"Wir werden uns nicht aus der Verantwortung stehlen"

Interview mit Martina Tietz
Veröffentlicht: 
Cicero, Januar 2010
Thema: 
Rolf Mützenich über die Afghanistan-Debatte, die anstehende Konferenz in London und warum die SPD auch weiterhin zu dem Einsatz steht.

Martina Tietz: Der Oberkommandierende der Isaf-Truppen in Afghanistan, Stanley McCrystal, hat angekündigt, er werde von Deutschland mehr Truppen fordern. Was würden Sie ihm erwidern?

Rolf Mützenich: Herr McCrystal ist weder für die Bundesregierung noch für den Bundestag der richtige Ansprechpartner. Er spricht von der Ebene des Militärs aus, nicht von der Ebene der Regierungen. Die Bundesregierung darf nicht zulassen, dass die Afghanistan-Konferenz in der kommenden Woche in London eine reine Truppensteller-Konferenz wird. Dort muss es vor allem um ein Gesamtkonzept für Afghanistan gehen, das den politischen und zivilen Wiederaufbau des Landes umfasst.

Tietz: Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass Deutschland mit der Forderung nach zusätzlichen Soldaten konfrontiert wird. In diesem Zusammenhang gibt es die These, die unter dem Begriff der Scowcroft-Doktrin zusammengefasst wird, wonach man besser nach oben hin irren könne als nach unten. Sprich: besser man schickt zu viele als zu wenige Soldaten. Was sagen Sie dazu?

Mützenich: Wir sollten uns den praktischen Dingen zuwenden. Das heißt: Der Bundestag hat auf Antrag der Bundesregierung zur Zeit 4500 Soldaten nach Afghanistan entsandt. 400 davon sind zur Überwachung der Wahlen geschickt worden, 100 Soldaten gehören zum Tornado-Kommando. Dann gibt es Stützpunkte, die nicht mehr so stark geschützt werden müssen. Die Bundesregierung sollte darum erst einmal erklären, ob es möglich ist, im Rahmen des Kontingents den Herausforderungen in Kunduz und andernorts gerecht zu werden. Wenn dies geklärt ist, kann man weiter reden. Im Mittelpunkt muss aber der zivile Aufbau stehen. Da geht es für uns vor allem um die Frage der Entsendung von Ausbildern - für die Polizei etwa. Und es ist zu klären, ob finanziell stärkere Unterstützung geleistet werden kann.

Tietz: Ist an dieser Stelle nicht die Kritik aus den Reihen der Nato nachvollziehbar, Deutschland versuche, auf den nicht-militärischen Teil der Aufgabe in Afghanistan auszuweichen und vor dem militärischen wegzuducken?

Mützenich: Ich bin nicht sicher, ob dieser Vorwurf in der Nato durchgängig vorgebracht wird, oder ob wir ihn nicht manchmal innenpolitisch auch herbeireden. Ich werde von internationalen Gesprächspartnern immer wieder darauf angesprochen, dass Deutschland ein recht großes Kontingent vor Ort hat, während andere Länder wie etwa die Niederlande oder Kanada ihren Abzug angekündigt haben. Wir dürfen es uns deshalb nicht selbst schwer machen. Deutschland hat immer zu seiner Verantwortung gestanden und immer ein Konzept verfolgt, das vor allem in den vergangenen Monaten verstärkt von der US-Regierung übernommen wurde - nämlich militärischen Schutz mit Aufbauleistungen von internationalen wie afghanischen Organisationen in Übereinstimmung zu bringen.

Tietz: Die Bundesregierung hat angekündigt, vor der Afghanistan-Konferenz in London eine Strategie vorzulegen?

Mützenich: Das ist entscheidend. Die Bundesregierung muss unbedingt vor der Londoner Konferenz erklären, welche Strategie sie verfolgen wird. Ich bin froh, dass alle Fraktionen im Bundestag da entsprechenden Druck aufgebaut haben. Es wäre undenkbar, dass die Regierung aus London zurückkehrt und das Parlament vor vollendete Tatsachen stellen würde. Wir sind immer bereit, auf Dinge zu reagieren, die die Bundesregierung vorschlägt. Bislang ist aber noch nichts vorgelegt worden. Wir müssen nun sehen, wie die für kommende Woche angekündigte Regierungserklärung der Bundeskanzlerin mit unseren Vorstellungen übereinstimmen?

Tietz: Grundsätzlich aber ist die SPD weiter bereit, Verantwortung für den Afghanistan-Einsatz zu tragen?

Mützenich: Wir haben bislang die Mandate, die die Bundesregierung an den Deutschen Bundestag übersandt hat, immer mitgetragen. Es ist doch gar keine Frage: Wir werden uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Aber wir haben auch immer deutlich gemacht, dass es sich nicht um einen unbefristeten Einsatz handelt. Wir haben stets für eine klare Abzugs- und Endperspektive plädiert. Wenn wir uns in dem von Frank-Walter Steinmeier aufgezeigten Korridor von 2013 bis 2015 bewegen, sind wir auf einem guten Weg. Die Bundesregierung wäre klug beraten, diese Gedanken in ihre Konzepte aufzunehmen.

Tietz: Kritiker konkreter Daten argumentieren, damit wüssten die Taliban, wie lange sie noch durchhalten müssten.

Mützenich: Aufständische und bewaffnete Kräfte haben immer einen sehr langen Atem. Das kennen wir aus den verschiedensten Bürgerkriegssituationen. Doch reicht es nicht allein, den Blick hierauf zu lenken. Ein Abzugskorridor verdeutlicht auch der afghanischen Regierung und den Verantwortlichen in den Regionen, dass sie selbst ihre Anstrengungen potenzieren müssen. Dass sie selbst für ihre Sicherheit sorgen müssen, wenn der internationale militärische Schutz ausläuft. Deshalb sind klare Perspektiven hilfreich ? und auch letztlich gegenüber der deutschen Bevölkerung unerlässlich.

Tietz: Gerade die Sicherheitsfrage ist schwierig. Was sagen Sie zu Bedenken - etwa der Gewerkschaft der Polizei - dass die von Deutschen ausgebildeten afghanischen Polizisten schnell zu den Taliban überliefen, da diese mehr Geld zahlten?

Mützenich: Dass es auf solchen Feldern immer wieder mal Probleme gibt, ist klar. Das betrifft nicht nur Afghanistan. Überall, wo wir versuchen, zu einer gesunden Entwicklung eines Landes beizutragen, sind wir mit der Situation konfrontiert, dass das nicht immer in die richtigen Kanäle fließt. Da muss man gegensteuern. Doch halte ich einen so pauschalen Vorwurf für schwierig. Die Taliban haben doch beispielsweise eine engagierte afghanische Polizistin, eine dreifache Mutter, bewusst in Kabul umgebracht, weil sie so mutig war, auch Frauenrechte einzufordern. Ich glaube, dass ein großer Teil der Afghanen selbst Verantwortung übernehmen will, dass die Mehrheit einen realistischen Blick auf ihre Lage, auf die der Politik und der eigenen Perspektive hat.

Tietz: Was soll bei dem Afghanistan-Hearing der SPD herauskommen?

Mützenich: Wir wollen ein klares Signal setzen, dass diese Diskussion nicht nur im Bundestag geführt wird, sondern auch darüber hinaus. Die Parteien müssen sich daran beteiligen. Und ich bin dankbar, dass auch Frau Käßmann sich in die Diskussion eingebracht hat. Das war dringend notwendig, um die gesellschaftliche Debatte am Leben zu halten. Und so gehe ich davon aus, dass auch unser Gesamtkonzept nach diesem Wochenende von einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird.

Tietz: Wie soll dieses Gesamtkonzept aussehen?

Mützenich: Schlagworte sind hier ein Wagnis. Es kommt darauf an, eine klare Perspektive sowohl für Afghanistan als auch für die internationale Gemeinschaft abzubilden. Das soll die Konferenz in London erreichen. Wir wollen darüber hinaus die Verantwortung der SPD für den Einsatz in Afghanistan deutlich machen. Nicht zuletzt wird an die Bundesregierung die klare Aufforderung gerichtet, als Ganzes ein Konzept vorzulegen, so dass die Ressortminister nicht nebeneinander herarbeiten oder sich sogar widersprechen.