Türkei ohne westliche Unterstützung?
Den NATO-Bündnisfall sieht Rolf Mützenich nicht, aber die NATO müsse der Türkei beistehen. Im UN-Sicherheitsrat müsse nun darauf hingearbeitet werden, dass sich der Konflikt nicht regionalisiere. Der SPD-Politiker wiederholt die Forderung an die Bundesregierung, syrische Flüchtlinge aufzunehmen.
Petra Ensminger: Wie gefährlich ist die Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Syrien? Die syrische Regierung hat sich ja für die Attacke auf einen türkischen Grenzort ja entschuldigt. Fünf Zivilisten sind dabei ums Leben gekommen, darunter drei Kinder. Die türkische Armee hat zurück geschossen und das Parlament in Ankara hat grünes Licht gegeben für Militärangriff auf Ziele in Syrien. Rolf Mützenich ist der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagfraktion, schönen guten Morgen!
Rolf Mützenich: Guten Morgen, Frau Ensminger!
Ensminger: Für wie gefährlich halten Sie die Sache derzeit?
Mützenich: Nun, auf jeden Fall ist es eine sehr kritische Situation. Insbesondere dann, wenn Provokateure möglicherweise in den nächsten Wochen am Werk wären, ist es nicht auszuschließen, dass sich diese Situation wiederholt oder möglicherweise sogar ausweitet.
Ensminger: Provokateure, wen meinen Sie?
Mützenich: Insbesondere sehen wir ja, dass eben Menschen dort unterwegs sind, die zu Gewalt greifen. Wir haben es dort mit einem ethnischen und auch religiösen Konflikt zu tun, in den die Türkei involviert ist. Allein der Kurdenkonflikt ist eine schwerwiegende Herausforderung. Und das Parlament hat nach meinem Kenntnisstand im Zusammenhang mit der Erlaubnis türkischer Streitkräfte in anderen Gebieten einzugreifen auch diesen Beschluss gegenüber Syrien gefasst. Man sieht also den Zusammenhang.
Ensminger: Da sprechen wir gleich nochmal drüber. Die Kanzlerin hat zur Besonnenheit gemahnt. Aber wie besonnen wird sich Erdogan tatsächlich verhalten, wenn ein solcher Angriff auf die Türkei nochmal erfolgt und Sie sagen ja, es kann wieder passieren?
Mützenich: Ich hoffe, dass Ministerpräsident Edogan weiß, dass jetzt die internationale Gemeinschaft in dieser Nacht ja offensichtlich auch reagiert hat. Es ist kein so deutliches Zeichen im Sicherheitsrat, wie man sich das nach meinem Dafürhalten für erforderlich hält, aber immerhin hat Russland nach meine Kenntnisstand zugelassen, dass insbesondere Syrien hier genannt wird und auch in die Verantwortung genommen wird.
Ensminger: Der UNO-Sicherheitsrat hat darüber sehr debattiert, den Granatbeschuss des türkischen Grenzorts dann aufs Schärfste verurteilt. Im gesamten Syrienkonflikt muss man ja sagen, haben sich die Vereinten Nationen recht hilflos gezeigt. Auch hier wieder der zahnlose Tiger oder was hätten Sie erwartet?
Mützenich: Es sind ja nicht die Vereinten Nationen, sondern wir müssen immer sehen, es sind die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen und hier waren offensichtlich eben Regierungen nicht bereit gewesen, die internationale Sicherheit herzustellen und insbesondere im Sinne der Menschen in Syrien und darüber hinaus zu handeln. Das ist ein schwerwiegendes Versäumnis und betrifft insbesondere Russland und auch die Volksrepublik China. Aber wir müssen eben auch sehen, wir haben arabische Staaten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen gesehen, die weiterhin zu größerer Gewalt aufgerufen haben.
Ensminger: Sie sagen, es sind nicht die Vereinten Nationen. Wie die Bundesregierung verurteilten auch die USA die Angriffe von syrischer Seite und beide haben der Türkei ihre Unterstützung zugesagt, die wie jetzt aussehen muss?
Mützenich: Die Unterstützung wird nach meinem Dafürhalten insbesondere darauf zu konzentrieren sein, die humanitäre Situation der Flüchtlinge an der Grenze nicht nur zu stabilisieren, sondern insbesondere diesen Ländern zu helfen. Wir sehen in der Türkei sind über 100.00 Flüchtlinge, aber wir müssen auch erkennen, dass zum Beispiel im Libanon, dort Familien bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Für Jordanien gilt das und teilweise eben auch für den Irak. Nach meinem Kenntnisstand gibt es Flüchtlinge in den Lagern, die dort nicht sicher sind und da bin ich schon der Meinung, dass die Europäische Union hier gemeinsam handeln muss, um auch diesen Menschen Schutz zu geben.
Ensminger: Das heißt auch, Aufnahme syrischer Flüchtlinge hier in Deutschland?
Mützenich: Das fordern wir seit einigen Wochen, auch fraktionsübergreifend.
Ensminger: Die NATO hatte eine Dringlichkeitssitzung einberufen, - um nochmal auf die internationale Ebene auch zu schauen - , den Vorfall in den türkischen Dorf auch verurteilt, ein sofortiges Ende verlangt, das Ganze verstoße gegen internationales Recht. Aber reicht das als Reaktion jetzt?
Mützenich: Es ist zumindest ein Schritt jetzt, dass jetzt auch Russland und die Volksrepublik China bereit sind, eben auch Syrien stärker zu kritisieren und man kann eben nur hoffen, dass dieser Vorfall auch den Verantwortlichen in Moskau und Peking deutliche gemacht hat, wie schnell sich die Situation zu einem regionalen Konflikt ausweitet. Auf der anderen Seite muss man natürlich auch gegenüber der türkischen Regierung deutlich machen, wenn überhaupt kann hier nur der Sicherheitsrat handeln. Es gibt ein Selbstverteidigungsrecht, aber das wird sofort vom Sicherheitsrat übernommen, wenn es in dieser Situation eben ausgeführt werden muss, wie es im Falle Syriens war.
Ensminger: Und natürlich hängt die Beurteilung des Sicherheitsrates sehr stark damit zusammen, was dann tatsächlich in der NATO passiert. Aber muss die NATO irgendwann reagieren, kann sie sich noch lange aus dem Ganzen raushalten, sollte es tatsächlich noch zu weiteren Angriffen kommen?
Mützenich: Auf jeden Fall muss es dem Partner Türkei beistehen. Es ist gut, dass konsultiert worden ist, aber wir haben ja eben auch gesehen, dass die Türkei nur nach Artikel 4 hier gehandelt hat. Es ging hier nicht um die Bündnisverpflichtung sondern um die Konsultationen. Natürlich ist die NATO in dieser Situation auch involviert, aber man kann eben nur hoffen, dass der Appell der Bundeskanzlerin zu Besonnenheit alle NATO-Partner betrifft.
Ensminger: Aber der Bündnisfall könnte doch eintreten irgendwann?
Mützenich: Der Bündnisfall ist theoretisch immer gegeben. Wir sehen ja wie nach dem 11.9., dass der Bündnisfall ausgerufen worden ist, ohne dass es unmittelbare militärische Konsequenzen auch für jedes einzelne NATO-Mitglied direkt am Anfang gab. Aber die Situation ist kritisch und es ist eben sozusagen auch möglich, dass sich irgendwann der Konflikt auch regionalisiert, aber wir müssen darauf hinarbeiten, dass das nicht passiert und das kann man nur innerhalb der Vereinten Nationen und nicht einzelner Regionalorganisationen.
Ensminger: Sie haben ja bereits darauf hingewiesen, dass die Türkei selbst möglicherweise zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Interesse an dem Bündnisfall hat. Sie hat erst mal nur zu Konsultationen gerufen. Die Armee hat für einen befristeten Militäreinsatz in Syrien das Parlament gestimmt. Vielleicht auch, das haben Sie schon angesprochen, um vielleicht tatsächlich gegen kurdische Autonomiebestrebungen in dieser Region vorzugehen, denn wir haben es ja gelesen und auch gehört: Im Norden Syriens kontrollieren die Kurden bereits ganze Städte - ein Problem für Edogan?
Mützenich: Das ist das große Problem. Das ist auch die Herausforderung. Die Menschen in der Türkei sind besorgt, weil ja in den letzten Wochen wieder viele Wehrpflichtige ums Leben gekommen sind. Das ist durchaus eine Situation, die offensichtlich auch Assad bereit ist, auszunutzen, weil er eben einzelnen kurdischen Gruppen besondere Souveränität über einzelne Gebiete überlassen hat, aber wir müssen eben insbesondere darauf hinwirken, dass sich dieses Problem nicht weiter verschärft. Und ich bin auch der Meinung, wir müssen aufpassen, dass wir nicht immer sofort sagen, alle sind für Separatismus oder dass sich der Nordirak jetzt hier abspaltet. Das ist eine sehr komplexe Situation und die kurdischen Interessen sind teilweise auf jeder Landesseite sehr unterschiedlich.
Ensminger: Und wir werden das natürlich genau beobachten. Rolf Mützenich war das, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, hier in WDR 5 Morgenecho, ich danke Ihnen!