Machtkampf in Tunesien - Herausforderungen für Europa?

Interview mit Rudolf Geissler
Veröffentlicht: 
SWr 2 Tagesgespräch, 17.01.2011
Thema: 
SPD-Nahost-Experte Mützenich: Gefahr eines Bürgerkrieges in Tunesien noch nicht gebannt

Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, rät als Konsequenz aus dem Umsturz in Tunesien zu Kontakten der EU mit dem politischen Islam. Im Südwestrundfunk (SWR) sagte Mützenich, die religiös geprägten Gruppierungen in Tunesien seien ganz überwiegend "bereit, dieses Land mit aufzubauen" und gehörten nicht zu den radikalen Islamisten. Eine tragfähige Regierung in Tunis werde "nicht umhinkommen, auch solche Kräfte mit einzubeziehen". Die Gefahr eines Bürgerkrieges hänge vor allem davon ab, ob staatliche Institutionen so weit funktionsfähig würden, dass sie die Gewalt eindämmen könnten, sagte Mützenich. Um das Land an den Westen anzubinden sei es auch wichtig, mittelständische Unternehmen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern zu mehr Investitionen in der Region anzuregen.

Rudolf Geissler: In Tunesien scheint inzwischen zumindest nicht mehr ganz so oft geschossen zu werden wie in der vergangenen Woche. Ist die Gefahr eines Bürgerkrieges jetzt gebannt in Ihren Augen?

Rolf Mützenich: Nun, das hoffe ich. Aber das lässt sich von hier natürlich auch nicht leicht voraussehen. Wir haben es mit einem Gewaltpotential zu tun, was wahrscheinlich auch noch in den nächsten Tagen existent ist. Es kommt sehr stark darauf an, ob es überhaupt staatliche Institutionen gibt, die zur Gewalteindämmung bereit sind. Mir scheint es so zu sein, dass die Armee hier eine größere Rolle übernimmt, auch gegen Unruhestifter letztlich vorzugehen. Es gibt andere Institutionen, interessanterweise sind die Gewerkschaften hier auch aktiv. Aber es gibt eben auch Bürgerwehren und wir können nur hoffen, von europäischer Seite, dass es nicht noch zu mehr Gewalt kommt.

Geissler: Bundeskanzlerin Merkel hat gestern die Übergangsführung Tunesiens zu einem Neuanfang in Richtung wirkliche Demokratie aufgefordert und dabei Hilfe auch aus Berlin und der EU versprochen. Hat Europa was gut zu machen bei den Tunesiern?

Mützenich: Ja, mit Sicherheit. Und mit Sicherheit werden auch die neuen Möglichkeiten, die die Europäische Union hat, insbesondere der gemeinsame Europäische Auswärtige Dienst und Frau Ashton ihren Schwerpunkt gerade auch in dieser Region, nach meinem Dafürhalten, suchen müssen. Der gesamte Nahe- und Mittlere Osten ist eine unmittelbare Nachbarregion der Europäischen Union. Hier haben wir etwas zu tun. Aber ich glaube, es kommt insbesondere darauf an, nicht nur eben bestimmte Forderungen zu stellen, sondern auch zu unterstützen und scheinbar waren ja auch die Demonstranten stärker daran interessiert an Arbeitsplätzen, an gutem Regieren insgesamt und ich glaube, das ist die Hauptaufgabe der Europäischen Union.

Geissler: Welche Anreize könnten denn da geschaffen werden?

Mützenich: Nun, wir können insbesondere versuchen, mittelständische Unternehmen hier in Deutschland, in anderen europäischen Staaten zu initiieren, dass sie auch dort aktiv werden. Das bedeutet natürlich auch Rechtsstaatlichkeit, das bedeutet insbesondere, was ich eben gesagt habe, gutes Regieren. Das ist ein langfristiges Programm. Man wird vielleicht kurzfristig Hilfe noch geben können. Natürlich spielt der Tourismus auch eine wichtige Rolle, derade in Tunesien. Wir haben auch zum Beispiel interessante Projekte, wie die Nutzung von Solarenergie. Also das sind schon Dinge, die die Europäische Union voranbringen kann.

Geissler: Was den politischen Prozess selbst angeht - es gibt ja praktisch keine organisierte Opposition in Tunesien. Ist das in den zwei Monaten bis zur geplanten Wahl überhaupt zu leisten, eine funktionierende Parteienlandschaft hinzubekommen?

Mützenich: Nein, wahrscheinlich ganz, ganz schwierig. Insbesondere weil es ja auch eine starke Unterdrückung gegeben hat. Die Opposition, die offiziell zugelassen worden ist, ist keine wahre Opposition. Es gibt vielleicht ein, zwei Abgeordnete, die man zu so einer Opposition zählen kann. Es gibt viele Menschen von politischer Elite, die im Exil sind. Das wird seine Zeit dauern, aber ich glaube auch, die Europäischen Union ist gut beraten, in Zukunft stärker darüber nachzudenken, ob wir auch zum Beispiel Kontakte, wie wir sie hier nennen, mit einem politischen Islam aufnehmen, der auch zu diesem System gehört. Die sind ja sehr stark auch in Tunesien unterdrückt worden. Also ich glaube, eine letztlich gute Regierungsbildung wird nicht umhinkommen, auch solche Kräfte mit einzubeziehen.

Geissler: Politischer Islam, sagen Sie. Die Islamisten in Tunesien gelten bisher ja als schwach, was den Rückhalt in der Bevölkerung angeht. Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass die jetzt vielleicht doch erstarken könnten in diesem ganz frischen Parteibildungsprozess?

Mützenich: Also der frühere Präsident ist sehr stark auch gegen diese Gruppen vorgegangen. Er hat dort auch die Unterstützung von Europa bekommen. Damals auch sehr stark noch von der amerikanischen Regierung. Das ist wahr. Auf der anderen Seite habe ich diese Gruppen des politischen Islams in Tunesien so gesehen, dass sie nicht zu den radikalen Gruppen gehört haben, dass sie auch bereit sind, dieses Land mit aufzubauen, mit zu regieren. Also ich glaube, es braucht eine sehr differenzierte Sicht auf unterschiedliche Länder in der Region, wenn es um die Frage des politischen Islam geht.

Geissler: Die unterschiedlichen autoritären arabischen Nachbarregierungen haben ja bemerkenswert zurückhaltend auf diesen Umsturz in Tunesien reagiert. Mit demonstrativen Respekt zwar vor dem tunesischen Volk, wie etwa Ägyptens Präsident Mubarak, aber ein Stück weit offensichtlich auch unsicher, ob so etwas übergreifen kann. Rechnen Sie mit einem Dominoeffekt?

Mützenich: Ob es unmittelbar sozusagen ein Dominoeffekt gibt, das kann man schlecht voraussagen, aber auf der anderen Seite sind natürlich die Machthaber nicht nur in den Nachbarländern, sondern insgesamt in der Region durch derartige Dinge verunsichert, auch aufgeschreckt, weil sie vor den selben Herausforderungen stehen wie in Tunesien: zum Beispiel demographische Herausforderung, Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, auch gut ausgebildete interessierte junge Menschen in Arbeit zu bringen, soziale Sicherungssysteme aufzubauen. Das sind die Dinge, die in den letzten, finde ich, Jahren, Jahrzehnten immer wieder diskutiert worden sind, wo die Vereinten Nationen auch Programme vorgelegt haben, die hätten genutzt werden können. Aber die Korruption hat dem zum Beispiel entgegengestanden.