Zwei Stimmen, ein Ziel

Es herrscht eine entspannte Atmosphäre im Deutschen Bundestag am Mittwochmorgen. Die Debatte beginnt früh, das Novemberlicht dämmert durch die Kuppel, und die Abgeordneten machen nicht den Eindruck, als ahnten sie die Schrecken des Abgrunds, an den die Oppositionsführerin sie gleich führen wird.

Wer Sahra Wagenknecht zuhört, der wundert sich, dass der Bundestag einen so aufgeräumten Eindruck macht und die Fraktionsvorsitzende der Linken, ordentlich gekämmt, am Rednerpult steht. Das Bild, das sie zeichnet, erweckt den Eindruck, als befinde sich das Land in Auflösung und als würde über die Bewilligung von Kriegskrediten debattiert. Es ist aber nur die Generalaussprache des Parlaments zum Haushalt des Bundeskanzleramts.

Sahra Wagenknecht ringt mit einer Bundesregierung, die den Weg der Diplomatie verlassen hat; das behauptet sie jedenfalls. "Sie haben Deutschland in die Neuauflage eines Kalten Kriegs hineingetrieben", ruft sie der Kanzlerin zu. "Sie haben einen Wirtschaftskrieg mit Russland angezettelt."

Verbale Aufrüstung sei schon immer der Anfang von Schlimmerem gewesen, sagt Wagenknecht und zitiert damit den früheren Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. "Kehren Sie auf den Weg der Diplomatie zurück", fordert sie die Regierungschefin auf; und sollten sich "in der SPD die Stimmen eines Helmut Schmidt oder Matthias Platzeck durchsetzen, dann hören Sie auf Ihren Koalitionspartner!" Das Erbe der Entspannungspolitik sieht Sahra Wagenknecht allerdings schon verspielt, "weil Sie nicht den Mut haben, den Anweisungen der US-Politik Paroli zu bieten".

Angela Merkel sitzt derweil auf der Regierungsbank und weiß, dass sie beobachtet wird. Man gewinnt in diesem Augenblick einen Eindruck davon, welches Mienenspiel die Telefonate mit dem russischen Präsidenten begleitet.

Ihre Rede ist keine Antwort auf Wagenknecht. Sie spricht vom G20-Treffen im australischen Brisbane, von der Regulierung der Finanzmärkte, von notwendigen europäischen Investitionen, von Ebola. Dann erst kommt sie auf den Krieg in der Ukraine zu sprechen. Die EU habe während der Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine immer wieder Gesprächsangebote an Russland gerichtet, erklärt die Kanzlerin. Es gab kein Entweder-Oder. "Um es ganz klar zu sagen: Bei allen Schwierigkeiten, die aus diesem Abkommen erwachsen können, und über die immer wieder mit Präsident Putin gesprochen wurde - nichts davon rechtfertigt die Annexion der Krim und nichts das indirekte und direkte militärische Vorgehen Russlands in der Ostukraine."

Die Bundesregierung, so erläutert die Kanzlerin, unterstütze die Ukraine wirtschaftlich und politisch. Sie lasse nichts unversucht, um zu einer Verhandlungslösung zu kommen, und sie werde die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufrechterhalten, so lange sich die Lage in der Ostukraine nicht ändere. Am Dialog mit Russland halte die Bundesregierung fest, sagt Merkel: Sie selbst habe das in Brisbane mit Putin getan, Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit seinem Kollegen Lawrow in Moskau.

Es gibt in der Russland-Politik keinen grundsätzlichen Dissens zwischen mir und dem Außenminister, soll das heißen. Es heißt aber eben auch, dass beide, Merkel und Steinmeier, mit ihrem Russisch am Ende sind. Vorerst zumindest.

Merkel, die phasenweise so häufig mit Wladimir Putin telefonierte, dass die Frequenz ihrer Telefonate auf eine Art Zermürbungstaktik schließen ließ, hat den Weg der Diplomatie nicht verlassen. Sie hat in Brisbane lediglich Bilanz gezogen. Eine Bilanz unzähliger diplomatischer Anläufe in den Monaten seit Beginn der Ukraine-Krise. Sie lautet: Wir haben wenig bis nichts erreicht.

Es sind sehr unterschiedliche Politiker, mit denen Steinmeier und Merkel es zu tun haben: Der eloquente, selbstsichere russische Außenminister Sergej Lawrow ist kein einfacher Gesprächspartner. Die Kanzlerin aber hat den schwierigeren Part.

Merkel kennt Putin lange. Ihrem sozialdemokratischen Außenminister hat sie außerdem ein ausgesprochen nüchternes Russland-Bild voraus. Es hat - herkunftsbedingt - eine größere Tiefe. Dass sie es mit einem Gekränkten zu tun hat, weiß Merkel seit ihrer ersten persönlichen Begegnung mit dem russischen Präsidenten.

Putin sieht Russland um Macht und Einfluss betrogen: durch die USA, die Nato, die Europäische Union, durch alle, die sich als Sieger des Kalten Kriegs fühlen dürfen, während Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion die Trümmer einer gescheiterten Großmacht beseitigen durfte. Merkel teilt diese Perspektive auf das Ende der Sowjetunion und den politischen Wandel in Osteuropa nicht.

Mit gutem Grund. Das Bild des immerfort betrogenen, gedemütigten Russlands hat mit der politischen Realität der vergangenen 25 Jahre wenig zu tun. Es ist richtig: Der Schock des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs der Sowjetunion steckt vielen Russen noch in den Gliedern. Ihnen steht ein Bild des politischen Chaos und des wirtschaftlichen Mangels vor Augen, wenn sie an die frühen, noch mehr, wenn sie an die späten Neunzigerjahre zurückdenken.

Doch diese Zeit liegt inzwischen wieder fast fünfzehn Jahre zurück. Jahre, in denen Russland sich nicht nur wirtschaftlich erholte. Es wuchs eine Generation heran, die die Sowjetunion nicht mehr kennt, für die ihr Niedergang also auch nicht die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts ist, wie Wladimir Putin es formuliert. Der urbane, weltoffene Teil dieser Jugend war es, der 2012 auf die Straße ging, um gegen die Manipulation der Parlamentswahl und eine dritte Amtszeit Putins zu protestieren.

Diese Demonstranten stellten naturgemäß nicht die Mehrheit im Land. In Moskau aber waren sie zur Zeit der dritten Amtseinführung Putins genug, um den Präsidenten herauszufordern. Gegen diesen Teil der Gesellschaft bringt die russische Führung seither alles in Stellung, was ihr zur Verfügung steht, Bürokratie, Polizei, Geheimdienst und inzwischen auch das Militär, vor allem aber die Mehrheit des russischen Volkes.

Diese Mehrheit ist das patemalistische Russland, besonders diejenigen, die nicht mehr jung sind, in kleinen Städten oder ländlichen Gegenden leben und ihre Information ausschließlich aus dem russischen Staatsfernsehen beziehen, das den Antidemokraten Putin als Retter der Entrechteten feiert. Und dieser Teil der russischen Bevölkerung ist es auch, der nun gemeinsam mit Putin Rache nimmt. Teil einer Weltmacht zu sein, war der Stolz dieser Bürger. Ihr einziger. Für sie war das Ende der Sowjetunion eine Katastrophe, und Putin verspricht, sie rückgängig zu machen. "Konter-Modernisierung" nennt das die russische Politologin Mascha Lipman.

Man könnte auch resümieren, dass Russland in den vergangenen fünfzehn Jahren, in denen ein hoher ölpreis dem Land hohe Wachstumsraten bescherte, seine Chance auf Modernisierung vorerst versäumt hat. Ein solches Versäumnis aber ist der politischen Führung des Landes anzulasten, nicht den USA, der Nato oder der EU.

Eben auf diese Modernisierung aber hatte die deutsche sozialdemokratische Russland-Politik gesetzt. Die Modernisierungspartnerschaft mit Russland sollte auf den Begriff bringen, was sich Steinmeier unter einer deutschen Russland-Politik zum Nutzen beider Länder vorstellte. Das Ausbleiben der Modernisierung kam in Steinmeiers Plänen nicht vor. Ebenso wenig ein kritischerer Umgang mit Russlands Führung, der nach den Repressionen, die auf den Protest folgten, angeraten gewesen wäre. Im Gegenteil, es sollte Schluss sein mit dem Russland-Bashing, wie es der Russland-Beauftragte der Bundesregierung und Parteifreund Steinmeiers, Gernot Erler, im Juni 2013 in der Zeit formulierte.

Die Modernisierungspartnerschaft mit Russland sollte nach den Worten Erlers keine rein technologische Kooperation sein, sondern auf einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess zielen - "von einer effizienten Administration über funktionierende soziale Sicherungssysteme bis hin zu einer starken Zivilgesellschaft als kritischem Partner der Politik".

Erlers Analyse des russischen Reformbedarfs trifft auch heute noch zu. Hingegen war die Annahme falsch, die russische Führung sei zu dieser Art Partnerschaft bereit. Das bedeutet indes nicht, dass es falsch wäre, das Angebot auch weiterhin aufrecht zu erhalten. Man würde sich allerdings wünschen, die deutsche Sozialdemokratie täte es nicht voraussetzungslos. Die Annexion der Krim auszuklammern und auf anderer Ebene weiterzuverhandeln, wie der ehemalige Parteivorsitzende Matthias Platzeck es vorschlägt, steht der Politik des Außenministers entgegen.

Es ist so, wie Frank- Walter Steinmeier es am Mittwoch in seiner Rede sagt: Die Welt ist eine andere geworden. Sie ist aus den Fugen geraten, und nicht nur der Krieg in der Ukraine verlangt die Aufmerksamkeit der deutschen Außenpolitik, sondern auch Kriege in anderen Regionen: im Nordirak, in Syrien und Israel.

Kriege und Konflikte zwingen die deutsche Politik dazu, sich zu ihnen zu verhalten. "Es hat sich etwas geändert in der deutschen Außenpolitik", erklärte der Schweizer Botschafter Tim Guldimann am Dienstag auf dem Podium einer Konferenz des Auswärtigen Amtes. Sie behandelte die Frage, ob und wie sich Deutschland künftig als Vermittler in internationalen Konflikten einbringen kann. "Deutschland ist eine europäische Führungsmacht, Punkt", erklärte Guldimann. Die deutsche Öffentlichkeit indes wolle dieser Erkenntnis nur ungern folgen. "Die Deutschen wären lieber Schweizer", glaubt der Botschafter: neutral und in der Beobachterposition.

Die deutsche Außenpolitik des vergangenen Jahres hat dagegen kein Engagement gescheut. Sie wird es auch künftig nicht tun, verspricht der Außenminister.

Steinmeier geht auf die Unterstellung der CSU, er betreibe eine Nebenaußenpolitik, nicht ein. Das macht der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Rolf Mützenich: Er erinnert daran, dass "Nebenaußenpolitik" ein Kampfbegriff war, mit dem die Ostpolitik Willy Brandts diskreditiert wurde. Die Verdienste dieser Politik aber lassen sich die Sozialdemokraten nicht nehmen, sagt Mützenich, auch nicht die Verdienste eines Matthias Platzeck um das deutsch-russische Verhältnis.

Die Sozialdemokraten haben ihre Empfindlichkeiten. Für die anderer sind sie weniger empfänglich. Das mag daran liegen, dass schon die unbestreitbar richtige Verständigungspolitik der 70er- und 80er- Jahre Empathie für Bürgerrechtsbewegungen in Polen oder Tschechien vermissen ließ. Diesmal aber ist es ein russischer Publizist, der sich zu Wort meldet. Alexander Morosow, Chefredakteur des Russkij Zhurnal, schreibt in einem offenen Brief an Platzeck: "Uns Russen verbinden lange und fruchtvolle Beziehungen mit der deutschen Sozialdemokratie. Ihr öffentlicher Aufruf, die Annexion der Krim anzuerkennen, kam deshalb gänzlich unerwartet." Er verstehe, schreibt Morosow, dass Platzecks Vorschlag von dem Wunsch getragen sei, das gute Verhältnis der nachsowjetischen Zeit zwischen Moskau und Berlin zu erhalten. "Doch Sie begehen einen großen Fehler!" Die Annexion der Krim sei Synonym für die Zerschlagung der Zivilgesellschaft in Russland. Sie stehe für die alles durchdringende Militarisierung des öffentlichen Bewusstseins. "Die Krim, Herr Platzeck, ist das Symbol jenes tiefen Abgrunds, in den der Kreml die russische Gesellschaft geworfen hat."

Autor: 
Von Katja Tichomirowa
Veröffentlicht: 
Berliner Zeitung, 27.11.2014
Thema: 
Es gibt in der Russland-Politik keinen grundlegenden Dissens zwischen der Regierungschefin Angela Merkel und ihrem Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Aber unterschiedliche Erfahrungen