Gemeinsame Wahrnehmung weltpolitischer Verantwortung am Beispiel der erweiterten Nahostregion
- Der Nahe und Mittlere Osten steht vor einem gewaltigen Umbruch, der durch den Irak-Krieg noch weiter verschärft wurde. Die Region dürfte in den nächsten Jahren im Zentrum internationaler Ordnungsbemühungen liegen. Hier wird sich auch erweisen, ob die EU - zusammen mit den USA und Russland - in der Lage sein wird, eine gemeinsame und kohärente Politik zu entwickeln. Neben all den Problemen und Risiken ergeben sich auch neue Chancen für eine kooperative Sicherheitsstruktur des erweiterten Mittleren Ostens.
- Nach dem Irak-Krieg und dem Tode Arafats ist der Nahe und Mittlere Osten in Bewegung geraten. Die US-Regierung hat sich die Neuordnung der Region auf die Fahnen geschrieben und mit der ?Greater Middle East Iniative? Ausdruck gegeben. Außenminister Fischer hat das Konzept auf der Münchner Sicherheitskonferenz aufgegriffen und als das Projekt zur Neubegründung der transatlantischen Beziehungen bezeichnet. Inwieweit der Greater Middle East als Rechtfertigung für ein neues transatlantisches Projekt taugt, bleibt abzuwarten. Es ist auf jeden Fall zu begrüßen, dass neben der Terrorismusbekämpfung die Krisenregion als Betätigungsfeld für transatlantische Zusammenarbeit in den Focus genommen wird. Dazu gehören eine Reihe politischer Strategien: Demokratisierungstrategien, die Schaffung von Freihandelszonen, dem Barcelona-Prozess der EU, die Mittelmeerdialoge von NATO und OSZE bis hin zu dem immer wieder kehrenden Vorschlag einer KSZE für den Nahen Osten. Entscheidend für das Gelingen des Konzepts bleibt neben einer engen Abstimmung zwischen den USA und der EU auch eine enge Kooperation mit Russland. Die gilt nicht nur für den Nahen Osten, wo mit dem Quartett (EU, USA, Russland, UN) und der road map ein nützliches Instrumentarium geschaffen wurde, sondern auch für den Umgang mit der iranischen Atomkrise.
- Im Zusammenhang mit dem Atomkonflikt mit dem Iran ist es m.E. unabdingbar, dass nicht nur die USA, sondern auch Russland mit in den Verhandlungsprozess mit einbezogen wird ? was auch bereits geschieht. Obwohl die Beziehungen zu Teheran von Moskau nicht als "strategische Partnerschaft" eingestuft werden, sind sie es de facto dennoch. Beispielsweise ist der Iran der wichtigste Ansprechpartner Russlands im Mittleren Osten und in der islamischen Welt. Hinzu kommt, dass der Iran für Russland ein enorm wichtiger Absatzmarkt für Waren und Waffen darstellt. Deswegen ist es kein Zufall, dass der Kreml an die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem Teheraner Regime außerordentlich interessiert ist. Im Iran geht es nicht nur um Brennstäbe, sondern auch um Trägersysteme. Deshalb sollte der Focus nicht nur auf der Atomwaffenfähigkeit des Iran gelegt werden, sondern auch weitere Instrumente - wie VSBM, konventionelle Abrüstung und Stationierungsfragen - auf die Agenda gesetzt werden.
- Entscheidend wird dabei sein, inwieweit es gelingen kann, Demokratisierungsprozesse der arabischen und mittelöstlichen Staaten in Gang zu setzen. Dies beinhaltet auch die Aufgabe von Sonderbeziehungen mit autoritären, undemokratischen und illiberalen Regimen in der Region. So werden die USA nicht darum herumkommen, ihre Politik und ihr Sonderverhältnis gegenüber Verbündeten wie Saudi-Arabien oder Pakistan zu überdenken.
- Seit dem Irak-Krieg haben die Machtverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten sich verschoben; Forderungen nach einer Reform der inneren Verhältnisse einzelner Staaten haben zugenommen; und neue regionale Strukturen entstehen. Nicht zuletzt die großen arabischen Staaten, die die Politik der Arabischen Liga in den letzten Jahrzehnten weitgehend bestimmten, sind unter Anpassungsdruck geraten.
- Wenn die USA, die EU, Russland oder die G8 sich vornehmen, eine Region wie den Nahen und Mittleren Osten neu zu ordnen oder auch nur zur Reform seiner Staaten beizutragen, sollten sie sich über die Strukturen und Akteure und über die Spielregeln und Eigendynamiken regionaler Politik bewusst werden. Schon manches Neuordnungsprojekt für die Region ist an deren inneren Konflikten gescheitert. Auch sind alle Länder des Nahen und Mittleren Ostens Teil einer unruhigen und oft bedrohlichen Nachbarschaft: zu viele ungelöste geopolitische und innergesellschaftliche Konflikte, zu wenig regionale Institutionen. Reformvorschläge können nicht von außen oktroyiert werden, sondern müssen auch aus der Region selbst kommen.
- Die Bedeutung der Europäischen Union (EU) als internationaler Akteur im Nahen Osten ist seit den neunziger Jahren kontinuierlich gewachsen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten sich bewusst sein, dass ein transatlantischer Konsens über Reformnotwendigkeiten im Nahen und Mittleren Osten allein nicht ausreicht, um politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in ihrer südlichen Nachbarschaft auch tatsächlich den Weg zu bahnen. Es ist richtig, wenn europäische Akteure ihre Programme zur Förderung von Reformen und Reformbereitschaft in der arabischen Welt und im Nahen Osten zwar »komplementär« zu denen der USA, aber auch mit Russland durchführen.
- Die EU-Sicherheitsstrategie und die Einbindung Mittel- und Osteuropas in die europäische Integration sind auch im Interesse Russlands. Befürchtungen eines geringeren Engagements seitens der EU erscheinen aufgrund der Herausforderung der Osterweiterung zwar als berechtigt, doch hat sich durch die Erweiterung gerade in der EU das Bewusstsein dafür geschärft, dass Europa an einer Lösung des Nahost-Konflikts ? auch geographisch ? ein zentrales Interesse hat. Schließlich kommt dem Nahen Osten nach der Erweiterung nicht nur im Rahmen der europäischen Mittelmeerpolitik, sondern auch innerhalb der New Neighbourhood Policy eine entscheidende Rolle zu.
- Die Umgestaltung des Nahen Ostens wird nicht einfach werden und Zeit brauchen. Sie erfordert das breite Engagement der Vereinigten Staaten, Europas und last but not least auch die Unterstützung und Kooperation der Russischen Föderation.
- Eine regionale Friedensstrategie, die sowohl auf sicherheits- und rüstungskontrollpolitische Kooperation nach dem Vorbild von KSZE und OSZE als auch auf gesellschaftliche Modernisierung und Demokratisierung zielt, verdient Unterstützung. Die Europäer sollten offensiver als bisher versuchen, reformfreudige Kräfte zu stärken und existierende Regime durch Dialog, Anreize und konditionierte Hilfen zu Reformschritten zu motivieren. Alles Bemühen wird jedoch vergeblich bleiben, wenn die Entschärfung regionaler Konflikte, allen voran der zwischen Israelis und Palästinensern, weiterhin misslingt.
- Russland fühlt sich auf Grund seiner geografischen Nähe zum Mittleren Osten von Zerfallserscheinungen und einer Radikalisierung der Region bedroht. Falls der Mittlere und Nahe Osten explodieren sollten, wäre Russland mit einer moslemischen Bevölkerung von 20 Millionen unmittelbar betroffen. Ein Gelingen der Demokratisierung der arabischen Welt würde sich dagegen stabilisierend auf den gesamten postsowjetischen Raum auswirken.
- Die EU und Russland brauchen einander. Allein aufgrund seiner Größe, seiner Rolle als globaler Akteur, seiner geographischen Nähe zum Greater Middle East ist Russlands Mitwirken unerlässlich.
- Die Europäische Union steht bereits in den Startlöchern für eine neue Initiative zur Konfliktlösung. Der EU-Beauftragte für Außenpolitik, Javier Solana, unterbreitete den europäischen Außenministern dieser Tage einen Aktionsplan, der den festgefahrenen Friedensprozess wieder beleben soll. In Brüssel ist der Wunsch groß, sich nicht nur auf die Rolle des Geldgebers zu beschränken, sondern in der Nahost-Politik eine gewichtigere Rolle zu spielen. Ohne den Widerstand des autoritären Alleinherrschers Arafat wird es für die EU leichter, die palästinensische Seite dabei zu unterstützen, die lange überfälligen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr endlich abzuhalten.
- Alle Parteien stehen in der Pflicht, das kurze Zeitfenster neuer Chancen nicht zu beschädigen. Zwar ist Optimismus verfrüht, doch nach langer Zeit völliger Stagnation kommt wieder Bewegung im Nahost-Prozess. Zumindest gibt es die Hoffnung auf eine neue Ära.
Veröffentlicht:
Rede im Rahmen des FES-Gesprächskreis "Partnerschaft mit Russland in Europa" in Potsdam, 27.11.2004
Thema:
Möglichkeiten einer strategischen Partnerschaft und einer gemeinsamen Nahostpolitik der EU und Russlands