Umbruch in der arabischen Welt

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe mich auf diese Debatte gefreut; denn ich glaube, es ist notwendig, dass wir seitens des deutschen Parlaments den Bürgerinnen und Bürgern etwas von der Verunsicherung über die tiefgreifenden Umbrüche nehmen, die in der arabischen Welt stattfinden. Umbrüche führen immer zu Verunsicherung. Deswegen brauchen wir diese Debatte.

In der Tat hätte ich mir von der Bundeskanzlerin mehr klare Worte und eine mutigere Rede zu diesen Umbrüchen erwartet, insbesondere dass sie auch auf die Chancen statt nur auf die Risiken hingewiesen hätte. Das muss man von einer Regierungschefin erwarten können.
Insbesondere ist das im Kontrast zu der Rede von Präsident Obama deutlich geworden, der gesagt hat, was für ein Potenzial durch die Umbrüche gerade an unseren europäischen Außengrenzen möglicherweise auf uns rückwirken wird. Ich glaube, das ist das große Versäumnis auch Ihrer Fraktion. Das ist ein entscheidender Kontrast: Diese Bundeskanzlerin denkt nicht mehr wie ihre Vorgänger in europäischen Kategorien, was Maßnahmen und Chancen angeht, sondern sie hat nur noch ihre lokalen Interessen und ihre Parteiinteressen vor Augen. Ich finde, das darf eine Bundeskanzlerin und Regierungschefin nicht tun.

(Beifall bei der SPD)

Ich gebe Herrn Polenz recht: Man darf nicht blauäugig sein. Es gibt in diesem Zusammenhang auch Risiken. Aber Eigennutz und insbesondere mangelnde Selbstkritik wären genau das Falsche. Der Kollege Kauder hat gesagt: Wir setzen das auf die Tagesordnung. - Das nur auf die Tagesordnung zu setzen, reicht eben nicht. Man muss konkret beschreiben, wie man die Chancen nutzen will. Insbesondere darf man mit den mutigen und jungen Menschen in den arabischen Ländern nicht nur im Dialog sein. Man muss ihnen auch mit Würde und Respekt - genau das verlangen sie auf ihren Demonstrationen - begegnen. Daran mangelte es in der heutigen Regierungserklärung. Auf Würde und Respekt ist die Bundeskanzlerin nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht eingegangen. Das ist schade.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt große Chancen, aus denen wichtige Entwicklungen entstehen. Man sollte nicht nur die Demonstrationen zur Kenntnis nehmen, sondern auch darauf achten, was darauf folgt. So hat zum Beispiel die ägyptische Staatsanwaltschaft Anklage gegen den ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mubarak erhoben. Auch das ist ein mutiger Schritt. Die ägyptische Gesellschaft ist auf einem guten Weg, wenn Recht und Gesetz beachtet werden und vormalige Potentaten zur Verantwortung gezogen werden. Ich glaube, das ist genau das, was die Menschen erwarten. Hier müssen wir gerade auf europäischer Ebene unterstützend tätig werden.

Ich appelliere an die europäischen Länder, nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen deutlich zu machen. Insbesondere die Sicherheitsrisiken, die in den vergangenen Jahren immer wieder aufgetreten sind - ich nenne als Beispiel nur den internationalen Terrorismus -, können besser eingegrenzt werden, wenn freiere, sozialere und gerechtere Gesellschaften unmittelbar an den Außengrenzen Europas aufgebaut werden.

(Beifall bei der SPD)

Dafür brauchen die dort lebenden Menschen keine Ratschläge, sondern Zeit und Unterstützung.

Man kann über die Entscheidung der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Sicherheitsratsresolution 1973 zu Libyen - das geht quer durch das Haus - unterschiedlicher Auffassung sein. Aber ich bin entsetzt, dass Herr Minister Niebel, ein Kabinettsmitglied, nach der Sicherheitsratsresolution unseren Bündnispartnern niedere Beweggründe vorgeworfen hat, als es darum ging, diesen Beschluss umzusetzen. Ich finde es fatal, dass die Bundeskanzlerin hier nicht widersprochen hat. Das zeigt den tiefen Fall der deutschen Außenpolitik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Gysi, Sie haben Verschwörungstheorien mit einem marxistisch anmutenden Vokabular aufgestellt. Auch ich habe meine Ausbildung zum Beispiel in Falken-Lagern genossen. Aber so tief darf man nicht fallen. Wer, wenn nicht Gaddafi, war denn der beste Bündnispartner der sogenannten westlichen Welt, wenn es um Öl und Flüchtlinge ging? Wenn Ihre Logik zutreffen würde, würden Sie sich selbst widersprechen. Das gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu. Hören Sie auf, irgendwelche Verschwörungstheorien aufzustellen! Die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs versucht, Anklage gegen Gaddafi wegen Völkermordes und Missachtung der Menschenrechte zu erheben. Genau um diesen Punkt wird die Auseinandersetzung geführt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich persönlich habe die Entwicklung in Syrien vollkommen falsch eingeschätzt. Ich habe gedacht, dass Assad mehr Mut besitzt und eine Reformbewegung in der an Traditionen orientierten syrischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Ethnien und Religionen zulässt. Ich bekenne mich selbstkritisch zu meinen Fehleinschätzungen der Vergangenheit. Deswegen betone ich, dass es richtig ist, dass die Bundesregierung innerhalb der Europäischen Union bei den Sanktionen gegen Syrien vorangegangen ist und versucht, im Sicherheitsrat einen entsprechenden Beschluss herbeizuführen.

Wir haben noch nicht über unsere möglichen Antworten diskutiert. Ich glaube - das hat gestern der Kollege Hoyer im Auswärtigen Ausschuss sehr deutlich gemacht -, dass wir, wenn wir bei der Agrarpolitik nicht umsteuern, den Mittelmeerländern keine Perspektiven bieten können. Gleichzeitig - auch das habe ich in der Rede der Bundeskanzlerin vermisst - brauchen wir ein klares Wort zu den Flüchtlingen, zu der dortigen Situation und dazu, dass die Reformstaaten Tunesien und Ägypten unter den Flüchtlingen am meisten zu leiden haben. Das hätte an dieser Stelle gesagt werden müssen. Dies anzuerkennen, würde nach meinem Dafürhalten die Reformbewegungen in den Transformationsländern am besten unterstützen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Europa und gerade in Deutschland sollten uns vor Augen führen, welche Instrumente wir entwickelt haben und uns zur Verfügung stehen, mit denen bereits Mauern eingerissen und Gegensätze überwunden wurden. Hierzu kann die sozialdemokratische Außenpolitik mit ihren Instrumentarien "Wandel durch Annäherung", "gemeinsame Sicherheit" und "Entspannungspolitik in Zeiten neuer Spannungen" eine Menge beitragen. Ich plädiere für den Dialog: nicht nur mit den Ländern, die auf Transformation setzen, sondern auch mit den Regierungen, die versuchen, diesen Reformprozess auch von ihrer Situation her zu beurteilen, wie dies zum Beispiel in Marokko und Jordanien der Fall ist. Das wäre der angemessene Weg.

Vielen Dank.
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Berlin, 26.05.2011
Thema: 
Plenarrede zur Regierungserklärung zum G-8-Gipfel