EU-Interessen und deutsche Interessen im postsowjetischen Raum - Potenziale und Grenzen der Partnerschaft
Sehr geehrte Damen und Herren,
für die Einladung nach Moskau möchte ich mich ganz herzlich bedanken.
Die vergangenen Wochen und Monaten standen immer wieder im Zeichen der Beendigung des Zweiten Weltkriegs. Die Feierlichkeiten in der Normandie und in Moskau erinnerten an den militärischen Sieg über den deutschen Faschismus. Gleichzeitig gedachten wir der Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa durch Deutsche. Der Bundespräsident besuchte Israel. In unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor entstand eine Gedenkstätte an den Holocaust. Alle diese Ereignisse sind keine Schlusspunkte. Deutschland bekennt sich weiterhin zu seiner Verantwortung. Und wir arbeiten für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit ? im Innern und gegenüber unseren Nachbarn.
Die Fernsehbilder vom 9. Mai aus Moskau werden mir in Erinnerung bleiben. Der russische Präsident und der deutsche Bundeskanzler sprachen gemeinsam mit ehemaligen russischen und deutschen Soldaten. Sie hörten gemeinsam die schrecklichen Erlebnisse, die junge Frauen und Männer damals erlebten. Und beide, Präsident Putin und Bundeskanzler Schröder, erklärten gemeinsam: niemals dürfen mehr Gräben zwischen Deutschland und Russland liegen.
Es war gut, dass unmittelbar an die Feierlichkeiten in Moskau ein Treffen zwischen der Europäischen Union und Russland stattfand. Damit wurde eine längere Durststrecke in den beiderseitigen Beziehungen beendet. Brüssel und Moskau wollen beide ein integriertes Europa, in dem ein starkes Russland einen wichtigen Platz einnimmt. Eine Partnerschaft lebt von gemeinsamen Interessen: Zwischen Europa und Russland müssen die ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen intensiviert werden. Wir haben gemeinsame Interessen in der Welt. Die friedliche Lösung von Konflikten, eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und die Stärkung der Vereinten Nationen sind nur drei Stichworte. Eine Partnerschaft lebt allerdings auch von gemeinsamen Werten: Die Beachtung der Menschrechte steht dabei an erster Stelle. Freiheit und Demokratie bleiben die Grundlagen für Frieden und Verständigung.
Russland und die Europäische Union haben das neue Verhältnis vertraglich geregelt. Das bedeutet Verlässlichkeit durch institutionelle Kooperation. Moskau hat der Ausdehnung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und Russland auf die neuen EU-Beitrittsländer zugestimmt und das Kyoto-Protokoll ratifiziert. Und es arbeitet bei der Bekämpfung internationaler terroristischer Netzwerke und bei der Verhinderung einer Weiterverbreitung von Nuklearwaffen und ihren Trägersystemen mit den USA und der EU eng zusammen. Die Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat ist ein weiterer Eckpfeiler der Zusammenarbeit.
Die Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU
Im Verhältnis zwischen der EU und Russland sind somit eine ganze Reihe positiver Entwicklungen zu registrieren. Zwischen der EU und Russland entwickelten sich in den letzten Jahren aktive wirtschaftliche Beziehungen. Auf die EU-Mitgliedsländer kommen 52 Prozent der Direktinvestitionen in Russland. Ca. 40 Prozent des Außenhandels Russlands wurden mit der ?EU der 15? abgewickelt - nach Beitritt der neuen EU-Länder sind es mittlerweile über 50 Prozent. Russland exportiert derzeit nach West- und Osteuropa zwei Drittel seines Erdgases und zu 50 Prozent seines Erdöls. Es gibt den EU-Russlandrat und andere Institutionen über die viele Kontakte laufen. Doch all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer wieder die Beziehungen auch von ernsten politischen und wirtschaftlichen Problemen gekennzeichnet sind. Russland und auch die EU können diese jedoch nur lösen, wenn beide Seiten verlässliche und berechenbare strategische Partner in den internationalen Beziehungen bleiben.
Das langfristige Ziel bleibt: Die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums sowie eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dies wurde auch die in der gemeinsamen Gipfelerklärung zwischen der EU und Russland formuliert. Folgende Punkte sind dabei von entscheidender Bedeutung:
- Unterstützung der Zivilgesellschaft und der freien Meinungsbildung
- Umwelt und nukleare Sicherheit/nukleare Entsorgung
- Bekämpfung der organisierten Kriminalität
- Zusammenarbeit im Bereich der Abrüstung und der Nichtverbreitung
- Integration Russlands in die Weltwirtschaft.
Die auf dem Gipfeltreffen am 10. Mai vereinbarten "Fahrpläne" enthalten detaillierte Ziele der Zusammenarbeit sowie Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele. Die Umsetzung und Überwachung obliegt dem Ständigen Partnerschaftsrat, der kürzlich gestärkt wurde, künftig häufiger tagt und die Fachminister zu Entscheidungsfindungen zusammenbringen soll.
Die Übereinkunft ist ein grundsätzlicher Fortschritt hin zu einem Europa ohne Grenzen, in dem sich die Wirtschaft entwickelt und die Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte respektiert werden. Sie ist möglich geworden durch eine intensive gemeinsame Arbeit, sowie die Fähigkeit, Kompromisse zum gegenteiligen Vorteil zu finden.
Im Bereich der äußeren Sicherheit werden die EU und Russland ihre Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus, gegen die Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln sowie die Bemühungen um Exportkontrolle und Abrüstung fortsetzen.
Im Mittelpunkt des Abkommens stehen jedoch konkrete Wirtschaftsprojekte. Fernziel ist eine Freihandelszone, die die EU und Russland umfasst. Voraussetzung dafür ist allerdings Russlands Eintritt in die Welthandelsorganisation (WTO). Die Chance auf den Beitritt zur WTO ist gegeben. Die Russische Föderation sollte nun das Zeitfenster zwischen jetzt und dem Sommer nutzen, um den WTO-Beitritt zu sichern, über den seit rund sechs Jahren diskutiert wird.
Ich bin davon überzeugt, dass das umfangreiche Kooperationsabkommen vom 10. Mai zum Aufbau eines gemeinsamen europäischen Raumes beitragen wird. Die Kooperation kann somit eine qualitativ neue Stufe erreichen. Meines Erachtens gibt es weder für die EU noch für Russland eine Alternative zu einer solchen strategischen, also langfristig und nachhaltig angelegten Partnerschaft. In der EU setzt man darauf, auf diese Weise auch den inneren Wandel in Russland hin zu mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftlicher Liberalisierung zu fördern.
Wie die Zusammenarbeit zwischen Russland und der Europäischen Union in der Praxis aussehen wird, hängt zweifellos auch in hohem Maße von der Entwicklung der EU selbst ab. Mehr Vertiefung und größere Entscheidungsfähigkeit im Sinne der künftigen Verfassung werden Moskau zwangsläufig dazu bringen, mehr nach Brüssel als nach Berlin oder Paris zu schauen. Die Europäische Union ist mehr als eine Ansammlung von europäischen Staaten. Diese Organisation ist mittlerweile ein eigenständiger Akteur in der internationalen Politik.
EU-Interessen im postsowjetischen Raum - Krisenpotenziale
Neben Fortschritten gibt es weiterhin auch besorgniserregende Entwicklungen. Die EU und auch Deutschland können die Entwicklung in Russland und in der GUS jedoch nur dann positiv beeinflussen, wenn sie auch bereit sind, ihre Bedenken und Irritationen offen anzusprechen. Dies gilt natürlich auch für die russische Seite. Ein offenes Gespräch kann und muss unter Freunden und Partnern möglich sein.
Durch den Schmuggel von Drogen und anderer Konterbande tangiert die Instabilität in einigen Regionen des GUS-Raums die europäische Sicherheit. Den Hintergrund für den Zusammenhang zwischen Schmuggel und regionaler Instabilität bilden poröse nachsowjetische Staatsgrenzen, schwache und zum Teil korrupte Sicherheitsstrukturen (Grenzschutz, Zoll, Polizei), lokale Gewaltmärkte und ungelöste Regionalkonflikte.
Diese besorgniserregenden Entwicklungen beobachten wir im gesamten südlichen Krisenbogen der GUS, der sich von Moldawien über Georgien, Armenien, Aserbeidschan bis Tadschikistan spannt und mit Tschetschenien auch unmittelbar russisches Territorium berührt.
Abrüstung und Globale Partnerschaft
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein Themenfeld ansprechen, welches mir besonders am Herzen liegt. Abrüstung und die Vernichtung und Beseitigung von Massenvernichtungswaffen im Rahmen der Globalen Partnerschaft.
Die Globale Partnerschaft gegen Massenvernichtungswaffen und ?materialien wurde von den Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten auf dem Gipfel in Kananaskis (26./27.06.02) verabschiedet. Die Initiative dazu geht auf Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin zurück und wurde im Frühjahr 2002 durch Präsident Bush aufgegriffen. Mit ihr wird den nuklearen, chemischen und biologischen Proliferationsrisiken zunächst in Russland, mittlerweile auch in anderen GUS-Staaten begegnet. So soll vor allem verhindert werden, dass Massenvernichtungswaffen oder ? materialien in die Hände von Terroristen fallen. Neben Nichtverbreitung, Abrüstung und Terrorismusabwehr umfasst die Globale Partnerschaft auch die Förderung der nuklearen Sicherheit. Als Schwerpunkte möchte ich hier die Vernichtung von chemischen Waffen, die Entsorgung von (russischen) nuklear angetriebenen U-Booten und Spaltmaterial sowie die zivile Beschäftigung von Rüstungswissenschaftlern benannt.
Für diesen Zweck wird über zehn Jahre ein Gesamtbetrag von bis zu 20 Mrd. US-$ eingesetzt werden. Davon haben die USA 10 Mrd. $, Russland 2 Mrd. $, die Europäische Union 1 Mrd. Euro zugesagt -Deutschland hat zugesagt, bis zu 1,5 Mrd. Euro aufzuwenden.
Die G-8-Staaten haben die Zeit genutzt, um Projektprioritäten und Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit mit Russland zu definieren. Die G-8-Expertengruppe für Nichtverbreitung hat Wege ausgearbeitet, den in Kananaskis beschlossenen Katalog von Prinzipien weltweit umzusetzen, mit denen Terroristen oder sie beherbergenden Staaten der Zugriff auf Massenvernichtungswaffen erschwert werden soll.
Diese Initiative ist beispielhaft und sollte intensiviert und erweitert werden. Gleiches gilt für die weitere nukleare Abrüstung. In dieser Hinsicht möchte ich auch nicht meine Enttäuschung über den Verlauf der in New York stattfindenden Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags verhehlen.
Auch sollten weitere Schritte in Richtung nuklearer Abrüstung unternommen werden. Eine Null-Lösung bei den taktischen Nuklearwaffen in Europa ist längst überfällig. Zumal diese Waffen sicherheitspolitisch keinen Sinn mehr machen.
Weiterhin bitte ich die russischen Partner nachdrücklich, die Hindernisse zu beseitigen, die einer Inkraftsetzung des Angepassten Vertrages über konventionelle Streitkräfte noch im Wege stehen. Der Vertrag ist ein Eckpfeiler für die Sicherheitspolitik und die Vertrauensbildung in Europa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wir dürfen die Ergebnisse nicht gefährden.
Das Ziel ist klar: Wir wollen ein friedliches und geeintes Europa, einen gemeinsamen europäischen Raum zum Nutzen seiner Bewohner. Zur Verwirklichung dieses Zieles brauchen wir Russland als starken und gleichberechtigten Partner.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.