der den Konflikt in der Ostukraine beilegen soll, nicht voran, auch weil die Ukraine blockierte. Viele suchten nach einem Weg, die Beziehungen mit Moskau zu normalisieren. Zugleich verband sich mit dem russischen Eingreifen in Syrien noch die Hoffnung, dass es zu einer Zusammenarbeit mit dem Westen kommen könnte.
Diese Hoffnung war naiv, wie man heute weiß. Russlands Ankündigung vom März, das Gros seiner Luftwaffe wieder aus Syrien abzuziehen, war nichts als Show. Abgezogene Jets wurden rasch von schweren Kampfhubschraubern abgelöst. Seit dem Ende der Waffenruhe sind immer mehr Jets, die häufiger starten und mehr Bombenlast tragen können, nach Hmeimin, Russlands rasant wachsende Luftwaffenbasis nahe dem eingekesselten Aleppo, verlegt worden.
Seit mutmaßlich syrische oder russische Jets am 19. September den Uno-Hilfskonvoi und ein Warenlager des Roten Halbmonds über Stunden in ein Inferno verwandelten, sind alle Beteuerungen Moskaus, doch verhandeln zu wollen, unglaubwürdig geworden. Allein am Dienstag flogen russische Kampfflieger Angriffe auf zahlreiche Stadtquartiere Aleppos. Sie warfen Splitterbomben ab und schickten jene schweren Sprengkörper, die einst entwickelt worden sind, unterirdische Bunkeranlagen zu durchbrechen.
Diese Monsterbomben vom Typ Betab- 500 haben die letzten Krankenhäuser in Ost-Aleppo getroffen, mehrere von ihnen fast oder gänzlich zerstört, sodass nur noch fünf von ihnen existieren, mit gut zwei Dutzend Ärzten. Für mehr als 250 000 eingekesselte Bewohner Aleppos wird damit die medizinische Notversorgung zur Todesfalle; von den Krankenwagen der Stadt sind laut "Ärzte ohne Grenzen" nur noch elf fahrtüchtig.
In dieser Woche zog Frankreich Konsequenzen. Staatspräsident François Hollande brüskierte Putin, der sich auf einen glamourösen Besuch in Paris eingestellt hatte. Außenminister Jean-Marc Ayrault verkündete, man wolle versuchen, mutmaßliche Kriegsverbrechen Russlands vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag untersuchen zu lassen. Moskau hat das Römische Statut, die vertragliche Grundlage des Tribunals, allerdings nicht ratifiziert.
Im Statut des Strafgerichtshofs werden als Kriegsverbrechen unter anderem aufgeführt: vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte; das vorsätzliche Führen eines Angriffs, der absehbar unverhältnismäßig viele zivile Opfer oder Schäden an zivilen Objekten verursacht; Angriffe auf Gebäude, die nicht militärische Ziele sind; die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen; die Verwendung von Waffen und Methoden der Kriegführung, die überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden verursachen können. Es gibt aufgrund von Zeugenaussagen, Videoaufnahmen und den Überresten von Munition unzählige Indizien dafür, dass Russland mit seinen Luftangriffen in Aleppo solche Kriegsverbrechen begeht. Noch stärker ist die Beleglage für die Verbrechen des syrischen Regimes, das seit Jahren Fassbomben auf Zivilisten abwirft und auch Giftgas eingesetzt hat.
Die Frage für die SPD lautet nun: Soll man im Wahlkampf ernsthaft um Verständnis für einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher wie Putin werben? In der SPD ist viel Nostalgie mit im Spiel. Die Genossen erinnern sich gern an Willy Brandts Ostpolitik. Aus Sicht der Partei war dies die goldene Zeit. Die SPD feierte große Wahlsiege. Brandt führte die Bundesrepublik aus der diplomatischen Sackgasse, in die sie mit der Politik der Nichtanerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze geraten war. Die Entspannungspolitik war erfolgreich, weil sie den Realitäten der Weltpolitik Rechnung trug.
Allerdings wird in der SPD gern vergessen, dass dieser ersten Phase der Ostpolitik eine zweite folgte, die weniger ruhmreich war. Statt in den Achtzigerjahren die entstehenden Demokratiebewegungen in den Ländern des Ostblocks zu unterstützen, setzten führende Sozialdemokraten aus der Opposition heraus auf gute Kontakte zu den autokratischen Regierungen. "Schattenpolitik" nennt der Historiker Timothy Garton Ash dieses Kapitel der SPD-Außenpolitik, das von "prinzipienlosem parteipolitischem Opportunismus" geprägt sei. Anders als zu Brandts Zeiten ignorierten Teile der Sozialdemokratie die sich wandelnde Wirklichkeit.
So gesehen ähnelt die aktuelle Politik der Sozialdemokraten eher dieser zweiten Phase der Ostpolitik als der erfolgreichen ersten. Selbst SPD-Fraktionsvize Mützenich, gegenüber Moskau kein Falke, ging mit den "Entspannungsromantikern" seiner Partei im vergangenen Jahr hart ins Gericht und warnte vor dem "Irrglauben, dass deutsche Ostpolitik alten Stils nach der Krim-Annexion noch möglich sei". Anders als in den Sechziger- und Siebzigerjahren ginge es nicht darum, endlich neue Realitäten anzuerkennen, sondern auf den Expansionsdrang Moskaus zu reagieren.
Merkel ist nicht gegen den Dialog mit Moskau. Aber anders als Steinmeier und die SPD hat sie nie große Hoffnungen in die Kompromissbereitschaft Putins gesetzt. Aus Merkels Sicht haben die Sanktionen gegen Russland in der Ukrainekrise Wirkung gezeitigt. Sie hält weitere Strafmaßnahmen wegen der Bombardierungen in Syrien für überlegenswert. Sanktionen seien "keinesfalls ausgeschlossen, wenn das Morden in Syrien weitergeht", sagt Unions-Fraktionschef Volker Kauder, einer ihrer engsten Vertrauten (siehe Interview Seite 36). Die Kanzlerin weiß allerdings, dass diese Position in der EU gegenwärtig politisch nicht durchsetzbar ist.
In der CDU findet die harte Linie durchaus Unterstützer. Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, fordert, die Sanktionen gegen Russland auszuweiten. Die Staats- und Regierungschefs sollten sie beim nächsten Mal statt um ein halbes gleich um ein ganzes Jahr verlängern. "Das sendet an Putin das klare Signal, dass es der Westen ernst meint", sagt Brok.
Heftig kritisierte Brok Überlegungen der SPD, einen konzilianteren Umgang mit Russland zum Thema im Wahlkampf zu machen. "Auch die SPD muss erkennen, dass angesichts der Lage in Aleppo jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, sein Herz für Russland zu entdecken." EVP-Fraktionschef Manfred Weber forderte die Sozialdemokraten auf, "ihre Appeasement- Politik gegenüber Herrn Putin aufzugeben und endlich klare Position zu beziehen. Ein Kuschelkurs gegenüber Moskau kann nur zum Scheitern führen".
Allerdings ist das Unionslager in der Sanktionsfrage gespalten. CSU-Chef Seehofer hat sich dafür ausgesprochen, die gegen Moskau verhängten Strafmaßnahmen schrittweise aufzuheben. Und auch Merkels Politik ist widersprüchlich.
Die Kanzlerin hat bisher nichts unternommen, um das Pipelineprojekt Nord Stream 2 zu stoppen, mit dem noch mehr russisches Gas direkt nach Deutschland gelangen soll. Dadurch würde die energiepolitische Abhängigkeit der Bundesrepublik von Moskau, die die Kanzlerin angeblich verringern will, noch verstärkt. Die Forderungen nach weiteren Sanktionen wird unglaubwürdig, wenn ausgerechnet die Bundesregierung die Energiegeschäfte mit Russland ausbaut.
Merkel zog sich bislang auf die Position zurück, es handle sich in erster Linie um "ein wirtschaftliches Projekt". So viel Scheinheiligkeit ging sogar dem zur Zurückhaltung verpflichteten EU-Ratspräsidenten Donald Tusk auf den Geist. "Aus meiner Sicht trägt das nicht zur Diversifizierung der Energieversorgung bei", schimpfte er. Nur mit Mühe gelang es Merkel, im vergangenen Dezember einen kritischen Passus zu dem Pipeline-Projekt aus der Gipfelerklärung zu tilgen.
Beim Gipfel am Donnerstag wird nun Italiens Premier Renzi versuchen, die widersprüchliche deutsche Rolle in der Russlandpolitik zum Thema zu machen. Er wirft Merkel Doppelmoral vor: Erst habe die EU die von Italien gewünschte South-Stream-Pipeline verhindert, und jetzt wolle Merkel Nord Stream 2 aus eigenen nationalen Interessen durchsetzen.
Die Bundesregierung aber will bislang an dem Projekt festhalten. Berlin sieht sich im Recht. Weil die Nord-Stream-Röhren von der russischen Ostseegrenze direkt nach Lubmin in Vorpommern führen, habe die EU bei der Frage nicht mitzureden, argumentieren die Juristen in Kanzleramt und Wirtschaftsministerium.
Doch seitdem Putin mit seinen Luftschlägen in Syrien den Westen düpiert, wenden sich Unionspolitiker zunehmend von dem Projekt ab. "Solange Putin Bomben auf Zivilisten schmeißt, sollte die EU Nord Stream 2 nicht unterstützen", sagt EVP-Fraktionschef Weber.
Möglicherweise wird Merkel sich am kommenden Mittwoch mit Putin treffen. Die ganze Woche über liefen Verhandlungen, ob es in Berlin einen Gipfel im sogenannten Normandie-Format geben soll, es wäre der erste Besuch Putins in Berlin seit vier Jahren. An dem sollen auch der französische Präsident Hollande und der ukrainische Staatschef Petro Poroschenko teilnehmen. Bis zum Donnerstagabend gab es noch keine Entscheidung. Putin, so viel ist aber derzeit schon klar, wird Teil des deutschen Bundestagswahlkampfs.
Kürzlich trafen sich die Außenpolitiker der SPD in der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin. Die Diskussion wogte hin und her, keinem behagte, was der russische Präsident in Syrien und der Ukraine treibt. Zu später Stunde und nach ein paar Gläsern Wein sprach dann aber einer an, was viele in der SPD denken: "Wir können doch nicht auch noch beim Thema Russland hinter Merkel herlaufen!"
Das Unionslager ist in der Sanktionsfrage uneins, Merkels Politik ist widersprüchlich.