Aktuelle Fragestellungen und Entwicklungen in der Region Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika

Der Nahe und Mittlere Osten steht vor einem gewaltigen Umbruch, der durch den Irak-Krieg noch weiter verschärft wurde. Die Region dürfte in den nächsten Jahren im Zentrum internationaler Ordnungsbemühungen liegen. Hier wird sich auch erweisen, ob die EU - zusammen mit den USA und Russland - in der Lage sein wird, eine gemeinsame und kohärente Politik zu entwickeln. Neben all den Problemen und Risiken ergeben sich auch neue Chancen für eine kooperative Sicherheitsstruktur des erweiterten Mittleren Ostens.

Die größte Bedrohung, die zu Beginn dieses Jahrhunderts unsere regionale und globale Sicherheit gefährdet, ist der zerstörerische Dschihad-Terrorismus mit seiner totalitären Ideologie und seinem Epizentrum im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika. Er ist nicht nur eine Bedrohung für die Gesellschaften des Westens, sondern vor allem auch für die muslimische und arabische Welt. Denn hinter dem neuen Terrorismus verbirgt sich eine tiefe Modernisierungskrise in weiten Teilen der islamisch-arabischen Welt.

Eine auch nur in Ansätzen positive Gestaltung der Globalisierung ist in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens bisher leider kaum gelungen. Den Erwartungen einer vorwiegend jungen Bevölkerung - mehr als die Hälfte der Menschen in der Region sind jünger als 18 Jahre ? steht sie mit weitgehend leeren Händen gegenüber.

=> Gefragt ist ein plausibles Regionalkonzept der EU und der USA.

Deshalb ist eine GASP gerade für diese Region dringend notwendig. Was können wir als Sozialdemokraten dazu beitragen? Unsere gemeinsamen Anstrengungen für Frieden und Sicherheit sind zum Scheitern verurteilt, wenn wir meinen, nur Sicherheitsfragen wären relevant ? sie sind es zweifelsohne! Aber Sicherheit definiert sich wesentlich weiter: soziale und kulturelle Modernisierungsfragen sind, genauso wie die Fragen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Frauenrechten und guter Regierungsführung von fast noch größerer Relevanz.

Pluralistische Sicherheitsgemeinschaft, KSZNO

Ausgehend von dem Erfolgsmodell KSZE/OSZE, mit dem die Spaltung Europas überwunden werden konnte, könnte auch eine Initiative für eine internationale Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten gestartet werden, an deren Ende eine belastbare Friedensregelung für die gesamte Region stehen muss.
 
Den Vereinten Nationen und ihrem Generalsekretär Kofi Annan würde eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung einer derartigen KSZNO-Initiative zufallen. Deshalb sollten sich die EU-Partner gemeinsam für eine Empfehlung des VN-Sicherheitsrates einsetzen, mit der der Rahmen für einen derartigen KSZNO-Prozess und die in ihm enthaltenen vertrauensbildenden Maßnahmen (Abrüstung und Rüstungskontrollverträge, Konfliktverhütung, Krisenbewältigung, Frühwarnung etc.) festgelegt wird.

Zivilisatorisches Hexagon (Senghaas) = friedliche internationale Entwicklung

Voraussetzung für eine zivile Friedensordnung bleiben m.E. die Punkte, die Dieter Senghaas beschrieben hat. Mit dem Modell des "zivilisatorischen Hexagons" formuliert er sechs miteinander eng verwobene und wechselseitig rückgekoppelte Voraussetzungen für die Zivilisierung von Konflikten:
 

  1. staatliches Gewaltmonopol
  2. dessen Kontrolle durch Rechtstaatlichkeit
  3. Interdependenzen und Affektkontrolle
  4. Demokratische Partizipation
  5. Soziale Gerechtigkeit
  6. Existenz einer konstruktiven Konfliktkultur.

Problemfälle Irak/Iran

Die iranische Atomkrise und die weitere Entwicklung im Irak bleiben Hauptbrennpunkte, die uns noch auf unabsehbare Zeit beschäftigen werden. Die von den USA unterstellte Entwicklung, dass sich durch den Irak-Krieg und der angestrebten Demokratisierung des Landes auch andere Staaten der Region in einer Art positiven Dominotheorie demokratisieren, scheint mir jedoch mehr als fraglich. => Neue Generation von Führern (Marokko, Syrien, Palästina) als Chance
Israel und Palästina

Israel kann sich nicht wirklich von den Palästinensern trennen, und insofern bleibt die Zukunft eines palästinensischen Staates eine der ganz zentralen Fragen für die Sicherheit und die Interessen Israels. Ein de facto palästinensischer Staat als so genannter failing state, als nicht wirklich lebensfähige palästinensische Territorien, die in Radikalisierung und Chaos zu versinken drohen, ist ein Albtraum für die Sicherheit Israels. 

Die internationale Staatengemeinschaft hat nach dem Zusammenbruch aller bisherigen Friedensbemühungen, angeführt von den USA und den drei anderen Mitgliedern des so genannten Quartetts (EU, UN-Generalsekretär und Russland), einen Stufenplan (Roadmap) für Verhandlungen entwickelt, der auf einen beidseitigen Prozess setzt. Beide Seiten haben diesen Stufenplan zumindest formell akzeptiert.

Der Scharon-Plan geht nun von der Annahme aus, dass Israel über keinen Partner auf der anderen Seite verfügt und behauptet deshalb, dass Israel alle seine Verpflichtungen aus der Roadmap einseitig erfüllen würde, soweit ihm dies möglich sei. Solange Israel dieser Position folgt, bleibt seine Politik noch innerhalb der Roadmap. Mit einseitigen Annexionen allerdings wäre die Roadmap definitiv erledigt, und der Konflikt würde in der Folge erheblich eskalieren. 

Was wird die Zukunft im Nahen Osten bringen? Iran, der Irak, Syrien, Ägypten, die Arabische Halbinsel - die gesamte Region rutscht mehr und mehr in eine hochgefährliche Schräglage. Israels Interesse muss es sein, sich von diesem negativen Trend in der arabisch-islamischen Welt so schnell und so weit wie möglich abzukoppeln, und auch dafür sind Fortschritte mit den Palästinensern unverzichtbar. Es besteht die Hoffnung auf eine Verstärkung der Dynamik im israelisch-palästinensischen Prozess und es gibt ein weites Spektrum von Möglichkeiten, die genutzt werden können. Ariel Scharon hat mit dem Rückzug aus Gaza eine historische Wende angestoßen, vollenden müssen diesen Weg nun andere.

Eine transatlantischen Initiative für den Nahen und Mittleren Osten

Um erfolgreich zu sein, sollten angesichts dieser großen Herausforderung für unsere gemeinsame Sicherheit die Europäische Union, die USA und Kanada ihre Fähigkeiten, ihre Mittel und ihre Projekte zu einer - wie es Joschka Fischer nannte - "neuen transatlantischen Initiative für den Nahen und Mittleren Osten" zusammenführen. Eine solche Initiative könnte den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens eine völlig neue Perspektive eröffnen: Eine verstärkte Zusammenarbeit und enge Partnerschaft in Sicherheit, Politik, Wirtschaft, Recht, Kultur und Zivilgesellschaft.

Sowohl die NATO als auch die EU verfügen bereits über Kooperationen im Mittelmeerraum. Ein erster Schritt wäre daher ein gemeinsamer Mittelmeer-Prozess der NATO und der Europäischen Union. Der Dialog, den die NATO mit den Mittelmeerstaaten führt, und der Barcelona-Prozess der Europäischen Union könnten sich gegenseitig verstärken und ergänzen, indem sie ihre Arbeiten eng miteinander abstimmen und zu einem neuen EU/NATO-Mittelmeerprozess führen. Der Barcelona- Prozess der EU und der Mittelmeerdialog der NATO sollten dabei nicht verschmelzen, sondern sich mit ihren spezifischen Stärken ergänzen.

Der neue EU/NATO-Mittelmeerprozess sollte alle Teilnehmer des NATO-Mittelmeerdialogs einbeziehen: neben den NATO- und EU-Mitgliedern die Maghreb-Staaten Algerien, Tunesien, Marokko und Mauretanien, sowie Ägypten, Jordanien und Israel. Dazu kämen alle Teilnehmer am Barcelona-Prozess, das heißt die gerade genannten Länder sowie die Palästinensischen Gebiete, Syrien und Libanon.

Die Zusammenarbeit sollte sich auf vier inhaltliche Schwerpunkte konzentrieren: Sicherheit und Politik; Wirtschaft; Recht und Kultur; Zivilgesellschaft. Die legitimen Sicherheitsinteressen aller Staaten in der Region sollten in einer auf Transparenz und Verifikation, auf Abrüstung und Rüstungskontrolle beruhenden regionalen Sicherheitskooperation beantwortet werden. Die Europäische Union hat dazu bereits im Barcelona-Prozess genaue Vorschläge unterbreitet.

Den zweiten Schwerpunkt könnte eine neue Wirtschaftspartnerschaft rund um das Mittelmeer bilden. Und dies ist ebenfalls für die Sicherheitsfrage von entscheidender Bedeutung. Vor allem die Entwicklung und Integration bisher getrennter nationaler Wirtschaftsräume könnte den politischen und gesellschaftlichen Wandel entscheidend unterstützen. Warum sollten wir also nicht das ehrgeizige Ziel mit Nachdruck verfolgen, bis zum Jahr 2010 gemeinsam eine Freihandelszone zu schaffen, die den gesamten Mittelmeerraum umfasst?

Es wird für unsere gemeinsame Sicherheit von strategischer Bedeutung sein, ob das Mittelmeer im 21. Jahrhundert zu einem Raum der Kooperation oder der Konfrontation wird.
 

 

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Rabat, 26.01.2006
Thema: 
Impulsreferat für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Marokko
Dateien: 
Rabat.pdf