"Ein Volk der guten Nachbarn"
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat: Außenpolitisch betrachtet war und ist 2014 - das hat die Bundeskanzlerin am Anfang ihrer Regierungserklärung hier gesagt - ein schlimmes Jahr. In Syrien werden Menschen vertrieben, tagtäglich über 100, und sie werden letztlich ihrem Schicksal überlassen. Gerade die Nachbarländer stehen großen Herausforderungen in Bezug auf die Flüchtlingspolitik gegenüber. Hinzu kommt Ebola, und es gibt zahlreiche Räume der Gewalt; mittlerweile kennen Generationen in ihrem unmittelbaren Umfeld nichts anderes als Gewalt. Leider kommen auch der Nationalismus und der Chauvinismus zurück nach Europa. Das sind bittere Tage und bittere Momente, wenn man auf die Außenpolitik schaut und versucht, darauf Antworten zu finden.
Ich persönlich muss zugeben: Ich bin angesichts der Bilder manchmal ratlos, und manchmal bin ich auch verzweifelt, nicht nur angesichts der Taten, die in der Welt zu beobachten sind, sondern auch dann, wenn ich den Menschen in den betroffenen Ländern begegne. Aber ich finde, es gehört dazu, auch auf andere Entwicklungen hinzuweisen und das Bild etwas zurechtzurücken.
Wir sehen in Tunesien eine Gesellschaft, die zumindest den Mut aufbringt, friedlich für einen Wandel einzutreten.
(Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Möglicherweise sind darunter auch Menschen, die sagen: Gerade jetzt muss ich anpacken. Jetzt besteht die Verpflichtung, Vorbild zu sein, selbst als kleines Land in der arabischen Welt. Es gibt Foren und Regionalorganisationen, die eben nicht auf andere warten, sondern, weil sie gemeinsame Interessen haben, versuchen, gemeinsam etwas umzusetzen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben von den Dialogforen in Asien gesprochen. Ich nenne die Entwicklung in Lateinamerika. Ich finde, auch das, was in Afrika passiert, macht, wenn man darauf blickt, durchaus Mut. In Mexiko ertragen es die Menschen nicht mehr, dass sie teilweise von einer Politikerkaste geführt werden, die mit der Mafia Hand in Hand geht.
Ich finde, das sind mutige Beispiele, die zeigen, dass die Außenpolitik von Prinzipien geleitet werden muss, die sie dann auch umzusetzen hat, um die Herausforderungen zu bewältigen.
Ich will hier einige Prinzipien nennen, die die Bundesregierung und auch dieses Parlament, wie ich glaube, sehr klug vermitteln, womit sie der deutschen Außenpolitik ein Gesicht geben:
Nie allein: Das ist die Lehre aus dem verheerenden letzten Jahrhundert. Daneben werden wir mit neuen Partnern aktiv - zum Beispiel in Regionalorganisationen wie der Europäischen Union -, und außerdem gibt es neue Formate. Das erkennt man zum Beispiel daran, dass der Bundesaußenminister mit seinem französischen Kollegen in die Länder reist, die von Ebola betroffen sind. Es gibt deutliche Zeichen dafür, dass wir es nicht alleine schaffen. Gemeinsam können wir aber zumindest eine Perspektive aufzeigen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Wir müssen auch immer wieder Gespräche anbieten. Wenn es beim hundertsten Mal nicht geklappt hat - das haben Sie zu Recht angesprochen -, dann muss ich es eben noch einmal versuchen. Man muss das Gespräch suchen und versuchen, Lösungen zu finden, weil wir andere Instrumente nicht zur Hand nehmen wollen oder auch nicht dürfen.
Wir müssen das Völkerrecht verteidigen und uns dabei an Regeln orientieren. Das ist kein Selbstzweck, sondern die Regeln sind entwickelt worden, weil wir wollen, dass alle gleichbehandelt werden und nach denselben Instrumenten greifen. Insbesondere müssen wir die Institutionen stärken - das hat der Bundesaußenminister in den letzten Wochen immer wieder bewiesen - und diejenigen mitnehmen, die gemeinsame Interessen mit uns teilen. Hier ragt die OSZE heute in Europa heraus, weil sie ein Forum bietet, durch das auch andere mitgenommen werden.
Wir haben bei der Aufstellung des Haushalts versucht, die Mittel für all diese Dinge und die entsprechend notwendige Arbeit zu erhöhen. Gleichzeitig dürfen wir aber auch die Gesellschaften nicht aus dem Blick verlieren, weil die Gesellschaften heute genauso ein bedeutsamer legitimer Akteur in der Außenpolitik sind. Deswegen hat der Bundestag gesagt: Das Goethe-Institut, die politischen Stiftungen und viele andere brauchen mehr Mittel; die müssen mitgenommen werden.
Der Herr Kollege Kauder hat hier eben für mich sehr überzeugend und sehr nachdrücklich gesagt: Wir brauchen die humanitäre Hilfe, wir brauchen ein offenes Land, und wir brauchen insbesondere Mitgefühl für die Menschen, die glauben, bei uns einen gewissen Schutz oder vielleicht sogar eine neue Heimat zu finden.
Angesichts dessen bin ich schon überrascht, dass in den letzten Tagen der Begriff "Nebenaußenpolitik" gefallen ist. Ich finde, die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister haben von Anfang an einen vertrauensvollen Ansatz gewählt.
Ich kann verstehen, dass man manchmal enttäuscht ist und eine entsprechende Rede hält, weil die Zusagen offensichtlich nicht eingehalten wurden, aber ich weise darauf hin: Wenn man einen solchen Begriff in den Mund nimmt, dann schafft man auch Irritationen bei unseren Partnern, weil sie vermuten könnten, dass wir einen Dissens in der Außenpolitik haben, und das ist sehr gefährlich.
Ich muss bekennen, dass ich mich mittlerweile daran erinnern kann, wann der Begriff "Nebenaußenpolitik" geboren wurde, nämlich in den 70er- und 80er-Jahren, als die sozialdemokratische Partei eine Entspannungspolitik versucht hat, die mehr als Regierungspolitik bedeutete. Dieser Kampfbegriff wurde jetzt wieder eingeführt. Ich finde, wir Sozialdemokraten sind gehalten, stolz auf unseren Beitrag zur Überwindung von Konflikten und Gewaltursachen zu sein. Das lassen wir uns von niemandem absprechen - egal in welcher Konstellation.
(Beifall bei der SPD)
Ich füge hinzu: Wir sind stolz darauf, dass Frank-Walter Steinmeier das Gesicht und die Stimme einer sozialdemokratischen Friedenspolitik in Europa und weltweit ist. Vielen Dank dafür.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU])
Gleichzeitig möchte ich daran erinnern, dass es nicht zu unseren Aufgaben gehört, in öffentlichen Interviews über die Ablösung von Führungskräften in Dialogforen zu diskutieren, sondern diese Aufgabe haben die Mitgliederversammlungen dieser Institutionen. Für uns Sozialdemokraten sage ich sehr deutlich: Wir schätzen die Integrität und Souveränität von Matthias Platzeck. Für uns bleibt er ein herausragender und unverzichtbarer Akteur im deutsch-russischen Dialog.
(Beifall bei der SPD)
Wenn ich sage: "Wir müssen auf der einen Seite über Prinzipien sprechen und auf der anderen Seite über unverrückbare Wahrheiten", dann müssen wir in der Tat klar zum Ausdruck bringen: Ohne Russland wird eine europäische Friedensordnung keine Gestalt und keine Verlässlichkeit annehmen, aber auch nicht ohne eine Ukraine, die, demokratisch und souverän, in dieser europäischen Friedensordnung ihren Platz haben muss. Das ist im Grunde genommen der Kern der Politik in unserem Dialog.
Es ist wichtig, dass wir auf der Minsker Vereinbarung bestehen. Es ist wichtig, immer wieder, auch wenn sie nicht eingehalten wird, an sie zu erinnern und in dieser Frage die OSZE mitzunehmen. Ich bin dem Bundesaußenminister dankbar, dass Deutschland mit anderen Partnern, die diese Idee voranbringen wollen, eine noch stärkere Rolle in der OSZE einnehmen will. Wenn ich sage: "Wir Sozialdemokraten in dieser Großen Koalition wollen eine europäische Friedensordnung bauen", dann bleibt uns nichts anderes übrig, als nach gemeinsamen Interessen auch mit Russland zu suchen.
Wir dürfen auch nicht verkennen: Die Vernichtung der syrischen Chemiewaffen wäre ohne den wesentlichen Beitrag Deutschlands nicht gelungen, aber es war auch im Interesse Russlands gewesen, dass diese verheerenden Waffen aus Syrien herausgebracht werden. Dieses gemeinsame Interesse teilen wir genauso wie den Wunsch nach erfolgreichen Verhandlungen mit dem Iran über die Bewältigung der Atomkrise. Deswegen bin ich Ihnen sehr dankbar, dass Deutschland, aber auch viele andere Länder alles versucht haben, um bis Mitte nächsten Jahres einen belastbaren und für alle akzeptablen Vertrag auszuarbeiten, auch für die diejenigen, die nicht mit am Verhandlungstisch sitzen.
Wenn ich hier über Außenpolitik spreche, dann tun wir gut daran, zu erkennen: Nicht nur unser Blick auf die derzeitige Konfliktsituation in der Ukraine und in Russland definiert das Außenbild der russischen Politik in anderen Weltregionen, sondern zum Beispiel auch in Asien - daran will ich erinnern - wird die Annexion der Krim genauso gesehen wie bei uns: völkerrechtswidrig. Das ist für die Einhaltung internationaler Regeln verheerend. Deswegen war Russland nicht erfolgreich, im Rahmen des Treffens mit den BRICS-Staaten in Schanghai eine Anerkennung der Annexion zu erreichen. Deswegen müssen wir nach diesen Partnern fragen, auch für unseren Ansatz im Zusammenhang mit der möglichen Bildung einer europäischen Friedensordnung.
Ich sage hier an dieser Stelle: Es war auch mit Blick auf die Rolle der Atomwaffen eine wirklich schreckliche Niederlage, dass das Budapester Abkommen verletzt worden ist, weil damit den Atomwaffen wieder eine neue Rolle in der internationalen Politik zugewiesen wird.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)
Nicht nur das Völkerrecht ist verletzt worden, sondern Regeln, die Russland damals für die Rückgabe von 1 500 russischen Atomwaffen eingegangen ist. Ich finde, es gehört mit zur Wahrheit, hier auch darüber zu sprechen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Herr Kollege Mützenich, Sie haben es nicht gesehen, aber Sie haben die Chance, Ihre ablaufende Redezeit dadurch zu verlängern, indem Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Marieluise Beck zulassen.
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Bitte schön.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Kollege Mützenich, ich teile all Ihre Einschätzungen. Sie sind klar und deutlich, und wir brauchen sie als politische Botschaften.
Sind Sie aber auch bereit, mit Ihrem Kollegen Platzeck, der immerhin Vorsitzender der großen sozialdemokratischen Partei gewesen ist, in eine ernsthafte Auseinandersetzung über seine Äußerung in Bezug auf die Annexion der Krim einzusteigen und noch einmal deutlich zu machen, welche Tragweite eine solche Äußerung für das völkerrechtliche Gefüge dieser Welt hat?
Ich berichte immer wieder von einem kleinen Erlebnis im Europarat: Mein ungarischer Kollege von der Jobbik-Partei trug ein T-Shirt, auf dem vorne stand: ?Die Annexion der Krim ist legal? und hinten: ?Die Karpaten gehören zu Ungarn?. Genau diese Entwicklung bahnt sich in Europa an, wenn begonnen wird, über die Verschiebung der Grenzen nachzudenken: Es wird dann vielen, gerade rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften in Europa, einfallen, welche Gebiete nach ihrer Meinung noch zu ihrem Land gehören sollten.
(Beifall des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Darum geht es: dass wir - auch ein sozialdemokratischer Kollege - uns in Deutschland klarmachen, was das für eine Büchse der Pandora ist, und das auch - wenn ich das noch anführen darf - gegenüber den Ländern zwischen Deutschland und Russland, also Ungarn, Polen und dem Baltikum, im Blick behalten, die in ihrer historischen DNA die Erinnerung haben, dass es Verträge zwischen Deutschland und Russland zu ihren Lasten gegeben hat.
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Liebe Kollegin Beck, ich hätte mich sehr gefreut, wenn Sie bei dem einen Teil Ihrer Frage geblieben wären, statt dann noch Matthias Platzeck mit gewissen anderen Parteien in Verbindung zu bringen.
(Beifall bei der SPD)
Ich glaube, das wäre sehr respektvoll gewesen. Ich habe darauf hingewiesen: Gerade Matthias Platzeck ist eine integre Persönlichkeit, über die Sozialdemokratische Partei hinaus geachtet - gerade auch in seinem Bundesland -, der sehr souverän und, finde ich, auch in der Öffentlichkeit korrigiert hat, was möglicherweise als Eindruck einer einseitigen Äußerung geblieben ist. Ich finde, er hat das am Wochenende sehr souverän gemacht. Das sollten wir alle im Deutschen Bundestag anerkennen. Nicht Matthias Platzeck hat die Büchse der Pandora geöffnet, sondern diejenigen, die für Gewalt, Annexion und anderes an Chauvinismus und Nationalismus in Europa verantwortlich sind.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Dann sollte man es nicht gutheißen!)
Ich finde, das sollten wir Sozialdemokraten auch immer wieder betonen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Insofern glaube auch ich in der Tat: Wir sollten prinzipienfest sein. Deswegen ist das, was ich eben im Zusammenhang mit dem Budapester Abkommen angesprochen habe, eine wichtige Verpflichtung für das, was die Bundesregierung auch durch den Koalitionsvertrag mit auf den Weg bekommen hat, nämlich sich für Abrüstung und Rüstungskontrolle einzusetzen. Aber für uns Sozialdemokraten ist neben der Abrüstung und Rüstungskontrolle - das wissen Sie - auch die Frage der Rüstungsexporte von herausragender Bedeutung. Wir müssen nämlich in Deutschland in einer anderen Art und Weise mit Rüstungsexporten verfahren.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das hat mit Platzeck nichts zu tun!)
In diesem Zusammenhang bin ich insbesondere dem Bundeswirtschaftsminister dankbar.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich komme zum Schluss. Für uns bedeutet eine verantwortliche Politik nicht mehr, aber auch nicht weniger als das, was Willy Brandt uns mit auf den Weg gegeben hat. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden - im Innern und nach außen. Daran werden wir mit Bedacht und Konzentration weiter arbeiten.
Vielen Dank.