A European Model for New Common Security Institutions

Seit Juni 2008 liegt ein russischer Vorschlag für eine neue gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur auf dem Tisch. Darin wird ein völkerrechtlich bindender Vertrag aller Staaten von Vancouver bis Wladiwostok gefordert. Angesichts der ungelösten Sicherheitsfragen des Kontinents besteht durchaus Diskussionsbedarf über mögliche Verbesserungen an der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Nachdem die internationale Resonanz auf die Idee zunächst gering war, gewinnt sie seit dem Georgienkrieg verstärkte Aufmerksamkeit. Zypern, Italien, Spanien, Deutschland und vor allem Frankreich haben zumindest Diskussionsbereitschaft angezeigt. Auch die NATO erklärte sich auf der Außenministerkonferenz am 3. Dezember aufgeschlossen für eine Debatte. Was genau beinhaltet Medwedews Vorschlag? Wo bestehen Anknüpfungspunkte für eine sinnvolle Diskussion und wo liegen Stolpersteine? Und welche Motive verfolgt Russland mit seinem Vorschlag? Der russische Präsident rechtfertigt seinen Vorschlag mit der Feststellung, dass die bestehende europäische Sicherheitsarchitektur es nicht geschafft habe, das Ziel der Charta von Paris umzusetzen - nämlich ein Europa zu schaffen, das geeint, frei und sicher sei. Um dies zu überwinden, schlägt er einen gesamteuropäischen Gipfel aller Staaten von Vancouver bis Wladiwostok vor. Dessen Ziel bestünde dann darin, einen völkerrechtlich bindenden Sicherheitsvertrag auszuarbeiten und abzuschließen.

Mit seinem Vorschlag eines neuen europäischen Sicherheitsmodells befindet sich Alexander Medwedjew in guter russischer und sowjetischer Tradition. Von Gorbatschows Gemeinsamem Haus über die Vorschläge Jelzin zu einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung im Rahmen der OSZE bis hin zu den jahrelangen Diskussionen innerhalb der OSZE über ein Europäisches Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert. All diese Modelle hatten und haben eine Gemeinsamkeit: nämlich, dass die anzustrebende europäische Ordnung nicht antagonistisch und nicht diskriminierend sein soll. Ein solches System kollektiver Sicherheit unterscheidet sich insofern von einem Verteidigungsbündnis wie das der NATO, zumal diese Organisation von den USA dominiert wird

Dies ist aus Moskauer Sicht auch durchaus nachvollziehbar. Denn in dem Maße wie die NATO reaktiviert wurde, rückten Vorstellungen über eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik in den Hintergrund. Die Rhetorik des Gemeinsamen Hauses Europa der kurzen Gorbatschow-Ära verblasste ebenso wie die Charta von Paris in Vergessenheit geriet. Insbesondere die mitteleuropäischen Länder, also die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes, pflegten ihre historisch gewachsenen Vorbehalte gegenüber Russland und definierten die USA und die NATO als alleinige Sicherheitsgarantie gegen Moskau.

Folglich suchte Moskau neue Bündnisse und neue Bündniskonstellationen aufzubauen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar schienen. Als Beispiel sei nur auf die Shanghai Cooperation Organisation hingewiesen, die so diffizile und komplizierte Staatengruppen umfasst wie Russland, China, die zentralasiatischen Staaten, aber auch Indien, Afghanistan und den Iran gewinnen will. Noch dominieren Funktionen und intergouvernementale Absprachen die Basis dieser Zusammenarbeit. Ein gemeinsam abgestimmtes, regelgeleitetes Vorgehen sucht man vergeblich. Außerdem ist längst nicht klar, wer den größten Nutzen aus dieser Kräftekonstellation zukünftig ziehen wird: Peking oder Moskau?

Dennoch können all diese Aktivitäten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Moskau sich zurzeit in keiner komfortablen Position befindet: Die GUS zerbricht. Teile suchen ihr Heil in der Westorientierung und wenden sich von Moskau ab. Andere verharren in autoritär despotischen Zuständen und suchen ihre Partikularinteressen, die identisch mit dem Machterhalt der herrschenden Cliquen sind, skrupellos nach allen Seiten zu sichern. Moskaus Einfluss auf die kaukasischen und zentralasiatischen Staaten schwindet und bei der Versorgung und Durchleitung von Energie gerät der Kreml in Konkurrenz zur EU und zu China. Hinzu kommt der rapide Verfall der Energiepreise als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise, von denen Moskau wiederum besonders betroffen ist.

Vorausgesetzt, dass die Hinweise Medwedjews nicht alten machtpolitischen Reflexen folgen, sind sie eine Chance, Russland wieder stärker in das Geflecht einer Institution und deren Normen und Regeln einzubinden. Deshalb sollten wir den Vorschlag ernst nehmen und aufgreifen.

Fest steht meines Erachtens, dass eine sicherheitspolitische Neugründung wie die von Egon Bahr entwickelte Europäische Sicherheitsgemeinschaft (ESG) keine Chance auf Verwirklichung oder gar Erfolg hätte. Deswegen sollte man auf die bereits existierende europäische Sicherheitsarchitektur im Geflecht ineinandergreifender Institutionen (NATO, EU, OSZE) zurückgreifen. Dabei existiert in Gestalt der OSZE bereits ein institutioneller Rahmen, der geeignet ist, das legitime Interesse Russlands an einer gleichberechtigten Mitwirkung bei der Organisation der europäischen Sicherheit aufzunehmen. Als gesamteuropäische sicherheitspolitische Organisation wäre sie allerdings erst einmal wiederzubeleben, hatte sich doch ihre operative Bedeutung vor allem im östlichen Teil des Kontinents entfaltet - und dort in russischen Augen allzu sehr auf die demokratischen Prinzipien der Pariser Charta verengt.

Auch eine erneuerte OSZE kann und wird weder die EU noch die NATO ersetzen. Sie könnte aber Regeln und Verfahren fixieren, entlang derer sich auch diese beiden Organisationen bewegen, wenn sie über ihren Geltungsbereich hinausgreifen. In diesem Sinne wäre sie einerseits als europäische kollektive Sicherheitsorganisation zu konzipieren, andererseits aber auch als Organisation, die als Plattform für globales Handeln fungiert. Für beides gibt es eine ganze Reihe von durchaus harten Themen. Das betrifft nicht allein den Terrorismus.

Der Fünftagekrieg in Georgien spiegelt zudem eine manifeste Krise des Systems kooperativer Sicherheit in Europa wider. Europäische Union und vor allem NATO tun sich schwer, diese Krise zu bewältigen, stehen sie doch zunehmend im Dissens mit dem Schlüsselakteur Russland. Die NATO hat sich zudem mit der Aussetzung des NATO-Russland-Rates ohne Not desjenigen Gremiums beraubt, das für die Behandlung der Georgienkrise geradezu prädestiniert gewesen wäre. Der Kaukasus-Krieg hat darüber hinaus deutlicht gemacht, dass das Sezessionskonfliktmanagement und die Lösung der Spannung zwischen nationaler Selbstbestimmung und territorialer Integrität weder in Europa noch darüber hinaus ausgestanden sind.

Optionen für eine europäische Sicherheitsordnung:

Folgende Optionen für eine zukünftige Sicherheits- und Friedensordnung in Europa sind vorstellbar: Dabei ist klar, dass die bestehenden Organisationen und Institutionen der europäischen Sicherheit, also NATO, die EU und die OSZE in die Vereinbarungen als Bausteine miteinbezogen werden müssen. Und weder ist ein schneller Aufbau von neuen Institutionen möglich noch wünschenswert, da ein solcher Weg zur Schwächung der EU und damit zu Sicherheitsrisiken führen könnte.

Diese Gefahr wird deutlich, wenn man den Widerstand gegen jedwede Änderung des bestehenden Status Quo in Betracht zieht, der von den europäischen Verbündeten der USA im alten und neuen Europa mobilisiert wird. Dies zeigte sich schon im Ansatz auf der Helsinki Konferenz der OSZE im Dezember 2008. Nicht nur der amerikanische Vizeaußenminister Matthew Bryza, auch die Mehrzahl der Repräsentanten europäischen NATO-Mitgliedsstaaten zeigten wenig Enthusiasmus bezüglich der russischen Pläne die Sicherheitsarchitektur Europas neu zu überdenken.

Folgende konkrete Optionen bzw. Szenarien hin auf eine neue gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur sind vorstellbar:

1.    Der NATO-Russland-Rat wird aufgewertet oder Russland tritt in die NATO ein

Bereits einmal, Anfang der 1990er Jahre kamen in Moskau Vorstellungen auf, das Land in die NATO zu führen, die dann 1994 mit der ersten Welle der NATO Osterweiterung abgeblockt wurden. Diese Option ist nicht aus der Welt, nur werden die Bedingungen und Voraussetzungen dazu nicht in Europa gemacht. Die Koalition gegen den internationalen Terror 2001 bietet hier eine interessante Analogie von "informellen Bündnissen", ähnlich wie die USA auch in der Irakfrage mit Mitgliedsländern der NATO verfuhren.

Diese Option könnte als Prozess mittel- bis langfristig über eine stufenweise Erhöhung der Konsultations- und Entscheidungsmechanismen des NATO-Russland-Rates erreicht werden. Diese Konstruktion entspricht zwar nicht den russischen Vorstellungen eines formellen Vertragsabschlusses zwischen NATO und Russland, jedoch kommt dieser Konstruktion aufgrund der beibehaltenen transatlantischen Dimension ein hoher Wert an Vertrauen und Rückversicherung zu. Denn an der garantierten Sicherheitslage der europäischen Mitgliedsstaaten würde sich nichts ändern. Zudem blieben die USA als Partner im Bündnis.

2.    Zwischen der EU und Russland werden vertragliche Vereinbarungen zur Friedenssicherung in Europa geschlossen

Die EU und Russland einigen sich auf eine gemeinsame Friedenspolitik, die sich militärisch auf die EVSP stützt, die wiederum entsprechend der alten Doppelhut-Konstruktion keine eigenen Militärkontingente aufstellt, sondern integrierte Teile der NATO nutzt. Diese Militärkontingente werden zusammen mit russischen Einheiten unter einen gemeinsamen Oberbefehl gestellt und durch zu schaffende politische Konsultations- und Entscheidungsmechanismen im Rahmen neuer Institutionen geführt und bei Bedarf gemeinsam eingesetzt.

3.    Aufwertung der OSZE und/oder Weiterführung der Charta von Paris

Ähnlich könnte mit der OSZE verfahren werden. Die EU und Russland einigen sich auf einen gemeinsamen Mechanismus zur Sicherung des Friedens, die sich politisch auf eine aufgewertete und reformierte OSZE mit operativen Entscheidungsbefugnissen stützt. Der reformierten OSZE werden operative Kapazitäten, d.h. auch militärische Ressourcen, für friedensschaffende Einsätze sowohl von der NATO oder durch die EVSP als auch von Russland zur Verfügung gestellt. Die letztgültige Verantwortung würde und müsste dabei weiterhin beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bleiben, der die OSZE als Subunternehmer und Regionalorganisation legitimieren müsste. Territoriale Beschränkungen derartiger Einsätze müssten für den OSZE-Raum ausgeschlossen werden.

Neue Impulse bei der Rüstungskontrolle

Für die Diskussion einer europäischen kooperativen Sicherheitsordnung sollte Medwedjews Idee eines »Helsinki 2« nicht als alleinige Grundlage einer solchen Diskussion benutzt werden. Für die europäischen Staaten kommt es vielmehr darauf an, eigene Vorschläge und Forderungen zu entwickeln und damit Moskaus Kooperationsbereitschaft zu testen.

Neben den Regionalkonflikten gehört die Krise der Rüstungskontrolle und Abrüstung zu den zentralen, ungelösten Sicherheitsfragen des Kontinents. Aus Protest gegen die ausstehende Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrags durch die NATO-Staaten hatte Russland im Dezember 2007 seine Teilnahme daran suspendiert. Seitdem berichtet es weder über Übungen noch über Truppenbewegungen und lässt keine Inspektoren mehr ins Land. Obwohl die europäischen Staaten keine direkten Beteiligten sind, betrifft sie auch die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung zwischen den USA und Russland. Hinzu kommt der Streit um das amerikanische Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien und das Auslaufen des START I-Vertrags im Dezember 2009.

Ein gesamteuropäischer Gipfel müsste somit auch dringend neue Impulse für die konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung setzen. Dies wird nicht einfach sein ? unabhängig davon, ob auch weiterhin noch die Ratifizierung des Angepassten KSE-Vertrags angestrebt oder ein neues Vertragswerk - eine Art KSE-III-Vertrag - ausgehandelt wird. Wichtig wäre bis dahin, die vom geltenden Vertragswerk geforderte Transparenz wieder in Gang zu setzen.

Bilaterale Sicherheitsarrangements müssten überdacht und in ein System gemeinsamer Sicherheit überführt werden. Die geplante Stationierung amerikanischer Systeme zur Abwehr von Raketen sollte daher vorerst ausgesetzt werden. Zusammen mit Russland könnten dann - unter Einbeziehung des NATO-Beschlusses von Bukarest - ein koordiniertes Vorgehen verabredet werden. Sinnvoll wäre dabei ein neuer Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr.

Die Zeichen stehen jedenfalls auf Wandel: Abrüstung und Rüstungskontrolle scheinen vor einem Revival zu stehen, zumal sich die Wirtschaftskrise bleiern auf Amerika und Russland gelegt hat. Dies sind schlechte Zeiten für teure und strategisch fragwürdige Rüstungsprojekte. Zudem brauchen Russland und die USA einander, das ist die pragmatische Seite des neuen freundlichen Dialogs. Mit dem Wechsel in Washington bietet sich jetzt die Gelegenheit, die Scherben der Bush-Zeit wegzufegen und unbefangen das Verhältnis zu verbessern oder gar auf eine neue kooperative Grundlage zu stellen.

Fazit

Grundsätzlich ist der russischen Diagnose - nämlich, dass die Ziele der Charta von Paris nicht umgesetzt wurden und in Europa Sicherheitsdefizite bestehen - durchaus zustimmen.

Es besteht also in der Tat Diskussionsbedarf über Mängel im europäischen Sicherheitssystem. Auch die Idee, hierfür eine gesamteuropäische Gipfelkonferenz abzuhalten, erscheint prinzipiell sinnvoll. Ebenso kann der Vorschlag, auf diesem einen bindenden Sicherheitsvertrags abzuschließen, per se kaum Kritik auf sich ziehen. Entscheidend werden jedoch die Inhalte eines solchen Vertragswerks sein. Prinzipien und Regeln brauchen Institutionen, die ihnen zur Durchsetzung verhelfen. Welche Institutionen sollen diese Aufgabe in Europa übernehmen? Neben einer sicherheitspolitischen Revitalisierung der OSZE wäre eine verstärkte institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Moskau und Brüssel ein großer Gewinn für Europas Sicherheit.

Als Fazit bleibt, dass ohne die Einbeziehung bestehender Bausteine jeder Reformansatz scheitern und genau das Gegenteil erreichen würde, was beabsichtigt ist: Nämlich auf der Basis von Vertrauen und Sicherheitsgarantien die Errichtung einer gesamteuropäische Friedensordnung, welche die neue faktische Spaltung Europas überwinden hilft. Im Idealfall könnte die von Medwedjew angeregte gesamteuropäische Sicherheitskonferenz in einen zweiten Gründungsakt (Helsinki II) und in eine sicherheitspolitisch operativ angereicherte neue Charta münden.
 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Potsdam, 09.02.2009
Thema: 
Rede zur FES-Roundtable Discussion "Partnership with Russia in Europe