"Bäumchen-wechsle-dich war absehbar"
Stefan Sauer: Herr Mützenich, wie bewerten Sie die neuerliche Kandidatur Wladimir Putins für das Amt des russischen Präsidenten?
Rolf Mützenich: Die Tatsache an sich ist ja nicht überraschend. Das Bäumchen-wechsle-dich mit dem derzeitigen Premier Dmitri Medwedew war absehbar. Bemerkenswert ist aber der Zeitpunkt der Ankündigung. Ich führe das auf die verschlechterte soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Monaten zurück, die auch die Kritik an der Regierung hat anschwellen lassen.
Sauer: Kann Putin sich denn seiner Wiederwahl angesichts dessen so sicher sein?
Mützenich: Nach menschlichem Ermessen schon. Starke Oppositionsparteien oder prominente populäre Oppositionspolitiker fehlen. Zugleich glauben viele Menschen in Russland immer noch sehr an eine einzelne Autorität, an den starken Mann, der die Fäden in der Hand halten sollte. Außerdem betrachten breite Teile der Bevölkerung die erste Amtsperiode Putins als eine Periode der Stabilität und positiver Entwicklungen. Das gilt insbesondere im Vergleich zu seinem Amtsvorgänger Jelzin.
Sauer: Michael Gorbatschow hat befunden, Russland steuere mit einer neuerlichen Präsidentschaft Putins einer Ära der Stagnation wie einst unter Leonid Breschnew und der KPdSU. Hat er Recht?
Mützenich: Ausschließen kann man das nicht. Auf der anderen Seite wird auch eine starke Figur wie Putin nicht unabhängig von den Befindlichkeiten der Bevölkerung regieren können. In der neuen städtischen Mittelschicht wächst der Wunsch nach Reformen, nach einer offeneren Gesellschaft. Putin wird das nicht ignorieren können. Wenn er keine wirklichen Alternativen zu seiner Partei ?Einiges Russland? zulässt, kann das auf mittlere Sicht zu einem Problem für ihn werden.
Sauer: Was genau fehlt Russland denn zu einer offenen demokratischen Gesellschaft nach unserem Verständnis?
Mützenich: Wirklich freie Wahlen, wie wir sie kennen, sind in Russland nur bedingt möglich. Neue Parteien, die liberal oder sozialdemokratisch ausgerichtet sind, werden behindert, aussichtsreiche Oppositionspolitiker sehen sich Schikanen ausgesetzt. Man versucht, jede ernst zu nehmende Opposition möglichst im Keim zu ersticken, in dem man etwa die Wahlgesetze entsprechend manipuliert. Auch die freie Berichterstattung ist eingeschränkt, kritische Medien haben es nicht leicht in Russland. Das alles zeichnet die so genannte "gelenkte Demokratie" Putins aus.
Sauer: Ihr Parteifreund Gerhard Schröder hat während seiner Kanzlerschaft Putin als lupenreinen Demokraten bezeichnet.
Mützenich: Ich habe mir diese - immer verkürzt wieder gegebene - Aussage nie zu eigen gemacht. Aus sozialdemokratischer Sicht ist das, was Putin mit Blick auf das politische System seines Landes treibt, selbstverständlich zu kritisieren.
Sauer: Wie werden sich die Beziehungen Russlands zur EU und zu Deutschland unter Putin entwickeln?
Mützenich: Das hängt davon ab, ob und in welchem Maße Putin das europäische Angebot einer Modernisierungspartnerschaft ernst und annimmt. Die EU tut gut daran, sich auf die junge und eher kritisch eingestellte Mittelschicht zu konzentrieren und zum Beispiel Visa-Erleichterungen für russische Staatsangehörige einzuführen.
Sauer: Das klingt nach "Wandel durch Annäherung", dem Credo der Ostpolitik Willy Brandts.
Mützenich: Durchaus. Aber diese Annäherung sollte nicht allein der russischen Führung gelten, sondern vor allem der Gesellschaft und den Menschen gelten.