"Kriege müssen von Menschen befriedet werden"
Der Syrien-Konflikt sei nur sehr schwer einzugrenzen, sagt SPD-Fraktionsvize Rolf Mützenich. "Wir müssen aber jede Möglichkeit nutzen." Im Interview erklärt er, warum sich so viele Menschen auf der Flucht befinden und fordert mehr Solidarität von den EU-Mitgliedstaaten.
"Fluchtursachen bekämpfen" lautet eine zentrale Forderung, wenn derzeit über Flüchtlingspolitik gesprochen wird. Was ist damit genau gemeint?
Der Ausdruck "Fluchtursachen bekämpfen" klingt aus meiner Sicht sehr technisch. Es ist ja ein ganzes Bündel von Ursachen, das Menschen dazu bringt, zu flüchten. Sie sind auf der Flucht aufgrund von wirtschaftlichen Krisen, Umwelteinflüssen, und aufgrund von Kriegen.
Derzeit sind 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, davon sind mehr als die Hälfte sogenannte Binnenflüchtlinge, sie fliehen also innerhalb ihrer Länder. Wir in Europa sind derzeit zu einem großen Teil mit Flüchtlingen aus Syrien konfrontiert, wo die humanitäre Lage anhaltend katastrophal ist. Deren Zahl beläuft sich nach UN-Angaben mittlerweile auf 4,3 Millionen, darunter mehr als zwei Millionen Kinder. Hinzu kommen noch 6,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Dabei sind Kriege kein Naturgesetz, sondern immer von Menschen gemacht und sie müssen auch von Menschen befriedet werden.
Was können Deutschland und die EU dafür tun?
Kurzfristig geht es vor allem um humanitäre Hilfe und darum, die Hilfsorganisationen vor Ort in den Flüchtlingslagern zu unterstützen. Deshalb haben wir in diesem Jahr nochmal unsere Mittel für die humanitäre Hilfe erhöht. Seit 2012 hat Deutschland über eine Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Und für 2015 bis 2017 werden wir diese Summe nochmal um 500 Millionen Euro anheben. Wichtig ist jedoch, dass die Länder, die sich zu humanitärer Hilfe verpflichtet haben, diese Mittel dann letztlich auch bereitstellen und nicht nur ankündigen, dieses zu tun. Und diese Mittel müssen zielgerichtet ankommen. Dafür müssen wir stärker als bisher direkt mit den Hilfsorganisationen vor Ort schnell und unbürokratisch zusammen arbeiten.
Wohin fließen die Mittel denn konkret?
Die Mittel gehen vor allem an die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen, die vor Ort in den Flüchtlingslagern Essenrationen und Medikamente austeilen, aber auch versuchen, Bildungsangebote bereit zu stellen. Wir müssen zudem den unmittelbaren Nachbarländern Syriens und des Irak dabei helfen, die große Zahl von Flüchtlingen so gut wie möglich zu versorgen und zu integrieren. Allein der Libanon hat - bei gerade mal 5 Millionen Einwohnern - über eine Million Flüchtlinge aufgenommen und in der Türkei sind 2,2 Millionen Flüchtlinge registriert. Diese Zahlen zeigen, welche humanitären aber auch logistischen Herausforderungen hier noch vor uns liegen.
Welche Hilfen können wir langfristig leisten?
Langfristig können wir mit den Mitteln aus der Entwicklungszusammenarbeit vieles tun, indem wir Infrastruktur aufbauen, indem wir die Angebote im Bildungs- und Gesundheitsbereich verbessern und indem wir die Institutionen vor Ort bei der Bewältigung der Situation unterstützen.
So wichtig humanitäre Hilfen sind, sie werden keine Kriege wie den Syrien-Konflikt befrieden. Worum geht es bei diesem Konflikt?
Es geht hier einmal um einen inneren Machtkonflikt mit unterschiedlichen Gruppen, die sich teilweise religiös oder ethnisch definieren und manchmal auch nur einer Bürgerkriegslogik von Drogen-, Menschenhandel und vielem anderen folgen. Dazu haben sich auswärtige Akteure dieser Gruppen bemächtigt, darunter Saudi-Arabien, Katar und vor allem der Iran, der sich über die libanesische Hisbollah in Syrien direkt an der Seite Assads an den Kriegshandlungen beteiligt. Hinzu kommen die Großmächte USA und Russland, die in einer Art Stellvertreterkrieg ebenfalls auf unterschiedlichen Seiten unterwegs sind - Russland mittlerweile sogar mit eigenen Bodentruppen.
Das klingt nicht danach, dass dieser Konflikt in absehbarer Zeit zu lösen ist. Wo kann man auf diplomatischer Ebene ansetzen?
Dieser Konflikt ist brutal und rücksichtslos gegenüber der Zivilbevölkerung. Mit dem Einsatz von Fassbomben oder chemischen Kampfstoffen werden internationale Vereinbarungen wie die Genfer Konvention gebrochen. Ich glaube in der Tat, dass dieser Konflikt nur sehr schwer einzugrenzen ist. Wir müssen aber jede Möglichkeit nutzen. Umso mehr unterstützen wir die Bemühungen des Beauftragten der Vereinten Nationen, Staffan de Mistura. Er versucht in Syrien, mit lokalen Waffenruhen humanitäre Hilfe zu ermöglichen und daraus vielleicht langfristig auch einen generellen Waffenstillstand zu entwickeln. Außerdem bin sehr dankbar dafür, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier erfolgreich dafür geworben hat, dass sich die USA und Russland über ihre gemeinsamen Interessen in Syrien verständigen. Und jetzt sitzen erstmalig auch der Iran und Saudi-Arabien mit am Tisch. Dies kann aber nur ein Anfang sein. Es wird fürchte ich noch sehr lange dauern, um hier auf der diplomatischen Ebene zu einem Waffenstillstand oder gar zu einer Friedenslösung zu kommen.
Eine Schlüsselrolle für die Fluchtbewegungen nach Europa spielt die Türkei, die sich innenpolitisch unter Präsident Erdogan aber eher weg von Europa bewegt. Wie problematisch ist das in der Zusammenarbeit?
Das ist sehr problematisch. Der aktuelle Fortschrittsbericht der EU zeigt, dass die Türkei derzeit eher Rückschritte im Bereich der Menschenrechte, Pressefreiheit und sozialer Gerechtigkeit macht. Erdogan ist ein Präsident, der nicht zum Zusammenwachsen, sondern zur Spaltung des Landes beiträgt. Das macht eine Zusammenarbeit mit der Türkei auch in der Flüchtlingsfrage sehr schwierig. Zugleich ist sie unabdingbar, da das Land die mit Abstand größte Zahl von Flüchtlingen aus Syrien, nämlich 2,2 Millionen, aufgenommen hat. Es ist eine paradoxe Situation: Gerade die Unionsparteien haben ja in den vergangenen Jahren eine Annäherung zwischen der EU und der Türkei verhindert. Erst jetzt erkennen sie, wie wichtig und zentral die Türkei für die europäische Sicherheit und für die Lösung der Flüchtlingsfrage ist und wollen nun plötzlich auf Erdogan zugehen.
Was bedeutet die innenpolitische Situation für die Zusammenarbeit?
Die Zusammenarbeit mit der Türkei wird natürlich nicht einfacher. Aber wir müssen damit umgehen. Vor allem sollten wir uns konkret auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Flüchtlinge, die derzeit in der Türkei leben oder noch dorthin kommen, konzentrieren. Natürlich müssen wir die Türkei dabei unterstützen, die Versorgung der vielen Flüchtlinge im Land humanitär und sozial so gut wie möglich zu bewältigen. Auch wenn wir über das Finanzielle hinaus um Hilfe gebeten werden, etwa um technische Hilfe, dann sollten wir das tun. Dort wo es aber unterschiedliche politische Auffassungen zwischen uns und der Türkei in Fragen der Demokratie, der Menschenrechte oder der Pressefreiheit gibt, sollten wir diese ganz klar benennen.
Setzt Europa derzeit mehr auf Stabilität als auf Demokratie in Zusammenarbeit mit anderen Ländern?
Davor würde ich warnen. Es entspricht aber auch nicht der Realität. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei demokratischer wird. Wir haben ein großes Interesse, dass das Land nicht entlang ethnischer und religiöser Minderheiten und Mehrheiten gespalten wird. Wir haben das Interesse, das sich auch in der arabischen Welt insgesamt demokratische Kräfte stärker bemerkbar machen, wir fördern Tunesien in seinem Umbauprozess.
Demokratieförderung schließt aber nicht aus, dass wir auch an Stabilität interessiert sind, im Gegenteil: Ich bin fest davon überzeugt, dass langfristig mehr Demokratien auch zu mehr Stabilität führen werden.
Europa war immer ein Projekt der offenen Grenzen. Jetzt wird diskutiert über Grenzschließungen nach außen und innen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Die derzeitige Krise ist eine große gesamteuropäische Herausforderung, die leider nicht gemeinsam von allen angegangen wird, da die Mitgliedsländer der EU ihre Interessen ganz unterschiedlich definieren. Dass nur einzelne Länder wie Deutschland oder Schweden die Hauptlast bei der Flüchtlingsaufnahme tragen, entspricht nicht meinem Verständnis von europäischer Solidarität. Die Mitgliedstaaten können nicht auf der einen Seite von den Regionalisierungsfonds der EU profitieren, und auf der anderen Seite Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen verweigern. Das sollte man vor allem den osteuropäischen Mitgliedsländern viel deutlicher klar machen. Hier hat auch die Bundeskanzlerin eine große Verantwortung.
Welche Möglichkeiten gibt es, die Länder zu mehr Solidarität zu bewegen?
Man muss bestimmte Hilfsleitungen an die Bereitschaft zur Flüchtlingsaufnahme koppeln, wie es ja auch Kommissionspräsident Juncker vorgeschlagen hat. Denn Apelle helfen scheinbar nicht mehr. Grundsätzlich müssen wir aber auch einen deutlich schärferen Ton bei Regierungen anschlagen, die generell gegen europäische Werte verstoßen. Ein Gespräch reicht eben nicht aus, um beispielsweise dem ungarischen Regierungschef Victor Orban klar zu machen, dass seine Regierung mit Konsequenzen zu rechnen hat, wenn sie europäische Grundsätze und Werte missachtet.