Sorge um die Entwicklung in der Türkei
Camillo Schumann: Eher selten waren die EU und Deutschland so auf die Türkei angewiesen wie im Augenblick. Die Türkei hält die Flüchtlinge, so gut es eben geht, zurück und hilft dabei, abgelehnte Asylbewerber zurückzuschicken, und im Gegenzug gibt es EU-Milliarden und vorsichtige Gespräche über eine mögliche EU-Mitgliedschaft. Was aber aktuell in der Türkei passiert, das beunruhigt. Darüber reden wir gleich mit dem SPD-Außenexperten Rolf Mützenich.
Vorher die aktuelle Lage in der Türkei zusammengefasst: Die Türkei ist mehr und mehr in den syrischen Bürgerkrieg verwickelt. Die islamistische Terrormiliz IS ist in der Türkei aktiv, ermordet gezielt Kritiker, beispielsweise Journalisten, die über den Terror berichteten. Das türkische Militär greift IS-Stellungen in Syrien an, geht aber ebenso gegen kurdische Kämpfer vor, und das auch in der Osttürkei. Zehntausende Menschen fliehen vor den Gefechten. Aus Solidarität mit den Kurden haben linke Gewerkschaften heute zum Generalstreik in der Türkei aufgerufen. Was heißt das für EU und NATO und wie müsste Außenminister Steinmeier reagieren? Dazu jetzt Fragen an Rolf Mützenich, Außenpolitikexperte und Fraktionsvize der SPD im Bundestag.
Schönen guten Morgen, Herr Mützenich.
Rolf Mützenich: Guten Morgen, Herr Schumann.
Schumann: Mit welchem Gefühl betrachten Sie die Vorgänge in der Türkei?
Mützenich: Nun, es sind dramatische Stunden, aber auch dramatische Tage, insbesondere die Auseinandersetzung mit den Kurden, mit der PKK durch türkische Sicherheitskräfte und scheinbar auch das unterschiedslose Vorgehen dieser Sicherheitskräfte. Das macht doch schon sehr nachdenklich und auf der anderen Seite aber auch betroffen, weil letztlich auch Menschen fiebern, die hier in Deutschland leben, mit den Kurden in der Türkei.
Schumann: Wir sind ja aktuell mehr denn je von der Türkei in der Flüchtlingskrise angewiesen, aber wegschauen und so tun, als ginge uns das nichts an, das kann ja auch keine Lösung sein. Und droht man, könnte Erdogan die Flüchtlinge möglicherweise wieder weiter nach Europa schicken, das wollen wir ja auch nicht. Schwierige diplomatische Situation. Was also tun?
Mützenich: Das ist es in der Tat und der deutsche Außenminister, aber auch die EU-Außenbeauftragte Mogherini haben ja vor vierzehn Tagen noch mal an die türkische Regierung, an den türkischen Präsidenten appelliert, alles zu versuchen und möglicherweise die suspendierten Friedensgespräche wieder aufzunehmen. Er hat diese Ratschläge relativ schnell innerhalb von Stunden zurückgewiesen und hat das in die Situation gebracht, dass wir uns in die innenpolitischen Angelegenheiten einmischen. Ich halte das für falsch, diese Analyse, denn es geht insbesondere darum, dass wir als Europäische Union aber auch als Deutsche, Interesse haben, dass an die Friedensgespräche wieder angeknüpft wird.
Schumann: Das ist unser Interesse. Leider scheint es folgenlos zu bleiben. Es muss was getan werden. Was wäre denn Ihr Vorschlag?
Mützenich: Nun, insbesondere müssen wir an die türkische Regierung aber letztlich auch an die PKK appellieren, einen Waffenstillstand zu vereinbaren, Waffenruhe auch in den umkämpften Regionen. Ich halte das nicht für ganz ausgeschlossen. Wenn zum Beispiel Vermittler dafür notwendig sind, stehen sie auch bereit, ich glaube, sowohl von den Vereinten Nationen, aber auch der Europäischen Union. Wenn sie von beiden Seiten akzeptiert wird, könnte hier eine Möglichkeit bestehen. Und auf der anderen Seite dürfen wir es nicht unterlassen, weiterhin an die türkische Regierung zu appellieren, von diesem Kurs endlich auch Abstand zu nehmen.
Schumann: Es ist ja auch sehr beängstigend, wenn der IS in der Türkei Jagd auf Oppositionelle macht und auch tötet, während die Regierung Erdogan gegen die Kurden kämpft, die ja auch Verbündete sind im Kampf gegen den IS. Macht es Erdogan dem IS nicht auch sehr sehr leicht, sich weiter auszubreiten?
Mützenich: In der Tat. Und es gibt ja auch immer wieder Berichte aus den letzten Jahren, dass der IS sich teilweise eben auch sogar auf türkisches Gebiet zurückziehen konnte, dass Verletzte auch in türkischen Krankenhäusern behandelt wurden, dass der Waffenschmuggel nicht unterbunden worden ist. Das hat sich scheinbar ein bisschen geändert, insbesondere nachdem die Anschläge auf Versammlungen der kurdischen Parteien damals im Wahlkampf erfolgt sind. Auf der anderen Seite muss man sich eben auch darüber gewiss werden, dass es offensichtlich auch Gruppen außerhalb des Staates gibt, die den IS von türkischem Boden aus unterstützen und ich finde, das gehört dann genauso zu einer Diskussion mit der türkischen Regierung dazu.
Schumann: Kann es sein, dass Präsident Erdogan bei allem Machterhaltungstrieb die großen Probleme seines Landes vielleicht nicht mehr in den Griff bekommt und wir möglicherweise als EU und Deutschland davon dann auch betroffen sind?
Mützenich: Auf jeden Fall. Ich glaube, dass jede politischen Auseinandersetzung in der Türkei - das hat ja auch die Vergangenheit gezeigt - schnell in die Nachbarländer, aber auch in die Länder der Europäischen Union überschwappen könnte, nach Deutschland, Frankreich, Belgien, dort, wo Kurden und Türken möglicherweise diesen innenpolitischen Konflikt zum Anlass nehmen, um wieder gegeneinander vorzugehen. Wir wissen noch von den Autobahnsperrungen, aber auch von Anschlägen in den Siebziger und Achtziger Jahren. Dies ist nicht ausgeschlossen und deswegen besteht auch seitens der deutschen Regierung, aber auch von den Parteien, die Pflicht, mit der türkischen Regierung, aber auch mit anderen Organisationen in der Türkei weiterhin über dieses Problem zu sprechen und auch möglicherweise gute Dienste, wenn sie denn gewünscht sind, anzubieten.