"Von Gaddafi geht große Gefahr aus"
Libyen brennt. Regimegegner befinden sich mit Gaddafi-Treuen in einem Straßenkrieg. Das Militär soll sogar die Massen aus der Luft ?bombardieren?, wird berichtet. In den jüngsten Tickermeldungen ist von mehr als 500 Toten die Rede. spd.de hat mit Rolf Mützenich, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, über die brisante Lage in Nordafrika gesprochen.
Mit einem sehr kurzen und sehr skurrilen Auftritt ist der libysche Herrscher Muammar al-Gaddafi heute Spekulationen entgegen getreten, er sei Richtung Venezuela geflohen. Sein Sohn Saif betonte noch am Vortag, dass das Regime bis zum letzten Mann den Aufstand bekämpfen werde. Im Sekundentakt berichten Tickermeldungen über immer neue Ausschreitungen, doch die Nachrichtenlage bleibt unklar. Presse und Internet werden weiterhin konsequent zensiert.
Um einer weiteren Eskalation entgegen zu wirken, fordert Rolf Mützenich, Nordafrika-Experte der SPD, die EU und die Vereinten Nationen auf, sehr schnell mit einer Stimme zu sprechen, Position zu beziehen und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen.
Rainer Vogt: In Libyen herrscht nicht nur Chaos, sondern Mord und Totschlag. Wann können wir mit einem Ende der Gewalt rechnen?
Rolf Mützenich: Die Situation ist sehr gefährlich kann meiner Einschätzung nach noch weiter eskalieren, weil wir es hier mit einem Regime zu tun haben, das offensichtlich auf die Menschen keine Rücksicht mehr nehmen will.
Vogt: Ist Muammar al-Gaddafi ein Pulverfass?
Mützenich: Von ihm geht noch immer eine große Gefahr aus, weil er offensichtlich noch immer Truppen zur Verfügung hat, die maßlos zu Gewalt greifen. Ich fürchte, dass es in den nächsten Tagen noch viele Tote und Verletzte geben wird.
Vogt: Ist der Revolutionsführer überhaupt noch berechenbar? Sein skurriler Auftritt mit Regenschirm im Staatsfernsehen lässt anderes vermuten?
Mützenich: Es war nicht sein erster skurriler Auftritt. Bei Mubarak konnten wir erleben, wie er auf die Demonstrationen und auf die Situation reagiert hat - auch das war eine sehr bizarre Situation, wo ich auch den Eindruck hatte, dass er die Realität überhaupt nicht mehr einschätzen konnte. In Libyen erleben wir offensichtlich etwas Ähnliches.
Vogt: Hatten Sie damit gerechnet, dass die politische Revolte in Nordafrika in einem solchen Tempo derart große Kreise ziehen würde?
Mützenich: Nein, das hatte ich nicht. Doch bei meinen Treffen mit Menschen in den Ländern oder auch mit Delegationen hier in Deutschland habe ich doch eine wachsende Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit gespürt. Das hat auch etwas mit einer neuen regionalen Situation zu tun: Der Irakkrieg ist beendet, die Besatzung durch die Amerikaner wird langsam aufgelöst und Obama hat eine Rede in Kairo gehalten ? es gab Indizien dafür, dass ein Wandel von außen auch gewollt ist und unterstützt wird. Diese Botschaft ist auf protestbereite und sehr gut informierte junge Menschen gestoßen. Doch dass es ein solches Ausmaß annehmen würde, hatte auch ich nicht vorausgesehen.
Vogt: Für viele Beobachter im Westen ist es eine beruhigende Erkenntnis, dass Religion bei den revolutionären Bewegungen eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint.
Mützenich: Mein Eindruck hatte sich in den letzten Jahren immer wieder bestätigt, dass wir es in diesen Ländern nicht nur mit Islamisten zu tun haben. Wie in anderen Regionen auch haben wir es mit mobilen und gut informierten Menschen zu tun. Es sind Gesellschaften, die auch das Potenzial haben, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Es sind "normale" Menschen, die in der Lage sind, ihre Forderung nach Freiheit und Demokratie umzusetzen.
Vogt: Deutschland hatte zuletzt starke wirtschaftliche Interessen mit Libyen verknüpft. Wurde das System Gaddafi zu lange unterstützt?
Mützenich: Wir haben auf jeden Fall Fehler gemacht - auch individuelle Fehler. Doch wir sollten diese nicht wieder auf einzelne Institutionen abladen. Viele, die sich auch professionell mit der Beobachtung dieser Räume beschäftigen, hatten dem Unmut in den Gesellschaften nicht die notwendige Aufmerksamkeit gegeben. Allerdings durften Oppositionelle bei einem Treffen auch nicht gefährdet werden. Es war immer eine Gratwanderung. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Region auch von vielen Einzelkonflikten angeheizt wird wie der Konflikt zwischen Israel und Palästina oder das ungelöste Problem "West-Sahara" mit der Überrüstung zwischen Algerien und Marokko.
Vogt: Amerika nahm Libyen vor fünf Jahren von der Liste der "Schurkenstaaten", weil sich Staatschef Gaddafi vom Terrorismus distanziert hatte. Wurde der libysche Diktator zu schnell rehabilitiert?
Mützenich: Wir dürfen nicht vergessen, was damals zu diesen Entscheidungen geführt hatte. Libyen stellte ja nicht nur wegen des Lockerbie-Anschlags [ein terroristischer Bombenanschlag auf eine Boeing-Maschine der amerikanischen Fluglinie PanAm im Jahr 1988, bei dem alle 259 Insassen ums Leben kamen - Libyen wurde eine Mitverantwortung zugeschrieben, Anm. der Redaktion] ein Problem dar. Gaddafi wollte mutmaßlich über Atomwaffen verfügen - und das konnte erfolgreich auf dem Verhandlungsweg verhindert werden. Aufgrund von Sicherheitsfragen mussten wir uns bemühen, gerade mit diesen Diktator in Kontakt zu bleiben.
Vogt: Was kann die Europäische Union nun konkret tun?
Mützenich: Die Bundeskanzlerin muss alles unternehmen, damit Sonderinteressen, wie sie zum Beispiel vom italienischen Ministerpräsident Silvio Berlusconi und vom französischen Präsident Nicolas Sarkozy in den letzten Wochen gegenüber dieser Region deutlich wurden, nicht die gemeinsame europäischen Position schwächen. Ich fand es bizarr, wie Berlusconi im Nachhinein noch vom ?weisen Mann? Mubarak gesprochen hat, ohne dass er dafür kritisiert wurde oder dass es zu Konsequenzen geführt hat. Wir müssen jetzt zu einer eindeutigen Sprache finden.
Vogt: Was erwarten die Menschen in den Krisengebieten vom Westen?
Mützenich: Sie wollen nicht, dass wir mit fertigen Konzepten in die Region kommen und ihnen vorschreiben, was sie zu tun haben. Wir sollten fragen: Was braucht ihr? Was können wir euch zur Verfügung stellen? Die Menschen erwarten kein finanzielles Füllhorn, sondern Respekt gegenüber ihren Bewegungen, Solidarität und ein Ernstnehmen ihrer Situation. Wir können in vielen Feldern unterstützen, wir dürfen aber nicht mit einem kolonialen Blick ankommen. Unser Blick sollte Respekt und Solidarität beinhalten.
Vogt: Was erhoffen Sie sich von der heutigen Sitzung der Vereinten Nationen?
Mützenich: Was Libyen betrifft, so muss der Sicherheitsrat heute eine klare und eindeutige Haltung gegenüber diesem Regime einnehmen. Ich bin sehr gespannt, ob einzelne Vetomächte wieder versuchen werden, eigene Interessen zu verfolgen. Es wird darauf ankommen, ob die Volksrepublik China hier einen wichtigen Weg mitgeht. Hier kommt es auch auf Deutschland als nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat an, die Demokratisierung mit Nachdruck zu unterstützen. Außerdem sollte deutlich gemacht werden, dass die Verantwortlichen für das brutale Einschreiten gegen die Demonstranten mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen, indem der Internationale Strafgerichtshof eingeschaltet und Vermögen eingefroren wird.