Rolf Mützenich: "Es darf keine Prangerstimmung entstehen"
Seit etwas mehr als einem Jahr führt Rolf Mützenich die SPD-Bundestagsfraktion. Im Interview lobt der promovierte Politikwissenschaftler Angela Merkels Corona-Politik, erklärt, was man aus seiner Sicht vom US-Wahlkampf lernen kann – und was er vom anstehenden EU-Gipfel erwartet.
ZEIT ONLINE: Herr Mützenich, viele haben den Corona-Herbst gefürchtet, nun ist er da. Die Kanzlerin hat vorgerechnet: Wenn es schlecht läuft, dann haben wir an Weihnachten über 19.000 Infektionen an einem Tag. Ist das nicht alarmistisch?
Rolf Mützenich: Die Kanzlerin begegnet der Pandemie grundsätzlich sehr rational, aber auch mit großem Respekt. Weil wir einen gewissen – unter Umständen gefährlichen – Gewöhnungseffekt in Teilen der Bevölkerung haben, ist es durchaus richtig, zu mahnen. Auch ich mache mir Gedanken um das, was vor uns liegt. In der Erkältungssaison kann die Gefahr für den Einzelnen, sich zu infizieren, wieder steigen; ebenso die Belastung für die Krankenhäuser und für die Gesellschaft insgesamt. Die Lage in unseren Nachbarländern ist besorgniserregend. Wir müssen sehr vorsichtig bleiben und uns alle immer wieder disziplinieren, auch wenn es keine Freude macht. Andererseits beobachte ich schon, dass Regeln nun besser eingehalten werden als noch vor ein paar Wochen, zum Beispiel die Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln.
ZEIT ONLINE: Vielleicht passiert das nur, weil nun Bußgelder drohen. Hat die Koalition jetzt die Ordnungspolitik entdeckt, um die Menschen zu disziplinieren? Künftig soll auch zahlen, wer einen falschen Namen im Restaurant angibt.
Mützenich: Wir Sozialdemokraten treten für Freiheit ein, aber die endet natürlich, wenn man andere gefährdet. Also braucht es in dieser Krise nicht nur den Sozial-, sondern auch den Rechtsstaat. Und doch sind Strafandrohungen nicht alles. Beispiel Bahn: Ich erlebe häufiger, dass da Menschen einschreiten, wenn jemand keine Maske trägt. Das tun sie aus reinem Verantwortungsbewusstsein. Denn das Bußgeld müssten ja nicht sie zahlen, sondern die Maskenmuffel.
ZEIT ONLINE: Oft heißt es, zur Akzeptanz der Regeln gehört auch, dass sie einheitlich sind. Zwar haben sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten nun auf eine theoretische Begrenzung für Teilnehmerzahlen von privaten Partys geeinigt, aber die hängt von den regionalen Infektionszahlen ab. Blickt da noch jemand durch?
Mützenich: Wir in der SPD sind der festen Überzeugung, dass die Verantwortlichen auf der regionalen und lokalen Ebene gefragt sind. Sie wissen, was vor Ort zu tun ist. Der Nachteil ist, dass unterschiedliche Regeln nicht von jeder und jedem überblickt werden können. Wichtig ist aber vor allem, dass die jeweils Verantwortlichen die Regeln kennen, also der Betreiber von Versammlungshallen, die Gastronomin, das örtliche Gesundheitsamt. Und davon gehen wir aus.
"Ich kann die Kritik der FDP nicht nachvollziehen"
ZEIT ONLINE: Die Kanzlerin und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hätten gern einheitlichere Regeln.
Mützenich: Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Die Bekämpfung von Corona ist eine Gemeinschaftsaufgabe und je mehr Menschen und Fachwissen wir dafür gewinnen können, desto mehr schließen wir auch die Reihen. Es wäre auch nicht besser, wenn alles zentralistisch von oben entschieden würde.
ZEIT ONLINE: Die FDP fordert einen Parlamentsvorbehalt für weitere Corona-Einschränkungen. Nicht nur Merkel und die Ministerpräsidenten sollen über mögliche Einschränkungen entscheiden. Wie sehen Sie das als Chef der SPD-Abgeordneten im Bundestag?
Mützenich: Ich kann die Kritik der FDP nicht nachvollziehen. Was soll ein genereller Parlamentsvorbehalt leisten? Sollen Bundestag und Landtage über alles entscheiden? Über Hygienekonzepte für Schulen, über Kontaktbeschränkungen vor Ort, über private Partys? Es stimmt, dass der Bundestag im März – übrigens auch mit Stimmen der FDP – die besondere Pandemielage beschlossen hat, die der Regierung Kompetenzen für schnelle Entscheidungen verleiht. Aber es ist ja nicht so, dass der Bundestag keinen großen Gestaltungsraum hätte. Das Parlament hat über die riesigen Konjunkturpakete beraten und entschieden, es berät im Gesundheits- und Rechtsausschuss über die Lehren aus Corona und vieles mehr.
ZEIT ONLINE: In Hamm hat eine Hochzeitsfeier eine große Corona-Infektion ausgelöst. Der damalige Bürgermeister klagte daraufhin, dass "eine einzige Familie" eine ganze Stadt durcheinanderbringe. Ist diese Schuldzuweisung nicht bigott? Schließlich sind in Nordrhein-Westfalen Hochzeiten mit 150 Gästen erlaubt.
Mützenich: Wir dürfen Menschen nicht etikettieren, wenn sie sich infizieren. Es darf keine Prangerstimmung entstehen, wenn Menschen sich verantwortlich verhalten und es trotzdem zu einem Corona-Ausbruch kommt. In Hamm gibt es allerdings Hinweise darauf, dass von den Eheleuten nicht nur eine, sondern drei Teilveranstaltungen angemeldet wurden, die aber eigentlich eine große Hochzeitsfeier waren. Wenn das so war, dann wurde das Gesundheitsamt veräppelt. In einem solchen Fall muss man das unverantwortliche Verhalten Einzelner schon kritisieren dürfen.
"Olaf Scholz ist nicht Joe Biden!"
ZEIT ONLINE: Ein zweiter Grund, mit Sorge auf den Herbst zu blicken, ist die Wahl in den USA. Eine Lehre aus dem Wahlkampf 2016 war, die Entfremdung zwischen urbanen Eliten und den Sorgen der Bevölkerung in der Fläche ernster zu nehmen. Welche Lehre lässt sich aus dem Verlauf des aktuellen US-Wahlkampfes für die anstehende Bundestagswahl ziehen?
Mützenich: Mir fällt nichts ein, woran wir uns ein Beispiel nehmen sollten. Wie in den USA politische Debatten geführt werden, dürfte für viele in Europa abschreckend wirken. Also sollten wir bewusst darauf achten, dass wir hart in der Sache, aber fair wahlkämpfen. Das TV-Duell zwischen Donald Trump und Joe Biden ist ein absoluter Tiefpunkt und ein gutes Beispiel dafür, wie es nicht sein darf.
ZEIT ONLINE: Eine Parallele ist doch auffällig: Die Herzen der SPD und der US-Demokraten schlagen links. Die SPD hat zwei linke Chefs gewählt und Bernie Sanders hat die Basis bei den Vorwahlen elektrisiert. Aber in beiden Fällen haben sich die Parteien mit Blick auf die Wählbarkeit in der Bevölkerung für den Vernunftkandidaten entschieden.
Mützenich: Olaf Scholz ist nicht Joe Biden! Und für die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist die entscheidende Frage nicht, wie links der Spitzenkandidat ist. Es kommt darauf an, wer für die Herausforderungen, die vor uns liegen, die Erfahrung und das Fachwissen mitbringt. Olaf Scholz ist krisengestählt und er hat auch in der Corona-Krise die Bundespolitik geprägt. Ich bin der festen Überzeugung, dass die SPD da richtig entschieden hat.
ZEIT ONLINE: Wie müsste Deutschland sich verhalten, sollte etwa Donald Trump – wie er mehrfach angedeutet hat – das Ergebnis der US-Wahl nicht anerkennen?
Mützenich: Wir sollten uns nicht in eine mögliche Verfassungskrise in den USA einmischen. Aber wir können uns klar positionieren und wir können Fragen stellen, wie wir das etwa mit der Türkei gemacht haben. Aber ich habe mir nie vorstellen können, dass sich diese Fragen jemals in einer der Herzkammern der westlichen Demokratie stellen würden.
Warum wirbt die SPD schon wieder für "Respekt"?
ZEIT ONLINE: Beim EU-Gipfel, der heute (Donnerstag) beginnt, wird es auch um den Gasstreit zwischen Griechenland und der Türkei gehen. Warum sendet Europa kein starkes Signal der Solidarität mit seinem Mitglied Griechenland?
Mützenich: Der Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland ist eine Frage des Seerechts und sollte vor dem Internationalen Gerichtshof oder einem Schiedsgericht verhandelt werden. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung nicht Partei ergreift, sondern versucht, zu vermitteln. Es geht nicht um nationale Überzeugungen, da muss eine juristische Lösung her.
ZEIT ONLINE: Aber der Streit hat doch bereits jetzt Folgen über die Region hinaus: Zypern blockiert EU-Sanktionen gegen Belarus, damit die EU ihre Türkei-Politik überdenkt.
Mützenich: Ja, und es ist falsch, unterschiedliche Themen miteinander zu vermischen. Es kann nicht sein, dass die Frage der Sanktionen gegen das Regime von Alexander Lukaschenko hier von Zypern zur Geisel genommen wird. Ich verstehe natürlich, dass die zypriotische Regierung im Konflikt mit der Türkei auf europäische Unterstützung setzt. Aber nicht wir entscheiden über Schürfrechte von Rohstoffen. Die Situation ist derzeit sehr verhakt.
ZEIT ONLINE: Sollte die EU weitere Sanktionen gegen Russland beschließen wegen der Vergiftung von Alexej Nawalny? Außenminister Heiko Maas droht ja zumindest damit.
Mützenich: Die Politik der Bundesregierung war richtig. Wir haben festgestellt, dass Nawalny mit einem chemischen Kampfstoff vergiftet wurde – zwei unabhängige Labore in Frankreich und Schweden haben das bestätigt. Das ist ein Verstoß gegen das Chemiewaffenverbot, das auch Russland unterschrieben hat. Hier können Maßnahmen ergriffen werden. Auch die EU sollte sich Sanktionen danach vorbehalten.
ZEIT ONLINE: Auch frühere Sanktionen gegen Russland haben nicht verhindert, dass dort weiterhin Oppositionelle um ihr Leben fürchten müssen.
Mützenich: Sanktionen sind eine scharfe diplomatische Rüge und ein durchaus wirksames Mittel. Sie können ein Land oder führende Akteure politisch und wirtschaftlich schwächen. Aber Diplomatie bedeutet eben auch, dass wir mit Russland zugleich wegen der vielen internationalen Konflikte im Gespräch bleiben müssen. Einfache Lösungen gibt es hier nicht.
ZEIT ONLINE: Sie sind seit etwas mehr als einem Jahr Fraktionsvorsitzender der SPD. Welches Urteil über die SPD können Sie nicht mehr hören?
Mützenich: Ich glaube, ich habe mit dazu beigetragen, dass manche Klischees über die SPD der Vergangenheit angehören. Entscheidungen in der SPD werden breit abgestimmt zwischen Fraktion, Partei und Regierung. Wir haben Geschlossenheit unter Beweis gestellt.
ZEIT ONLINE: 2021 wird der erste Wahlkampf seit 2005, den die SPD nicht gegen Angela Merkel führen wird. Welches Angebot wollen Sie Ihren Wählern – und besonders Wählerinnen machen?
Mützenich: Wir werden uns um diejenigen bemühen, die auf eine sozialdemokratische Politik aus Fairness, Respekt und Zukunftsorientierung angewiesen sind. Das ist nicht allein eine Geschlechterfrage, aber eben auch. Wir wollen also zum Beispiel den Frauen, die im Erwerbsleben stehen, Sicherheit geben etwa über die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit oder eine gute Kita- und Ganztagsbetreuung. Davon profitieren auch Männer und Väter. In vielen Berufen, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, gibt es keine Tariflöhne. Wir machen das Angebot, den Sozialstaat weiter auszubauen. Denn gerade in der Krise haben wir gesehen: Ohne einen gut funktionierenden Sozialstaat stünde Deutschland weitaus schlechter da.
ZEIT ONLINE: Olaf Scholz möchte ja im Wahlkampf über Respekt reden. Warum sollte denn jetzt funktionieren, was schon bei Martin Schulz 2017 nicht geklappt hat?
Mützenich: Es geht ja nicht um Slogans. Es geht darum, den Begriff mit ganz konkreten Inhalten zu füllen.
ZEIT ONLINE: Mit den klassischen SPD-Themen, die wir alle schon aus dem letzten Wahlkampf kennen?
Mützenich: Die Grundfrage ist die gleiche: Wie schaffen wir es, gemeinsam in eine gute Zukunft zu gehen, in der nicht nur ein paar wenige von den Veränderungen, vom Fortschritt profitieren und alle anderen schauen müssen, wie sie über die Runden kommen? Die Pandemie ist derzeit das übergeordnete Thema. Aber darunter verbergen sich wahnsinnig große gesellschaftliche Strukturbrüche. Unsere Wirtschaftsordnung schafft immer wieder neue Unwuchten. Zentral sind dabei Klima, Digitalisierung und die Veränderungen der Arbeitswelt. Respekt und Gerechtigkeit bleiben die zentralen und hochaktuellen Themen.