Plenarrede zur aktuellen Situation in Ägypten

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Viele von uns ? dabei schließe ich mich ausdrücklich ein - haben die Entwicklung in Tunis, Kairo und Sanaa - womöglich kommen in Zukunft noch viele weitere Orte hinzu - nicht vorhergesehen. Ich will aber betonen: Damit standen wir nicht allein. Wenn wir in das Pressearchiv des Deutschen Bundestages schauen, stellen wir fest, dass im Jahr 2010 17 Artikel über Tunis veröffentlicht wurden. Vier oder fünf Artikel, die ich mir angeschaut habe, beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Bewegungen, zum Beispiel mit Hungerkonflikten bzw. Armutsaufständen, die es dort gegeben hat. n den letzten fünf Jahren hat die Bundestags-bibliothek, die uns nach meinem Dafürhalten einen guten wissenschaftlichen Überblick gibt - Stichwort: Politikberatung -, sieben Bücher zu dem Thema angeschafft.

Auch in diesen Bereichen gab es also eine Menge Fehleinschätzungen. Auch wenn wir es nicht vorausgesehen haben, müssen wir uns deutlich vor Augen führen, dass wir es heute mit Volksaufständen zu tun haben. Breite Teile der Gesellschaft gehen auf die Straße und verändern die Strukturen wirkungsmächtig - das gilt, egal wie die Ergebnisse aussehen werden -; denn diese Strukturen werden auch in 10 oder 20 Jahren noch existieren.

Aus meiner Sicht ist eines heute vollkommen klar: Das Bild, das wir im Westen, auch in Deutschland, von islamischen Gesellschaften immer gezeichnet haben, ist falsch. Diese Menschen sind in der Lage, die Politik mitzubestimmen. Sie demonstrieren auf der Straße und in Foren und verändern so die Politik. Sie sind in diesen Fragen eben nicht rückständig. Viele Wissenschaftler haben immer wieder geschrieben und gesagt, dass die Entwicklung in islamischen Gesellschaften auf vielfältige Art und Weise behindert wurde. Jetzt zeigen diese Gesellschaften, was es ausmacht, wenn das Volk auf die Straße geht und für Veränderungen eintritt.

Die Bundesregierung und wir alle stehen jetzt vor einer großen Bewährungsprobe. Es kommt darauf an, wie man in der konkreten Situation handelt. Herr Bundesaußenminister, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes Vorbildhaftes geleistet haben, und zwar unter Zurückstellung ihrer persönlichen Interessen. Das gilt auch für die Mitarbeiter der politischen Stiftungen, die Sie eben genannt haben, und für die Mitarbeiter der Entwicklungshilfeinstitutionen. Wenn man das benennt, dann wird umso deutlicher, was die Bundesregierung eben nicht gemacht hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihr Wirken in den ersten Tagen dieses Volksaufstandes war unentschlossen, missverständlich und folgenlos. Selbst als das Regime Gewalt provoziert und eingesetzt hat, war man nicht in der Lage - dies gilt sowohl für die Bundesregierung als auch für die Europäische Union -, deutliche Worte zu finden. Alles, was aus Berlin gekommen ist, war halbherzig. Sogar die türkische Regierung, sogar der türkische Präsident haben mehr Kritik am Regime in Ägypten als Sie geäußert.

All das, was Sie in den ersten Tagen in Interviews gesagt haben - "glasklar", "eindeutig" -, waren nichts anderes als Füllwörter in der Politik. Was als eine Herausforderung für eine freiheitliche Außenpolitik hätte beginnen können, ist im Ungefähren geblieben. Genau das ist der Fehler, den wir Ihnen vorzuwerfen haben. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund dessen, was Sie in den vergangenen Jahren immer behauptet haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Andreas Schockenhoff[CDU/CSU]: Eigentlich sind Sie besser!)

Die Bundeskanzlerin hat es nicht geschafft, die Einzelinteressenvertreter in der Europäischen Union noch während des Konfliktes auch nur ein bisschen zu disziplinieren. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben es nicht geschafft, zu verhindern, dass Sarkozy immer wieder französische Sonderinteressen reklamiert hat. Sie haben es nicht geschafft, zu verhindern, dass Regierungschef Berlusconi den bekannten Brief entwertet hat, indem er sagte, man habe es bei Mubarak mit einem weisen Mann zu tun. Dazu hätten Sie öffentlich eine Bemerkung machen müssen. Dass Sie das nicht getan haben, das ist doch der entscheidende Unterschied.

Sie können nicht nur über Diplomatie und Vertraulichkeit etwas erreichen; die Außenpolitik steht heute vor anderen Herausforderungen. Anscheinend wollen Sie das nicht anerkennen. Sie müssen sich dem aber öffentlich stellen.

(Beifall bei der SPD)

Nur Öffentlichkeit hätte den Demonstranten die Solidarität zollen können, die diese gebraucht haben.

Was brauchen wir jetzt? Sie kommen jetzt mit der Forderung nach der Freilassung der politischen Gefangenen. Nach meinen Informationen sind die politischen Gefangenen in Tunesien, die im Rahmen der Aufstände inhaftiert worden sind, wieder freigelassen worden. Gleiches verlangen wir von der ägyptischen Regierung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen aber auch einen Dialog mit den Demonstranten, Herr Bundesaußenminister. Ich glaube, es wäre gut, wenn Sie auch den Vertretern Deutschlands sagen würden: Wir müssen den Dialog mit den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz und an anderen Stellen so schnell wie möglich aufnehmen. Außerdem müssen die Hilfen an gesellschaftlichen Fortschritten gemessen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, das ist der entscheidende Aspekt der europäischen Politik in den nächsten Wochen. Andere Institutionen wie die Union für das Mittelmeer müssen genauso eingesetzt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Bundeskanzlerin, es geht insbesondere um Glaubwürdigkeit in der Politik. Wenn Sie sagen, dass Sie für freie und faire Wahlen im Nahen und Mittleren Osten einstehen, dann glaube ich Ihnen das zunächst einmal. Das messe ich auf der anderen Seite an den Erfahrungen, die wir mit Ihnen gemacht haben, wenn es relativ freie und faire Wahlen gegeben hat. Hierbei haben Sie eine große politische Last auf die Schultern der deutschen Außenpolitik gelegt. Als es nämlich in Palästina relativ freie und faire Wahlen gegeben hat und uns das Ergebnis nicht gepasst hat, gehörten Sie als eine der Ersten zu denjenigen, die, auch nach Konsultationen, in der Europäischen Union eine Politik der Nichtakzeptanz betrieben haben.

Glauben Sie denn, dass die Menschen in der Region vergessen haben, dass Sie, Frau Merkel, damals Präsident Bush ermutigt haben, die Intervention im Irak zu vollziehen? Sie haben diese Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten doch mit vorangetrieben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Sie sagen immer wieder, dass Sie aufgrund eigener Erfahrung an der Spitze der Volksaufstände stehen. Daran misst man die Glaubwürdigkeit der Politik. Frau Bundeskanzlerin, wann immer dies möglich war, haben Sie den damaligen Außenminister Steinmeier behindert, das Tor zur syrischen Regierung aufzustoßen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Der ist doch im Flugzeug sitzen geblieben!)

Sie haben damals Herrn Klaeden als Sprecher vorgeschickt und gesagt: Genau das ist die falsche Richtung. Deswegen müssen Sie sich gefallen lassen, dass Ihnen in diesem Zusammenhang Vorwürfe gemacht werden. Ich glaube, Sie müssen sich an Ihren eigenen Vorgaben messen lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ihre Aufregung an dieser Stelle ergibt sich daraus, dass Sie in den letzten Jahren in der Außenpolitik unglaubwürdig gewesen sind, wenn es um den Nahen und Mittleren
Osten ging.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das hat Steinmeier nicht verdient!)

Den einen oder anderen haben Sie nicht angesprochen; ich muss das einmal sagen. Herr Guttenberg hat zwar auf der Münchener Sicherheitskonferenz die Kurve bekommen; aber noch in Davos hat er von der Infektion des Nahen und Mittleren Ostens gesprochen, als es um Tunesien und Ägypten ging. Das ist das Bild, das Sie in Ihren Köpfen haben. Deshalb haben Sie am Anfang dieser Volksaufstände gewartet: Sie konnten überhaupt nicht einschätzen, was dort passiert. Sie haben den NATO-Generalsekretär in München nicht einmal ein bisschen korrigiert, Herr Außenminister, als er gesagt hat, das seien nur noch sicherheitspolitische Herausforderungen. Wer Volksaufstände nur als eine sicherheitspolitische Herausforderung für die NATO ansieht, der hat die Zeichen der Zeit, das, was im Nahen Osten gegenwärtig passiert, nicht erkannt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, dass die Menschen im Nahen Osten jetzt Respekt, Aufmerksamkeit, Vertrauen und Glaubwürdigkeit brauchen. Deutschland könnte durch eine kluge Außenpolitik eine Menge dazu beitragen und dabei auch gewinnen. Wir fordern Sie dazu auf. Vielen Dank.
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Berlin, 09.02.2011
Thema: 
Debatte zu den Volksaufständen in Ägypten