Rolf Mützenich: "Die Bundesregierung muss jetzt endlich informieren."
Judith Schulte-Loh: Im Juni hat sich die Türkei das erste Mal an die NATO gewandt, sich auf Artikel IV des NATO-Vertrages berufen. Die Türkei sieht ihr Land durch den Konflikt im Nachbarland Syrien in Gefahr und hat deshalb Konsultationen mit den Partnern verlangt. Jetzt geht die Türkei einen Schritt weiter und wird die NATO um aktiven Schutz vor feindlichen Übergriffen bitten. Es geht um die Stationierung von PATRIOT-Raketen, die verhindern sollen, dass Syrien den NATO-Partner Türkei angreift und diese PATRIOT-Raketen könnten aus Deutschland kommen. Rolf Mützenich ist bei mir im Studio, SPD, außenpolitischer Sprecher.
Herr Mützenich, ist Ihres Erachtens der Bündnisfall gegeben im Falle der Türkei? Sind die NATO-Partner in der Pflicht?
Rolf Mützenich: Also, ich sehe zur Zeit den Bündnisfall noch nicht gegeben, insbesondere da die Türkei ihn auch gegenüber der NATO, gegenüber den Mitgliedsländern noch nicht gestellt hat. Deswegen sind Konsultationen notwendig, insbesondere Konsultationen darüber, ob diese PATRIOT-Raketen tatsächlich eine angemessene Antwort sind. Und das ist auch genau die Diskussion, die wir innenpolitisch zu führen haben. Bisher hat die Bundesregierung offiziell darüber noch gar nicht informiert.
Schulte-Loh: Es kann ja nun sein, dass tatsächlich in Brüssel heute der Bündnisfall diskutiert wird und man da auch zu einer Entscheidung kommen soll. Und die PATRIOT-Raketen, die aus Deutschland kommen sollen, was heißt das, wenn es tatsächlich zur Stationierung von PATRIOT-Raketen überhaupt kommt?
Mützenich: Das sind genau die Diskussionen, die wir jetzt zu führen haben. Da muss die Bundesregierung drüber aufklären. Gegenüber uns, also gegenüber den Außenpolitikern, ist das noch nicht gemacht worden. Man muss natürlich auch sagen, brauchen wir ein Mandat das Deutschen Bundestages und was ist dann sozusagen mit der angeblichen Symbolik dann letztlich auch verbunden? In der Tat, sie sind auf der einen Seite defensiv, aber es ist natürlich immer die Frage, ob auf der anderen Seite dies auch als Defensivwaffen gesehen wird oder ob möglicherweise auf der Seite der syrischen Regierung dadurch nicht der Eindruck entsteht, das ist die Vorbereitung zu einer militärischen Intervention. Alles dies sind legitime Fragen.
Schulte-Loh: Nun sagen die sicherheitspolitischen Sprecher von CDU und FDP schon, das hat einen defensiven Charakter. Weshalb sehen Sie das möglicherweise anders?
Mützenich: Wir müssen uns natürlich insbesondere den Konfliktverlauf anschauen. Es ist zur Zeit ein Bürgerkrieg mit schlimmen humanitären Folgen und es war die Türkei, die den Luftraum in Syrien verletzt hat. Nach meinem Kenntnisstand war es bisher kein syrisches Flugzeug, was türkischen Luftraum bisher erreicht hat. Es gab insbesondere an der türkisch-syrischen Grenze Scharmützel, aber es muss insbesondere die Frage gestellt werden, kann das sozusagen eine diplomatische, politische Lösung befördern, ja oder nein.
Schulte-Loh: Auf der anderen Seite sehen wir aber auch ganz klar, wie viele Flüchtlinge inzwischen aus Syrien in der Türkei sind, die dort versorgt werden müssen. Wir sehen, dass es auch von syrischer Seite Grenzverletzungen gibt hin zur Türkei. Da können natürlich nicht alle Partner, besonders alle NATO-Partner nicht einfach weiter zugucken, denn auf der anderen Seite ist man sich auch mit der Türkei einig, dass man das Regime von Assad nicht so weiter unterstützen will.
Mützenich: Auf jeden Fall. Und ich meine, wir gucken ja auch nicht zu. Insbesondere die humanitäre Situation muss verbessert werden, wir stehen vor einem strengen Winter. Es ist nicht nur die syrisch-türkische Grenze, es ist der Libanon, Jordanien, der Irak, alles das muss letztlich mit bedacht werden. Und ich glaube, dass die Bundesregierung gut beraten wäre, wenn sie insbesondere innerhalb der europäischen Union auch mit darüber zu diskutieren, wie wir Flüchtlinge auch hier ganz konkret in Europa helfen können, weil alle sind auch nicht sicher und wollen auch nicht mehr in den Lagern bleiben.
Schulte-Loh: Nun geht es darüber ja hinaus. Wenn wir über die Stationierung der PATRIOT-Raketen sprechen, hat das immer auch etwas mit der Überlegung zu tun, inwiefern es tatsächlich im nördlichen Syrien es so etwas wie eine Flugverbotszone geben könnte. Würde dadurch dann der defensive Charakter verloren gehen, über den derzeit aktuell diskutiert wird?
Mützenich: Das sind insbesondere die Fragen, die wir mit der Bundesregierung? Und ich finde auch, dass die Bundesregierung das öffentlich ansprechen muss. Ich habe ja eben darauf hingewiesen, dass möglicherweise auf Seiten der syrischen Regierung der Eindruck entstehen könnte, hier wird so etwas vorbereitet. Und auf der anderen Seite müssen wir ja sehen, für eine Flugverbotszone braucht man einen Beschluss im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und da sehe ich mit Sicherheit nicht, dass zum Beispiel die Volksrepublik China oder insbesondere Russland einer solchen Resolution zustimmen würden. Man darf das also nicht einseitig machen, sondern man muss insbesondere bedenken, was militärische Stationierungen möglicherweise für politische Konsequenzen haben und darüber brauchen wir auch eine Debatte.
Schulte-Loh: Aber ein Mandat für den NATO-Eisatz muss sich die Bundesregierung beim Bundestag eigentlich nicht holen?
Mützenich: Das muss man nochmal diskutieren. Ich glaube, die Bundesregierung wäre gut beraten, rechtlich genau zu prüfen, auf der Grundlage der Entscheidungen der Bundesverfassungsgerichte, ob in diesem Zusammenhang ein solcher Beschluss notwendig ist. Und ich glaube, die Bundesregierung sollte jetzt endlich mit den Konsultationen auch gegenüber dem Deutschen Bundestag beginnen.
Schulte-Loh: Aber jetzt gibt es ja schon Positionierungen, zum Beispiel bei den Grünen, die sagen, wenn es zu einer Abstimmung im Bundestag kommt, dann wollen wir nach Möglichkeit nicht dem zustimmen, dass es zur Stationierung von PATRIOT-Raketen kommt. Wie positioniert sich da die SPD?
Mützenich: Na, ich kann mich ja nicht positionieren, wenn ich keine Informationen habe und deswegen bitte ich jetzt einfach die Bundesregierung, jetzt endlich mit diesen Informationen zu beginnen, ob es wirklich diese Anfrage von Seiten der Türkei gibt, wie innerhalb des NATO-Rates das diskutiert worden ist und auch welche Folgen letztlich damit verbunden sind. Und insbesondere, ob politische, diplomatische Lösungen neu damit eröffnet werden, oder eher verschüttet.
Schulte-Loh: Glauben Sie, dass die Bundesregierung schon soviel mehr als Sie weiß?
Mützenich: Na, das hoffe ich. Dafür ist sie ja Bundesregierung.
Schulte-Loh: Die Türkei: Werden deutsche PATRIOT-Raketen stationiert oder nicht, kommt es dazu, wird es zum Bündnisfall kommen - alles dies ist noch nicht entschieden, klar ist aber: Im Deutschen Bundestag sollte es eine Debatte darüber geben, sagt Rolf Mützenich, SPD, außenpolitischer Sprecher der Partei.