Erdogan-Kritiker fordern Klartext von Merkel
Die Türkei setzt auf Deutschland, um die Beitrittsverhandlungen mit der EU voranzutreiben. Doch umsonst wird es diese Hilfe nicht geben. Die deutsche Politik hat klare Vorstellungen, was Erdogan dafür leisten muss.
Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen in der Türkei haben Politiker von SPD und Grünen haben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aufgefordert, den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan für klare Worte zu nutzen. "Im Hinblick auf die türkische Innenpolitik ist es unvermeidlich, Ministerpräsident Erdogan darauf hinzuweisen, dass sein Vorgehen gegen ermittelnde Beamte in den verschiedenen Korruptionsverfahren weder akzeptabel noch mit rechtsstaatlichen Standards vereinbar ist", sagte SPD-Fraktionsvize Rolf Mützenich Handelsblatt Online. "Ihm muss klar sein, dass solche Ermittlungen nicht von außen initiiert wurden, sondern von einer unabhängigen Justiz aufgedeckt und verfolgt werden müssen."
Keine noch so eindeutige Mehrheit im Parlament könne eine "begründete Strafverfolgung" unterdrücken, sagte Mützenich weiter. Dazu gehörten auch die Akzeptanz und der Schutz der Meinungsfreiheit. "Um solche Fragen nachdrücklicher zu thematisieren, wäre die Eröffnung der Kapitel über Rechtsstandards wie Menschenrechte und Justiz in den Beitrittsgesprächen mit der Türkei hilfreich."
Der europapolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Manuel Sarrazin, sieht die Kanzlerin ebenfalls in der Pflicht, zu handeln. "Frau Merkel muss bei Erdogans Besuch klare Worte finden. Die Einhaltung der Menschenrechte und die Gewaltenteilung sind ein unveränderbarer Teil der parlamentarischen Demokratie", sagte Sarrazin Handelsblatt Online. "Erdogans Verständnis von Checks and Balances entspricht nicht den Vorstellungen einer europäischen Demokratie."
Sarrazin warf Merkel zugleich vor, mit ihrem Konzept der Privilegierten Partnerschaft dazu beigetragen zu haben, dass der Reformprozess in der Türkei ausgebremst wurde. "Statt den Beitrittsprozess glaubwürdig und konstruktiv zu begleiten, hat die Regierung Merkel suggeriert, dass die Türkei nicht in die EU gehöre", sagte der Grünen-Politiker. "Das ist das falsche Signal, gerade an die Menschen, die auf dem Taksim-Platz für ihre demokratischen Rechte auf die Straße gegangen sind." In der Türkei bilde der Beitrittsprozess nach wie vor den "wirksamsten Rahmen", um die Umsetzung EU-bezogener Reformen zu fördern und das Land auf einer modernen, demokratisch-rechtsstaatlichen Grundlage weiter zu entwickeln.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wies nach einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu auf die Differenzen zwischen Ankara und Brüssel wegen der Korruptionsermittlungen hin. Er riet am Montag aber dazu, in den Beitrittsverhandlungen die Themenbereiche (sogenannte Kapitel) 23 und 24 zu eröffnen, "um dann miteinander in ein ernsthaftes und belastbares Gespräch zu kommen, wie die Dinge in der Türkei im Augenblick stehen". In den genannten Kapiteln geht es um Menschenrechte, Justiz und Rechtstaatlichkeit. Auch Davutoglu sagte, die Öffnung der Kapitel 23 und 24 sei sehr wichtig und solle parallel zum Reformprozess in der Türkei erfolgen.
Bei den Verhandlungen über einen Beitritt wird das gesamte EU-Recht in 35 Kapitel aufgeteilt. Das Öffnen und Schließen jedes Kapitels kann nur einstimmig von allen EU-Regierungen erfolgen - die auf diesem Weg über ein Vetorecht verfügen.
Kritik an Wahlkampfauftritt im Berliner Tempodrom
Das Thema EU-Beitritt wird wohl auch bei Erdogans Gesprächen in Berlin auf den Tisch kommen. Der türkische Premier wird am Dienstag mit Kanzlerin Merkel zusammenkommen und anschließend auch Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) treffen. Am Vormittag hält Erdogan einen Vortrag zur Rolle der Türkei in der Welt. Am Abend ist im Berliner Tempodrom eine Rede vor Landsleuten geplant, die auch in die Türkei übertragen werden soll. Erwartet werden dort mehrere tausend Menschen.
Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, der Bundesregierung sei sehr an einer rechtsstaatlichen Entwicklung in der Türkei gelegen. Die CDU von Parteichefin Merkel steht einer vollen Mitgliedschaft der Türkei in der EU allerdings skeptisch gegenüber. Dessen ungeachtet hofft der türkische Außenminister Davutoglu auf deutschen Beistand, um die Beitrittsverhandlungen mit der EU voranzutreiben. "Wir vertrauen auf die Führungsrolle Deutschlands und Ihre Unterstützung", sagte er. Steinmeier erklärte: "Die Tür muss offen bleiben für die Türkei."
Das Land ist seit 1999 EU-Beitrittskandidat. Zuletzt hatte das Vorgehen der türkischen Regierung gegen Polizei und Justiz für Kritik der EU gesorgt. Hunderte Polizisten und Staatsanwälte, die wegen Korruptionsvorwürfen gegen regierungsnahe Kreise ermittelt hatten, waren zwangsversetzt worden.
Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) ermahnte Erdogan mit Blick auf einen am Dienstagabend geplanten Auftritt im Berliner Tempodrom, sich an die demokratischen Spielregeln zu halten. "Erdogan könnte hier einmal ein deutliches Bekenntnis zur Religionsfreiheit in der Türkei ablegen", sagte er "Spiegel Online". "Denn er will ja mit der Türkei auch nach Europa." Der SPD-Politiker Mützenich mahnte den türkischen Ministerpräsidenten, er solle bei seinen öffentlichen Auftritten darauf achten, "dass er vor allem als Amtsträger und nicht als Wahlkämpfer in Deutschland respektvoll begrüßt wird".
"Wichtiges Land zur Bearbeitung von Krisen"
Der Grünen-Politiker Sarrazin wies die Kritik zurück. "Statt sich über mögliche Wahlaufrufe des Ministerpräsidenten Erdogan Gedanken zu machen, sollte die CDU/CSU sich lieber um die rasche Umsetzung der doppelten Staatsbürgerschaft kümmern", sagte er. "Noch immer müssen sich in Deutschland geborene Kinder entscheiden, ob sie deutsche Staatsbürger werden wollen oder die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern annehmen." Das sei ein untragbarer Zustand.
Die Linke sprach sich deutlich gegen die Eröffnung neuer Kapitel bei den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus, solange die Repression in dem Land weitergehe. Die Linke-Politikerin Sevim Dagdelen mahnte, die Bundesregierung dürfe den Weg Erdogans hin zu einem islamistischen Unterdrückungsstaat nicht länger unterstützen.
Merkel will mit Erdogan auch über den Bürgerkrieg in Syrien und die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge in der Türkei sprechen. Das Thema hält auch die SPD für wichtig. Erdogans Besuch falle in eine Zeit grundlegender Umbrüche in der Türkei und in der Region, sagte der SPD-Außenexperte Mützenich. "Mit Blick auf die Situation in Syrien und dem Bemühen, die iranische Atomkrise zu entschärfen, sind die Eindrücke der jüngsten Reise von Erdogan in den Iran von großer Bedeutung." Die Türkei bleibe ein wichtiges Land für die diplomatische Bearbeitung dieser Krisen. Die Hilfen der Türkei für die syrischen Flüchtlinge seien vorbildlich und Deutschland solle hier weiterhin Hilfe anbieten.
Gleichzeitig müsse die türkische Regierung auf die Konfliktparteien einwirken, die sich dem Prozess von Genf weiterhin entziehen, sagte Mützenich weiter. "Eine militärische Entscheidung im Bürgerkrieg in Syrien wird es nicht geben", betonte er. "Wir sollten den Ministerpräsidenten auch ermutigen, weitere Schritte bei den Verhandlungen mit der PKK zu gehen. Deutschland würde von einer Entspannung auch hierzulande profitieren."