Tunesien: "Der Flüchtlingsstrom geht alle in Europa an"
Martina Fietz: Europa schaut dem Flüchtlingsstrom aus Tunesien reichlich hilflos zu. Hat man zu stark darauf vertraut, dass die Tunesier nach ihrem erfolgreichen Umsturz im Heimatland bleiben wollen?
Rolf Mützenich: Es ist für mich nicht verwunderlich, dass viele Menschen aus Tunesien nach Europa kommen wollen. Diese Tendenz hat es immer gegeben, also musste man davon ausgehen, dass die Zahl der Flüchtlinge steigen würde, sobald Grenzkontrollen und Polizeibarrieren verschwunden sind. Europa wäre nun gut beraten, intensiv daran mitzuwirken, dass die Perspektiven für die Menschen in Tunesien besser werden. Das ist die beste Flüchtlingspolitik, die wir betreiben können.
Fietz: Was heißt das konkret?
Mützenich: Es geht darum, den Tunesiern wie auch den Ägyptern zu helfen, lebensfähige Gesellschaften aufzubauen. Deutschland sollte mit den tunesischen Behörden klären, wie wir konkret helfen können, vor allem die soziale Lage von jungen Menschen zu verbessern. Wir können umfangreiche Erfahrungen aus dem Bildungsbereich weitergeben, etwa bei Fragen der dualen Ausbildung. Darüber hinaus muss die EU insgesamt sich zu einer klugen Zoll- und Handelspolitik entschließen.
Fietz: Exporte aus Tunesien in die EU sind doch umfangreich möglich.
Mützenich: Wir haben Zollfreiheit bei Industriegütern, aber nicht im Agrarsektor. Die Abschottung der europäischen Landwirtschaft muss dringend überdacht werden. Das ist keine zeitgemäße Politik mehr. Insgesamt geht es darum, den Menschen in Tunesien und anderswo eine Perspektive zu eröffnen. Sie sind bestimmt nicht alle auf die Straße gegangen, um dann ihre Heimat zu verlassen. Sie müssen aber eine Chance bekommen, sich dort auch lebenswerte Existenzen aufbauen zu können.
Fietz: In Deutschland hat eine Debatte darüber eingesetzt, ob wir Flüchtlinge aufnehmen oder nicht. Die Bundeskanzlerin ist dagegen. Was sagen Sie?
Mützenich: Die Botschaft der Kanzlerin ist zu kurz gegriffen. Wenn sie erklärt, Deutschland wolle keine Flüchtlinge aufnehmen, muss sie doch sagen, wie diese schwierige Lage ihrer Meinung nach bewältigt werden kann. Dabei ist es keine Lösung, das Problem als eines der Südländer der EU wegzuschieben. Das Thema geht alle in Europa an. Die Bundeskanzlerin muss alles daran setzen, dass die EU hier geschlossen Hilfestellung leistet.
Fietz: Also muss Deutschland Ihrer Meinung nach auch Flüchtlinge aufnehmen?
Mützenich: Wir müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, dass Menschen politisches Asyl beantragen werden, weil sie in Tunesien politisch verfolgt wurden. Wir werden es zu tun bekommen mit Menschen, die im Gefängnis waren und erst nach den Unruhen wieder freikamen und vielleicht gar nicht mehr in ihrer Heimat bleiben möchten. Eine individuelle Prüfung dieser Frage ist sehr wohl möglich. Außerdem müssen wir hier auch Italien helfen - kurzfristig mit Personal zur Bewältigung der aktuellen Probleme, aber langfristig auch durch die Aufnahme eines Teils der Flüchtlinge, auch wenn sie nicht aus politischen Motiven kommen. Das genaue Vorgehen muss aber innerhalb der Europäischen Union abgestimmt werden.
Fietz: Sie fliegen jetzt in den Libanon. Warum?
Mützenich: Es geht zum einen darum, den Prozess der Regierungsbildung zu beobachten, der noch nicht abgeschlossen ist. In meinen Gesprächen vor Ort will ich aber auch sondieren, welche Auswirkungen die Vorgänge in Ägypten auf den Libanon haben. Die gesamte Region ist in Bewegung geraten. Es ist ein gutes Signal, dass die Regime der alten Männer beendet werden konnten. Umso wichtiger ist es nun, den Handelnden vor Ort zu dokumentieren, dass Europa den gesamten Prozess nicht teilnahmslos begleitet.