Das Ende des amerikanischen (Alb-)Traums?

Auch wenn man Donald Trump zu Gute halten kann, dass er im Gegensatz zu seinen Vorgängern „nur“ Handelskriege geführt hat, ist seine außenpolitische Gesamtbilanz desaströs: Diktatoren wurden hofiert und Verbündete brüskiert. Er trat aus dem Pariser Klimaabkommen und – auf dem Höhepunkt der Pandemie – aus der Weltgesundheitsorganisation aus.

Hinzu kommen die Infragestellung der NATO und das Aufkündigen nahezu sämtlicher Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen, vom iranischen Atomabkommen über den INF-Vertrag bis hin zum Opens-Skies-Vertrag. Die liberale Weltordnung und das multilaterale System auf Basis der Vereinten Nationen wurden ausgerechnet vom Präsidenten derjenigen Nation angegriffen und in Frage gestellt, die sie – durchaus auch aus eigenem Interesse – geschaffen hat.

Eine Rückkehr zur vermeintlich heilen Welt der Pax Americana wird es aber auch unter dem neuen Präsidenten Biden nicht geben. Die strukturellen Machtverschiebungen im internationalen System hin zu einem Wettbewerb der großen Mächte bleiben bestehen. Die wirtschaftliche und militärische Eindämmung Chinas wird auch unter der Administration Biden weitergeführt werden. Und in der Frage des burden sharing oder Nord Stream 2 werden auch weiterhin amerikanische Kritik und Forderung artikuliert werden, zumal der Kongress ein wichtiges Wort mitzureden hat.

Der entscheidende Unterschied wird der freundlichere Ton sein. Biden wird sicherlich nicht im Stile eines Schutzgeldeintreibers auf NATO-Gipfeln auftreten und das Bündnis an sich in Frage stellen. Auch der angekündigte Abzug und die Verlagerung von US-Truppen aus Deutschland dürften so nicht stattfinden.

Der größte Unterschied zwischen dem neuen Präsidenten und seinem erratischen Vorgänger dürfte jedoch darin liegen, dass Biden Außen- und Sicherheitspolitik nicht ausschließlich als Deals und in Kategorien von „Verlierern“ und „Gewinnern“ betrachtet, sondern Interesse an der Aufrechterhaltung beziehungsweise der Wiederherstellung der regelbasierten internationalen Ordnung haben wird.

Zudem weiß er um die Bedeutung von Partnern und Bündnissen. Für Deutschland und Europa ist das eine gute Nachricht. Mit Joe Biden an der Spitze könnte Europa zusammen mit den USA – statt wie in den letzten vier Jahren gegen sie – den Kampf gegen die weltweite Erosion von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufnehmen. Die von Heiko Maas auch gegen Donald Trump ins Leben gerufene „Allianz der Mulitlateralisten“ könnte vielleicht bald ein wichtiges Mitglied mehr in ihren Reihen begrüßen.

In einem programmatischen Essay für Foreign Affairs beschreibt Biden den neuen Systemkonflikt als Kampf zwischen der freien Welt und ihren autoritären Herausforderern von außen und von innen: "Der Triumph von Demokratie und Liberalismus über Faschismus und Autokratie schuf die freie Welt. (…) Aber dieser Wettstreit definiert nicht nur unsere Vergangenheit. Er wird auch unsere Zukunft bestimmen." Grundsätzlich kann man dem folgen. Problematisch wird es allerdings, wenn Biden an Stelle internationaler Organisationen allein eine sogenannte „Allianz der Demokratien“ die internationale Agenda bestimmen lassen will. Dies könnte zu neuen Konfliktkonstellationen führen.

Joe Biden hat bereits im Wahlkampf klar gemacht, dass auch er in China den großen geopolitischen Rivalen sieht, den es militärisch und ökonomisch einzudämmen gilt. Vermutlich wird die neue US-Administration erwarten, dass Berlin und Brüssel sich eindeutiger und klarer als in den vergangenen vier Jahren an die Seite Washingtons stellen, etwa in der Frage der Beteiligung chinesischer Firmen am Aufbau von 5G-Netzen. Es könnte sein, dass die Rückkehr zur Kooperation mit Washington für Europa eventuell geringere Bewegungsfreiheit gegenüber China und höhere Kosten zur Folge haben wird – ökonomisch wie politisch.

Ein neuer trilateraler Gesprächsansatz (USA, China, Europa) könnte hier neue Möglichkeiten ausloten. Ein fairer Wettbewerb und konstruktive Beiträge Chinas zur internationalen Ordnung sind jedenfalls ein gemeinsames Anliegen Europas wie der Vereinigten Staaten. Hinzu kommt die gemeinsame Sorge über das zunehmend expansivere Auftreten Pekings: Das Ermächtigungsgesetz für Hongkong, Drohungen gegen Taiwan, der Landraub und das zunehmend aggressive Auftreten Chinas im Südchinesischen Meer, die Grenzgefechte mit Indien und die brutale Unterdrückung von Minderheiten im Innern. Hinzu kommen unfaire Handelspraktiken, erzwungener Technologietransfer, Diebstahl geistigen Eigentums und Versuche, die Deutungshoheit über den Ursprung des Corona-Virus zu erlangen. Es ist deshalb zweifelsohne notwendig, dem chinesischen Expansionsdrang etwas entgegenzusetzen – im Idealfall mit einer gemeinsamen transatlantischen nicht-militärischen China-Strategie und im Rahmen einer reformierten Welthandelsorganisation (WTO).  

Den liberalen Demokratien ist mit dem China Xi Jinpings ein mächtiger und leicht reizbarer Konkurrent erwachsen. Dieser Realität muss sich der Westen stellen. Amerikaner und Europäer teilen das Interesse an offenen Gesellschaften, Menschenrechten, demokratischen Standards, fairem Handel, freien Seewegen, der Datensicherheit und des intellektuellen Eigentums. Wenn wir Peking dazu bringen können, sich an diese internationalen Standards zu halten, könnten die drei größten Handelsmächte der Welt nur davon profitieren.

Wenn die EU und die USA künftig in der Welthandelsorganisation mit einer Stimme sprechen würden, statt sich gegenseitig mit Zöllen zu überziehen, könnte man auch dort neue Standards setzen, etwa was erzwungenen Technologietransfer oder den Umgang mit Staatsunternehmen angeht. Auf lange Sicht ist eine wirklich zukunftsfähige internationale Ordnung nur dann möglich, wenn die USA und die Volksrepublik China sich gegenseitig als gleichberechtigte Weltmächte anerkennen würden.

Große Hoffnungen richten sich auf die neue Administration in Bezug auf den Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüstung. So ist davon auszugehen, dass die Regierung Biden den im Februar 2021 auslaufenden New Start-Vertrag über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen verlängern und sich insgesamt um die mühsame Wiederherstellung der von Donald Trump in Trümmern gelegten Rüstungskontrollarchitektur bemühen wird.

Es ist höchste Zeit, die stagnierenden Abrüstungsbemühungen mit neuem Leben zu füllen. Wir brauchen deshalb dringend Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle, wie sie Heiko Maas bereits im Rahmen der Stockholm Initiative unternommen hat. Ein weiterer Anknüpfungspunkt könnte Emmanuel Macrons jüngster Vorstoß zur Stärkung der europäischen Rüstungskontrolle sein. Um Moskaus Ernsthaftigkeit zu prüfen, sollten dabei sowohl nukleare als auch konventionelle Systeme auf die Agenda gesetzt werden, einschließlich der in Europa lagernden 2 000 russischen taktischen Nuklearwaffen.

Eine Rückkehr der USA zum Open Skies- und zum iranischen Atomabkommen ist möglich – vorausgesetzt, dass Teheran die Übereinkunft wieder vollständig umsetzen wird. Des Weiteren bleibt zu hoffen, dass es darüber hinaus auch zu neuen Initiativen hinsichtlich der Mittelstreckenpotenziale unter Einbeziehung Chinas kommen wird.

Wir sollten zudem mit der neuen US-Aministration eine offene Debatte über die Rolle der Nuklearwaffen, die Nuklearstrategie der NATO und der in Deutschland und Europa stationierten US-amerikanischen Atomwaffen führen. Und dies nicht nur, weil in Berlin bis 2025 die Entscheidung über ein Nachfolgeflugzeug des potentiellen Trägersystems Tornados ansteht. Wir agieren und diskutieren immer noch in den veralteten und überkommenen Abschreckungskategorien des Kalten Krieges. Dabei sind wir mit einer neuen nuklearen Ordnung konfrontiert, die weit komplexer, unübersichtlicher und vor allem gefährlicher ist, als das relativ stabile „Gleichgewicht des Schrecken“, welches im Übrigen bei weitem nicht so sicher war, wie es im Nachhinein vielen scheinen mag.

Bei den Fragen Nord Stream 2 und der Höhe der deutschen Verteidigungsausgaben wird es auch mit der neuen US-Regierung – wie zuvor schon mit den Vorgängerregierungen – zu Konflikten und Meinungsverschiedenheiten kommen. Auch die SPD möchte, dass die Bundeswehr die Ausrüstung bekommt, die sie braucht. Es ergibt aber nur wenig Sinn, die Höhe der Verteidigungsausgaben an einer bestimmten willkürlich festgelegten Prozentzahl festzuschreiben, ohne das internationale Umfeld und die konkrete Bedrohungslage zu berücksichtigen.

Zudem muss sich Deutschland hier keinesfalls verstecken. Wir haben die Verteidigungsausgaben deutlich auf 51,5 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr erhöht und unseren Anteil (befördert durch den Konjunktureinbruch durch die Corona-Pandemie) von 1,2 Prozent auf fast 1,6 Prozent des BIP gesteigert. Konsequenterweise müsste man im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffes auch die Ausgaben für Entwicklungs- und humanitäre Hilfe mit einbeziehen. Statt blindlings in vorauseilendem Gehorsam weiter aufzurüsten, sollten wir uns um ein effizienteres Beschaffungswesen und – Stichwort pooling und sharing – um die effektivere Nutzung der vorhandenen europäischen Potenziale bemühen.

Ich bleibe deshalb bei meiner zugespitzten Formulierung, dass die Fixierung auf das Zwei-Prozent-Ziel einem „Tanz ums goldene Kalb" gleichkommt. Zumal auf dem Gipfel in Wales 2014 lediglich vereinbart wurde, dass die NATO-Staaten „darauf abzielen, sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von zwei Prozent zuzubewegen“. Zudem muss man den historischen Kontext berücksichtigen. In Wales versuchte das Bündnis unmittelbar nach der russischen Annexion der Krim, ein Abschreckungssignal an Russland und ein Beruhigungssignal an die osteuropäischen Partner zu senden.  

Sollte Deutschland 2024 tatsächlich zwei Prozent des BIP ausgeben, hätte dies zur Folge, dass der Verteidigungsetat auf etwa 70 Mrd. US-Dollar steigen würde und damit höher läge als der Russlands. Ein Blick auf die Militärausgaben der USA, Chinas und Russlands zeigt zudem, wer sich vor wem fürchten müsste. Laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI gaben 2019 allein die USA 732 Mrd. US-Dollar aus und damit 2,8-mal so viel wie China, das auf 261 Milliarden kommt. Es folgt Russland mit 65,4 Mrd. US-Dollar. Die 27 EU-Staaten zusammen geben derzeit über 300 Milliarden US-Dollar für Militär aus – hinzu kommt Großbritannien mit knapp 50 Mrd. US-Dollar. Insgesamt lagen die Militärausgaben der 29 NATO-Mitgliedsstaaten 2019 bei über einer Billion US-Dollar.

Angesichts der Herausforderungen der Corona-Pandemie muss es im Interesse aller sein, Abrüstung und Rüstungskontrolle zu stärken. Die Milliarden sind im Kampf gegen die Pandemie und gegen Armut besser angelegt als in weiteren Aufrüstungsrunden. Die des Anti-Amerikanismus sicherlich unverdächtige Kommissionspräsidentin und ehemalige Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen, hat zu Recht angemerkt, dass es unsinnig ist, Europa „ausschließlich militärisch zu denken“, und Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit mindestens genauso so wichtig sind. Ebenso wie mit der Aussage, dass man das europäische Umfeld „auf Dauer durch Investitionen, und weniger durch Interventionen“ stärkt.

Statt in einen Rüstungswettlauf mit China einzutreten, sollte man versuchen, Peking in eine neu zu schaffende internationale Rüstungskontrollarchitektur einzubinden – gleiches gilt für Russland. Zudem fällt die Bilanz der Kriege und militärischen Interventionen seit Ende des Kalten Krieges äußerst ernüchternd aus – sowohl in Afghanistan wie in Libyen, Mali und auch auf dem Balkan. Der militärische und finanzielle Aufwand stehen in einem krassen Missverhältnis zum Ertrag. Nirgendwo – mit Ausnahme von Teilen des Balkans – ist es gelungen einen halbwegs stabilen Frieden zu sichern.

Auch wenn sich der weltpolitische Horizont mit dem Amtsantritt Joe Bidens aufhellen wird, führt an mehr europäischer Souveränität und Eigenständigkeit kein Weg vorbei. Ökonomisch ist Europa bereits eine Macht. Ob es auch politisch ein selbstbewusster Akteur werden wird, hängt im geringsten Maße von höheren Verteidigungsausgaben ab. Europa braucht nicht nur eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik und ein eigenes Budget.

Deutschland als international vernetzte Handels- und Exportmacht muss, ebenso wie Europa, Interesse an einer Deeskalation der bestehenden Handelskonflikte mit den USA haben. Gleichzeitig sollte es sich, trotz des gemeinsamen Wertefundaments mit den USA, nicht in den US-amerikanisch-chinesischen Hegemonialkonflikt hineinziehen lassen, sondern vielmehr, zusammen mit den USA und China, alles dafür tun, um den freien Welthandel zu retten und das Denken in Nullsummenspielen zu überwinden. Es kann weder im deutschen noch im europäischen Interesse liegen, dass die Welt künftig in drei konkurrierende Wirtschaftsblöcke (USA, China, Europa) und ihre jeweiligen Peripherien zerfällt. Wir brauchen eine Reform der WTO und eine Rückkehr zum freien Welthandel als friedlicher Austausch von Gütern zum gegenseitigen Vorteil.

Die Wahl Joe Bidens bietet die Chance für eine Neubegründung der transatlantischen Beziehungen und für neue Abrüstungsinitiativen. Eine überzeugende europäische Antwort darauf ist entscheidend für die Zukunft des Kontinents. Europa droht sonst, im aggressiven Systemwettbewerb zwischen den USA und China unter die Räder zu geraten. 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Auch nach Trumps Abgang gibt es keine Rückkehr zur Pax Americana – wie sich Europa jetzt zwischen den USA und China behaupten kann.
Veröffentlicht: 
IPG-Journal.de, 17.11.2020