Erdogans nächster Streich
Interview im Wortlaut:
Alexander Schmidt-Hirschfelder: Entscheidende Abstimmung heute im türkischen Parlament. Auf Antrag der konservativ-islamischen Regierung soll eine Verfassungsänderung durchgeboxt werden, mit der man leichter die Immunität von Abgeordneten aufheben kann. Der Vorstoß richtet sich vor allem gegen die pro-kurdischen Parlamentarier, denen Staatspräsident Erdogan Nähe zum Terrorismus unterstellt. Nicht die einzige besorgniserregende Entwicklung zurzeit in der Türkei. Schauen wir da nur achselzuckend zu?
Rolf Mützenich ist der Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, unter anderem zuständig für Außenpolitik und Menschenrechte. Ich grüße Sie, Herr Mützenich.
Rolf Mützenich: Guten Morgen, Herr Schmidt-Hirschfelder.
Schmidt-Hirschfelder: was würde es denn bedeuten, wenn das türkische Parlament heute so entscheidet, wie Erdogan es will?
Mützenich: Eine Selbstentmachtung eines Parlaments. Und da kann man eben davon sprechen, es sind eben keine selbstbewussten Abgeordneten, die versuchen, die historischen Rechte von Parlamenten letztlich auch zu schützen. Die Immunität ist ja nicht angelegt zur Verhinderung von Strafverfolgung bei privaten Verstößen, sondern es geht sozusagen darum, dass man sich politisch auch frei betätigen kann. Und es zu dieser Selbsteinschränkung kommt, wird natürlich ein weiterer Baustein einer demokratischen Entwicklung in der Türkei entfernt.
Schmidt-Hirschfelder: Kurdische Abgeordnete unter Beschuss, kritische Journalisten im Gefängnis, Erdogan auf dem Weg zum autoritären Alleinherrscher – Wann ist für sie als Außenpolitiker und Menschenrechtsexperten die Schmerzgrenze erreicht?
Mützenich: Sie ist ja teilweise schon erreicht, insbesondere im Vorgehen gegen Medienvertreter, Oppositionelle, Menschenrechtsaktivisten. Deswegen versuchen wir uns ja auch im Rahmen unserer Möglichkeiten für diese Menschen in der Türkei einzusetzen, starke Signale zu geben. Der deutsche Botschafter war ja der Einzige vor einigen Wochen gewesen, der an den Prozess gegen die zwei kritischen Journalisten teilgenommen hat. Das sind Zeichen, die gegeben werden müssen. Die bringen uns nicht immer den Zuspruch und die Zustimmung von Seiten der Regierung, aber ich finde das notwendig. Und im Rahmen der Möglichkeiten sollten wir das weiterhin tun.
Es gab ein Treffen mit Herrn Demirtas, also dem Vorsitzenden der HDP vor einigen Wochen hier in Berlin, von allen Fraktionen und ich finde, auch das ist ein Zeichen, was auf die Innenpolitik in die Türkei wirkt.
Schmidt-Hirschfelder: Wirken kann zumindest, denn wir brauchen ja die Türkei für den Flüchtlingspakt. Ihr Parteikollege, der Außenminister Frank-Walter Steinmeier appelliert: „Ob wir wollen oder nicht, wir brauchen ein Maß an Kooperation, wenn wir Zustände wie im letzten Jahr vermeiden wollen.“
Wann ist denn das Maß wirklich voll?
Mützenich: Ich glaube, es geht dann insbesondere darum, dass wir die Regeln und Normen, die wir bei den Verabredungen mit der türkischen Regierung und dem damaligen Ministerpräsidenten und der Europäischen Union geknüpft haben, das die auch erfüllt werden müssen. Und da war es ein starkes Zeichen des Parlamentspräsidenten Martin Schulz die Vorlagen der EU-Kommission bisher nicht im Europäischen Parlament zu beraten, wenn nicht alle Prinzipien, die verabredet waren, auch erfüllt worden sind.
Schmidt-Hirschfelder: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie da unterbreche, Herr Mützenich, aber jetzt hat auch einer der Vertrauten von Erdogan letzte Woche sinngemäß gesagt, wenn es Stress gibt mit der EU, dann schicken wir halt wieder Flüchtlinge. Was ist das, wenn es kein Erpressungsversuch ist?
Mützenich: Das ist ein Erpressungsversuch und das ist auch eine direkte Drohung, die möglicherweise auch unmittelbar aus dem Präsidentenpalast kommt. Das darf man sich nicht gefallen lassen. Dafür sind eben nicht nur starke Entscheidungen, wie ich sie eben genannt habe, von Seiten des Europäischen Parlaments nötig, sondern auch eine Entgegnung und die ist ja auch gekommen in der letzten Woche.
Schmidt-Hirschfelder: Jetzt kommt aus der CSU die Forderung, den Flüchtlingspakt mit der Türkei platzen zu lassen. Wäre es denn nicht eigentlich ein starkes Signal der EU zu sagen, es ist uns zwar wichtig, dass die Flüchtlingszahlen sinken, aber noch wichtiger ist uns die Wahrung europäischer Werte?
Mützenich: Das ist, glaube ich gar kein Widerspruch. Wir versuchen zurzeit weiterhin von der türkischen Regierung in Erfahrung zu bringen, ob das, was in dem Abkommen geschlossen worden ist, auch bis zum Herbst diesen Jahres umgesetzt werden kann und dann müssen die richtigen Schlüsse auch daraus gezogen werden.
Schmidt-Hirschfelder: Was können die richtigen Schlüsse dann sein? Wir kündigen den Pakt dann doch wieder auf?
Mützenich: Das würde ich nicht ausschließen. Insbesondere dann, wenn die türkische Regierung weiterhin so vorgeht, wie sie in den letzten Wochen vorgegangen ist. Es geht eben konkret darum, ob alle 72 Maßnahmen auch umgesetzt werden können. Ich würde das bedauern, weil die Visaliberalisierung genau denjenigen hilft, die kritische gegenüber der türkischen Regierung eingestellt sind, aber diesen Prozess müssen wir weiterhin verfolgen.