"Wir werden uns der Diskussion nicht entziehen können"

Interview mit Jörg Brunsmann
Veröffentlicht: 
WDR 5, 05.09.2009
Thema: 
Rolf Mützenich zu dem Luftangriff in Afghanistan

Versuchen wir mal festzuhalten, was unstrittig erscheint: In Afghanistan, in der Nähe von Kundus werden zwei Tanklastwagen entführt. Die Entführer versuchen mit den LKWs  zu flüchten, fahren sich aber auf einer Sandbank fest. Der Treibstoff war eigentlich für die Bundeswehr bestimmt, die macht die LKWs ausfindig und lässt sie per Flugzeug bombadieren. Alles was danach kommt ist strittig. Wie viele Menschen werden bei dem Angriff getötet? Die Angaben schwanken derzeit zwischen 50 und 90. Und wer waren die Getöteten? Ausschließlich aufständische Taliban, wie die Bundeswehr sagt? Oder sind unter den Opfern auch zahlreiche Zivilisten? Eines gibt es noch, was unstrittig ist: Es war der bisher größte Luftschlag im Einsatzbereich der Bundeswehr in Afghanistan und er sorgt, vor allem aufgrund der hohen Zahl von Opfern, für erneute Diskussionen über die Rolle der Bundeswehr in Afghanistan.

Jörg Brunsmann: Rolf Mützenich ist Bundestagsabgeordneter der SPD und außenpolitischer Experte. Ihn begrüße ich jetzt im Studio, Guten Morgen, Herr Mützenich!

Rolf Mützenich: Guten Morgen, Herr Brunsmann!

Brunsmann: Bis zu 90 Opfer, möglicherweise darunter auch Zivilisten,. Ist die Bundeswehr dabei, an ihrer Mission zu scheitern?

Mützenich: Es ist auf jeden Fall ein schrecklicher Vorfall, gar keine Frage, und das Entsetzen, das gestern in der Öffentlichkeit, aber auch bei Politikern vorherrschte, ist ja offensichtlich. Ich bin sehr dankbar, dass insbesondere nicht nur die Nato diesen Vorfall überprüfen will, sondern auch die Vereinten Nationen, wie ihr stellvertretender Sprecher gestern in Afghanistan gesagt hat. Ich glaube, die Vereinten Nationen würden eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Aufklärung spielen können.

Brunsmann: Sie sagten es, es soll Untersuchungen geben, der Nato, der Vereinten Nationen. Gleichzeitig gibt es eine Äußerung von Bundesverteidigungsminister Jung, er stellt sich hinter diesen Angriff, sagt aber auch gleichzeitig, nein, Zivilisten seien dabei nicht zu Schaden gekommen. Ist das nicht ein bisschen voreilig?

Mützenich: Nun, ich nehme das zur Kenntnis. Ich weiß nicht, wo der Verteidigungsminister seine Informationen her hat. Ich habe nicht mehr Informationen als Sie auch. Ich glaube, wir müssen uns jetzt in den nächsten Tagen darauf verlassen, dass die Bundeswehr mehr Aufklärung bringt, auch gegenüber dem Deutschen Bundestag und sie muss natürlich auch klar dazu Stellung nehmen, ob diese Aktion innerhalb dieses Mandats, was der Bundestag erteilt hat, nämlich Schutz und Selbstverteidigung der Bundeswehr, dies auch getan hat.

Brunsmann: Läuft das, was wir hier sehen, dieser Vorfall, schon über das Mandat der Bundeswehr hinaus?

Mützenich: Das kann ich nicht sagen. Das kommt eben genau auf die Informationen an. Ich kann nur das zur Kenntnis nehmen, was gesagt worden ist. Es gibt unterschiedliche Interpretationen, unterschiedliche Lageeinschätzungen. Die Nato sagt ein bisschen differenzierter etwas, als die Bundeswehr es getan hat. Es bedarf jetzt der nächsten Stunden und Tage und ich verspreche mir insbesondere von den Vereinten Nationen eine unabhängige Aufklärung.

Brunsmann: Aber, von Seiten deutscher Politiker, man hätte es eigentlich anders angehen müssen, diesen Einsatz, oder?

Mützenich: Ich bin jemand, der immer sagt, die Bundestagsabgeordneten stehen nicht auf dem Feldherrenhügel. Ich kann ja nur sagen, ob das Mandat, was wir im Bundestag erteilen, dem Völkerrecht entspricht, ob es auch dem Willen der dortigen Regierung entspricht. Das muss ich prüfen und es gibt nun eben ein Mandat der Vereinten Nationen, des Sicherheitsrats, für das ISAF-Mandat, in dem die Bundeswehr aktiv ist und das sind Dinge, die wir zu diskutieren haben. Aber auf der anderen Seite weiß ich auch, wir brauchen eine innenpolitische Diskussion darüber, wie wir Afghanistan verlassen können, aber so verlassen können, dass die Menschen ihre eigene Verantwortung, insbesondere Sicherheitsverantwortung, tragen können.

Brunsmann: Das scheint momentan überhaupt nicht gegeben zu sein, oder? Die Situation wird in meinen Augen eher schlechter.

Mützenich: Es ist auf jeden Fall schlechter geworden, das ist gar keine Frage. Wir haben da insbesondere in den letzten Jahren gesehen. Andere Akteure sind mit hinein gekommen. Wir wissen um die prekäre Rolle Pakistans in diesem Konflikt und dass offensichtlich auch keine Maßnahmen ergriffen werden. Wir haben heute andere Zufahrtswege der Versorgung, die auch stärker durch Bundeswehrgebiete gehen, deswegen auch die Angriffe auf diese Tanklastzüge. Aber das sind Punkte, die müssen wir hier diskutieren. Ich finde schon und das sage ich auch ganz persönlich, in der nächsten Legislaturperiode müssen wir intensiv versuchen einen innergesellschaftlichen und parteipolitischen Konsens zu gewinnen, wie es in Afghanistan weiter geht. Und wenn die Niederlande und Kanada besondere Daten nennen, wo sie mit ihren Truppen aus Afghanistan abziehen, dann werden wir uns dieser Diskussion nicht entziehen können.

Brunsmann: Egal, wie die Bundestagswahl ausgehen wird, Sie plädieren für einen Politikwechsel im Bezug auf Afghanistan?

Mützenich: Nein, der Politikwechsel ist ja auf jeden Fall da, insbesondere ist er mit Obama da. Eigentlich alles das, was wir versucht haben, in den Jahren der Bush-Regierung zu erreichen, regionale Akteure einzubinden, ein anderes Verhältnis auch des militärischen Einsatzes zu gewinnen. Und das tragische an diesem Ereignis ist doch, dass wir einen Strategiewechsel in Afghanistan haben, wo gesagt worden ist, wir nehmen auf Zivilisten Rücksicht. Und tatsächlich auch eine Vielzahl von Zivilisten bei diesem Angriff umgekommen sein sollte, dann stellt das natürlich genau das in Frage, was wir Gott-sei-Dank versucht habe, mit der Präsidentschaft Obamas in Afghanistan neu zu justieren.

Brunsmann: Ein Strategiewechsel der möglicherweise zu spät kommt, oder? Läuft die Zeit nicht langsam ab?

Mützenich: Die Zeit läuft uns auf jeden Fall davon und insbesondere deswegen, weil es uns nicht gelingt, in diesem Verhältnis auch zu politischen Lösungen zu kommen. Ich habe mir schon viel davon versprochen, dass diese Wahlen, die ja auch nur schwierig durchzuführen waren, zu einem Schub auch innerhalb Afghanistans zu kommen, dass Afghanen eben selbst Verantwortung übernehmen. Und ich muss auch sagen, auch unsere Diskussion, die wir hier in Deutschland führen, überrascht mich schon. Ich bin für jeden Ratschlag dankbar, auch Ratschläge von Experten, die jetzt nicht mehr in Verantwortung stehen. Ich frage mich nur immer, die haben uns nach Afghanistan rein gebracht und jetzt haben sie einfache Lösungsvorschläge wie wir wieder rauskommen. Das wird der Problematik nicht gerecht. Wir brauchen eine intensive Diskussion im politischen Raum. Wahrscheinlich wird man das erstmal nicht öffentlich führen können, aber ich plädiere schon dafür, dass wir alle Kräfte zusammen führen, die zu dieser Diskussion bereit sind und ich möchte auch schon ein Wort der Bundeskanzlerin zu der Situation dazu haben. Sie war gerade zweimal in Afghanistan während ihrer Amtszeit - also, das nenne ich wegducken.

Brunsmann: Aber drei Wochen vor der Wahl wird da vermutlich nicht mehr viel passieren, oder?

Mützenich: Nein, wahrscheinlich nicht. Und ich meine, dass wir das innerhalb des Wahlkampfes nicht werden diskutieren können, ist auch ganz offensichtlich. Umso mehr ist der neue Deutsche Bundestag gefordert, hier eine intensive Diskussion zu führen.

Brunsmann: Niemand will ja von einem Krieg in Afghanistan sprechen, die Politiker zumindest nicht. Aber, bitte, was ist denn noch der Unterschied? Haben wir da nicht längst Krieg?

Mützenich: Ja, natürlich ist das ein Krieg. Ich habe mich auch nie gewehrt gegen diese Diskussion, die wir ja auch hier im WDR geführt haben. Natürlich findet dort für Betroffenen eine kriegerische Auseinandersetzung statt. Aber es ist immer noch ein Unterschied, ob es ein Mandat der Vereinten Nationen gibt, oder eine "Koalition der Willigen", die ja zum Beispiel in den Irak hinein gehen. Das ist ein qualitativer Unterschied. Das sage ich auch als Sozialdemokrat. Das müssen wir ganz konkret finden. Auf der anderen Seite finde ich schon, müssen wir uns über das Dilemma Gedanken machen, was wir bei solchen Einsätzen immer haben. Das würde uns in Dafur, wenn wir dort mit einem Mandat der Vereinten Nationen hinein gingen, genauso passieren.

Brunsmann: Danke für diese Einschätzung. Rolf Mützenich, Bundestagsabgeordneter der SPD und außenpolitischer Experte.