"Keine einfache und rasche Lösung für Afghanistan"
Reinhard Hermle: Deutschland ist im Rahmen der UNISAF-Mission militärisch in Afghanistan engagiert. Warum halten Sie das für richtig?
Rolf Mützenich: Der Einsatz von ISAF in Afghanistan ist unverzichtbar für die Schaffung eines sicheren Umfeldes, in dem langfristig Stabilisierung und Entwicklung stattfinden können. Insofern verfolgt ISAF keine allein militärische, sondern vor allem eine politische Zielsetzung. Die SPD-Bundestagsfraktion hat von Beginn des Afghanistaneinsatzes an deutlich gemacht, dass der Kampf gegen den Terrorismus mit militärischen Mitteln allein nicht zu gewinnen ist und den neuen globalen Bedrohungen auf Dauer nur mit einer konsequenten zivilen Konfliktbearbeitung und Krisenprävention entgegen gewirkt werden kann. Es ist nicht Aufgabe und Ziel von ISAF, einen "Krieg" in Afghanistan zu führen. Schwerpunkt des deutschen Afghanistan-Engagements muss auch weiterhin der Wiederaufbau und die Unterstützung der afghanischen Regierung zur Übernahme der Sicherheitsverantwortung im Land sein.
Hermle: Die Sicherheitslage hat sich eher verschlechtert. Was ging schief?
Mützenich: Die Sicherheitslage hat sich seit 2005 verschlechtert, weil es der internationalen Gemeinschaft, vor allem der alten US-Administration, an einer gemeinsamen politischen Strategie mangelte. Auch das Drogenproblem und die Korruption in der Regierung und Verwaltung Afghanistans fordern gewaltige Anstrengungen, um den Trend umzukehren. Die veränderte Sicherheitslage erfordert einen schnelleren Aufbau afghanischer Sicherheitsstrukturen und eine Verstärkung des deutschen Engagements bei der Ausbildung von afghanischer Polizei und Armee.
Hermle: Tun wir genug für den zivilen Aufbau des Landes?
Mützenich: Bislang eindeutig nein! Afghanistan liegt nach wie vor auf dem vorletzten Platz des Human Development Index und gehört damit zu den ärmsten Ländern der Welt. Ich hoffe, dass die Londoner Afghanistan-Konferenz (Januar 2010) hier die richtigen Weichen gestellt hat. Auch wenn in der Öffentlichkeit vorwiegend die militärischen Aspekte des Engagements diskutiert werden, dürfen die Erfolge, die politisch und beim Aufbau erreicht wurden, nicht aus dem Blickfeld geraten. In einer unvoreingenommenen Bilanz dürfen aber auch sie nicht fehlen. Dazu gehören die Durchführung von freien Wahlen und die Entstehung von Verfassungsorganen. Seit Januar 2004 hat Afghanistan mit Hamid Karsai einen gewählten Staatspräsidenten, seit September 2005 gibt es auch erstmals ein in freien und allgemeinen Wahlen bestimmtes Abgeordnetenhaus. Afghanistan hat eine Verfassung, die den Frauen und Mädchen gleiche Rechte wie den Männern einräumt. Der Rückgang der Kindersterblichkeit und die Tatsache, dass mittlerweile 85% der Afghanen Zugang zur medizinischen Versorgung haben, zeigen z.B., dass das Gesundheitswesen bedeutsame Fortschritte gemacht hat. Erfolge gibt es z.B. auch im Bildungsbereich: 75 Prozent der Jungen und 35 Prozent der Mädchen gehen inzwischen zur Schule. Seit 2001 wurden landesweit 3.500 Schulen gebaut, die Zahl der Schülerinnen und Schüler hat sich auf rund sechs Millionen mehr als verfünffacht. Gemeinsam mit der afghanischen Regierung müssen die internationalen Akteure ihre Hilfe besser koordinieren, Strategien aufeinander abstimmen und einen effektiven Einsatz der bereit gestellten Mittel sicherstellen. Eine schnelle Evaluierung der bisherigen Arbeit ist notwendig, um Defizite zu beseitigen.
Hermle: Die staatlichen Institutionen sind vielfach noch schwach, die Regierung gilt als korrupt. Kann man damit "Staat machen"?
Mützenich: Es gibt zu Regeln und Strukturen keine Alternative! Es war jedoch sicherlich ein Fehler, zu sehr auf Karsai und die Zentralregierung in Kabul zu fokussieren. Die afghanische Regierung muss selbst energischer und konsequenter gegen Korruption, Nepotismus und Drogenhandel vorgehen. Dies sollte noch stärker eingefordert werden. Darüber hinaus wollen die USA und die internationale Gemeinschaft - nach dem Erfolgsbeispiel im Irak - die Aufständischen spalten, indem sie "gemäßigte Taliban" mit Geld und Gesprächsbeteiligung ködern. Ein Vorschlag, für den im Übrigen damals Kurt Beck von den selbst ernannten sicherheitspolitischen Experten der Union und in der Presse mit Hohn und Spott überhäuft wurde.
Hermle: Ein Truppenabzug soll jetzt Mitte 2011 beginnen. Die Verantwortung für die Sicherheit soll zügig an die afghanische Regierung übergehen. Ist das ein realistisches Konzept?
Mützenich: Das wird sich zeigen. Es ist sicherlich ein ehrgeiziges Ziel. Das Datum 2011 hat US-Präsident Obama zuerst genannt, als er im Dezember an der Militärakademie Westpoint seine neue Strategie erläuterte. Dort kündigte er an, 30.000 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan zu schicken, die schon im Mai 2011 wieder schrittweise wieder abgezogen werden sollen. Die von der Afghanistan-Konferenz 2006 formulierten visionären Vorstellungen werden durch realistischere und somit glaubhaftere Ziele ersetzt. Es wird akzeptiert, dass angesichts der bisherigen Geschichte und des jetzigen Entwicklungsstandes Afghanistans, aber auch wegen begrenzter Mittel und Fähigkeiten der internationalen Geber keine perfekten oder visionären, sondern nur pragmatische und erreichbare Ziele angestrebt werden können. Oder in den Worten von Frank-Walter Steinmeier: "Afghanistan wird keine Westminster-Demokratie werden." Internationale Investitionen zum Aufbau einer stabilen Wirtschaft und Gesellschaft müssen insbesondere in den Bereichen Infrastruktur, Energie- und Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit und Sozialfürsorge, Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Förderung der Privatwirtschaft, effiziente Regierungsführung und Korruptionsbekämpfung erfolgen.
Hermle: Manche meinen, die Stärkung von Armee und Polizeikräften in Afghanistan erhöht die Gefahr eines Bürgerkriegs. Teilen Sie diese Einschätzung?
Mützenich: Nein! Sie ist vielmehr die Voraussetzung für die Übernahme der Sicherheitsverantwortung durch die afghanische Armee und Polizei bis spätestens 2015, um die Voraussetzung für die endgültige Beendigung des Einsatzes der Bundeswehr zu schaffen. Die Stärkung der Sicherheit ist nur durch konsequente Qualifizierung und Ausbau der Polizei und der Armee möglich: Dies muss Priorität haben - unter dem Schutz von ISAF. Denn nur wenn die Sicherheit durch afghanische Kräfte wahrgenommen werden kann, wird sich ISAF schrittweise zurückziehen können. Dazu muss das Programm zur Ausbildung der Polizei, inklusive der finanziellen und materiellen Mittel, (wie in London beschlossen) ausgeweitet werden.
Hermle: Was sagen Sie zu dem Argument, die Nennung eines Abzugsdatums stärke die Taliban?
Mützenich: Ich kenne diese Argumentation, teile sie aber nicht. Die Nennung eines Zeitkorridors setzt vielmehr den nötigen Druck auf die Regierung Karsai, dass sie ihren Ankündigungen nun endlich auch Taten folgen lassen muss. Gleiches gilt für die Nachbarn Afghanistans wie Pakistan, Iran aber auch China, die sich nicht länger hinter der internationalen Gemeinschaft verstecken dürfen. Frank-Walter Steinmeier hatte bereits im September 2009, vier Wochen vor der Bundestagswahl, einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, in dem eine Perspektive für Dauer und Ende des deutschen und internationalen Einsatzes in Afghanistan formuliert sind. Mittlerweile haben auch die Kanzlerin und der Außenminister einhellig erklärt, dass sie die afghanische Regierung darin unterstützen, bis 2014 die volle Sicherheitsverantwortung ohne ausländische Streitkräfte zu übernehmen. Angesichts der reflexhaften Empörung, die unser Vorschlag eines Korridors für den Abzug der Bundeswehr zwischen 2013 und 2015 am Anfang ausgelöst hat, ist das eine bemerkenswerte Entwicklung. Es hat auch Vorteile, wenn nun über Abzugspläne gesprochen wird. Deutschland ist gezwungen, seine Anstrengungen zu steigern. Ein "Weiter so" ist nicht mehr möglich. Und es erhöht den Druck auf die afghanische Regierung, selbst für Stabilität zu sorgen. Die Festlegung eines Datums für den Abzug des größten Teils der NATO-Truppen hat den Vorteil, der souveränen Regierung einen klaren Übergangszeitraum zu kommunizieren und zugleich ihre Eigenverantwortlichkeit zu stärken, um zu tragfähigen Arrangements mit der lokalen Ebene zu kommen. Da es sich bei der Sicherheitssektorreform um einen langfristigen Prozess handelt, unterstützt die internationale Staatengemeinschaft Afghanistan in diesem Bereich weiter. Deshalb halte ich die Nennung eines solchen Korridors für hilfreich und legitim.
Hermle: Gibt es Hoffnung für Afghanistan?
Mützenich: Die Hoffnung stirbt zuletzt! Es gibt keine einfache und keine rasche Lösung für Afghanistan. Deshalb fällt eine Entscheidung für oder gegen einen internationalen Einsatz niemandem leicht. Jeder weiß, die Arbeit in Afghanistan ist nicht einfach und alles andere als ungefährlich. Dennoch ist die Bundesrepublik Deutschland hier im Wort. Es geht im Kern um zwei Dinge: um die Zukunft Afghanistans und um unsere eigene Sicherheit. Die afghanische Bevölkerung vertraut auf deutsche Hilfe und die internationale Gemeinschaft auf unsere Solidarität. Ein Abzug zum jetzigen Zeitpunkt würde die geleistete Arbeit in Frage stellen und erhebliche negative Folgen haben: Für die Afghanen und unsere Partner wie für uns selbst. Verantwortbar ist dies erst, wenn sichergestellt ist, dass Afghanistan aus eigener Kraft für Frieden und Sicherheit seiner Bevölkerung sorgen kann. Notwendig ist ein umfassender Strategiewechsel, der fünf Aspekte beherzigt: bescheidenere Ziele, Afghanisierung der Sicherheit, dezentrale Regierungsstrukturen, auf lokale Bedürfnisse ausgerichtete Entwicklung und regionale Einbettung des Afghanistankonflikts