Rede auf dem "II. Shanghai Workshop on Global Governance", 23.06.2004 über "Regionale Renaissance"

Sehr geehrte Damen und Herren,

das internationale System befindet sich nach wie vor im Umbruch. Der vormals vorherrschende Ost-West-Konflikt wurde abgelöst durch regionale Konflikte und weltweite Sicherheitsprobleme. Sie prägen zwar das internationale System insgesamt, ihre Wirkung entfalten sie allerdings im regionalen Umfeld. Dies erhöht die Notwendigkeit zu regionaler Bewältigung. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir heute über Erfahrungen und Chancen regionaler Kooperationen sprechen wollen.

Der Wandel des internationalen Systems zeichnet sich auch dadurch aus, dass "Regieren" immer mehr aus den nationalstaatlichen Zusammenhängen herausgelöst wird. Nicht zuletzt die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass Aufgaben, die bislang der Nationalstaat erbracht hat, zunehmend durch regionale Organisationen wahrgenommen werden.

Internationale Organisationen spielen dabei in der Regel drei Rollen. Sie sind:

  • Instrumente staatlicher Politik, stellen
  • eine Plattform für den Konfliktaustrag und agieren
  • zunehmend als selbständige Akteure.

Regionale Kooperation: Das Beispiel Europa

Welche Lehren lassen sich aus den europäischen Erfahrungen ziehen? Regionale Kooperation ist mehr als sicherheitspolitische Verständigung und Zusammenarbeit. Genau so wichtig sind regionale Arrangements in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Umwelt, Justiz und Menschenrechte mit entsprechenden Institutionen und internationalen Regeln. Die Beachtung von Verfahren, Grundsätzen und Normen waren die entscheidende Voraussetzung für die europäische Integration. Die Selbstbindung der Staaten an das Recht ist der Kern des europäischen Friedens.

Die europäische Erfahrung zeigt auch: Regionale Organisationen können mit verschiedenen Maßnahmen besser gewaltsamen Konflikten vorbeugen und vorhandene Konflikte lösen als Staaten. Regionale und interregionale Kooperation sind zudem dringend notwendig, um den sicherheitspolitischen Herausforderungen zu begegnen. Dies gilt sowohl für die Bekämpfung der Ursachen von Sicherheitsrisiken als auch für die Abwendung akuter Bedrohungen.

Allerdings sollte "regionale Sicherheitsarchitektur" nicht sofort in Form von festen Institutionen definiert, sondern vielmehr als sicherheitspolitischer Prozess verstanden werden. Beginnend mit sicherheitspolitischen Dialogen über vertrauensbildende Maßnahmen kann langsam eine Institutionalisierung einsetzen. Die Erfolge dieses Prozesses führen schließlich zu einer Transformation der Beziehungen zwischen den Staaten. Gleichzeitig können sie zu einem innerstaatlichen Wandel beitragen.

Die EU als Akteur internationaler Politik

Die Europäische Union tritt immer stärker auch als Akteur in der internationalen Politik auf. Und dies nicht nur in der Finanz- und Wirtschafts-, sondern zunehmend auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. So wurde im letzten Jahr mit dem so genannten Solana-Papier zum ersten Mal eine gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Strategie der Union formuliert und verabschiedet.

Die Asien-Politik der EU zielt darauf ab, die politische und wirtschaftliche Präsenz der EU in der gesamten asiatischen Region zu verstärken. Die Tatsache, dass man von einer Asien-Politik der EU überhaupt sprechen kann, zeigt zugleich den hohen Grad der Vergemeinschaftung und Integration des europäischen Einigungsprozesses.

Die EU leistet ebenso wie die asiatischen Staaten in der jeweils anderen Region Beiträge zur Prävention und zum Krisenbewältigung. Zu nennen sind hier etwa die europäische Beteiligung an ARF und KEDO wie auch an den UN-Missionen in Kambodscha und Ost-Timor oder die Beteiligung ostasiatischer Friedenstruppen im ehemaligen Jugoslawien (UNPROFOR und UNMIBH).

Die Attraktivität Europas liegt für Ostasien derzeit vor allem im Bereich der Währungskooperation. So erscheint in Asien der Euro als die eigentliche Erfolgsgeschichte der europäischen Integration. Auch das europäische Sozialstaatsmodell könnte Vorbild sein.

Karl W. Deutsch und das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft

Die Gestalt der Europäischen Integration kann als "Sicherheitsgemeinschaft" beschrieben werden. Den Begriff entwickelte Karl Wolfgang Deutsch 1957 in seinem viel zitierten Standardwerk von 1957 ?Political Community and the North Atlantic Area. International Organization in the Light of Historical Experience, New York 1957?. Deutsch war 1938 vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen. Von dort prägte er die Politikwissenschaft nachhaltig.

Nach Karl W. Deutsch zeichnet sich eine "pluralistische Sicherheitsgemeinschaft" dadurch aus, dass

 

  • in ihrem Rahmen Gewalt als Mittel zwischenstaatlicher Interessendurchsetzung überwunden ist (gewaltfreie Problemverarbeitung),
  • ihre Teilnehmer in den grundlegenden politischen Werten übereinstimmen (Wertekonsens)
  • und das wechselseitige Verhalten berechenbar ist (Erwartungsverlässlichkeit).

Die Folge ist eine Zivilisierung des Umgangs zwischen Staaten.

Sicherheitsgemeinschaften sind also enge, institutionalisierte Beziehungen zwischen Staaten, die nicht nur auf wechselseitigen Interessen, sondern auf geteilten Werten und wechselseitigen Sympathien beruhen. Ein intensives Geflecht von Interessen, Kommunikationen und Organisationen hält ihre Mitglieder zusammen. Sicherheit wird als ein kollektives Gut verstanden. Die Möglichkeit eines bewaffneten Zusammenstoßes liegt jenseits der Vorstellungskraft.

Neben der "pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft" identifiziert Deutsch die "verschmolzene Sicherheitsgemeinschaft". Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass pluralistische Sicherheitsgemeinschaften aus mehreren souveränen Staaten bestehen, während verschmolzene Sicherheitsgemeinschaften aus einem staatlichen oder staatsähnlichen Gebiet mit einer zentralisierenden Gewalt bestehen. Die Europäische Union ist demnach heute mehr als eine "pluralistische Sicherheitsgemeinschaft" aber noch keine "verschmolzene Sicherheitsgemeinschaft".

Im Zusammenhang mit der Herausbildung einer regionalen Sicherheitsarchitektur in Asien stellt sich die Frage, ob Sicherheitsgemeinschaften nur zwischen Demokratien gebildet werden können? Oder anders gefragt: Ist ein demokratisches System für die Bildung einer Sicherheitsgemeinschaft lediglich eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung?

Wenn man den Kriterienkatalog von Deutsch anwendet zeigt sich: Für die Herausbildung einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft sind Gewaltverzicht, Wertekonsens und Erwartungsverlässlichkeit ausreichend. Im Hinblick auf die Mitgliedschaft der damaligen Militärdiktaturen Griechenland und Portugal in der NATO könnte man sogar argumentieren, dass die Teilnahme an einer Sicherheitsgemeinschaft den Prozess der gesellschaftlichen Teilhabe beschleunigen kann. Dennoch: Partizipation, soziale Gerechtigkeit und Rechtssicherheit können den Prozess der regionalen Integration befördern. Denn die Sozialisationsfunktion von Institutionen ist umso höher ist, je mehr Mitglieder Demokratien sind. So sind Demokratien eher dazu bereit, Sicherheitsgemeinschaften zu bilden als Nicht-Demokratien.

Befindet sich (Südost-) Asien auf dem Weg zu einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft?

Es gibt meines Erachtens in Asien bis heute nur geringe Ansätze für die Bildung pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften. Vor allem die ASEAN könnten eine solche Sicherheitsgemeinschaft bilden, wenn die im vergangenen Jahr angekündigten Ziele auch umgesetzt werden. Die Definition verbindlicher Normen und Werte für alle Mitglieder könnte die Stabilität der ASEAN fördern. Dennoch: Damit bilden die ASEAN noch keine pluralistische Sicherheitsgemeinschaft. Es bedarf weiterer Reformen, eines starken Gemeinschaftssinns und Institutionen, um aus der ASEAN von heute eine Gemeinschaft zu machen.

Es gibt zahlreiche Faktoren, die der Herausbildung einer asiatischen Sicherheitsgemeinschaft entgegenstehen: Ein großes Problem ist, dass einzelne Länder noch immer enorme innerstaatliche Krisenherde zu bewältigen haben und daher noch nicht offen sind für multilaterale Lösungen. Der fehlende politische Wille manifestiert sich auch in der Ablehnung regionaler Institutionen, die gemeinsame politische Entscheidungen transparenter und den tatsächlichen Willen zur Integration deutlich machen könnten. Fragen von Menschenrechten, Rechtsstaat und Demokratie werden hingegen von einigen ostasiatischen Staaten nach wie vor in erster Linie als unangemessene "Einmischung in innere Angelegenheiten" betrachtet.

Ostasien als Region wird weiterhin auch durch ungelöste regionale Konfliktherde geprägt. Hierzu gehören die geteilten Nationen China/Taiwan und Nord- und Südkorea sowie Territorialkonflikte im Chinesischen Meer und die verdeckte Machtrivalität zwischen Japan und China.

Ein weiterer Faktor, der die Herausbildung einer Sicherheitsgemeinschaft erschweren könnte, ist die Einbeziehung asiatischer Regionalmächte. China und Indien könnten auf dem Standpunkt stehen, dass sie keine Sicherheitsgemeinschaft brauchen.  Ein Verhalten, das in jüngster Zeit auch die Weltmacht USA gegenüber ihren europäischen Verbündeten an den Tag gelegt hat.

Fazit

Für eine Vertiefung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Ostasien spricht die bereits recht intensive wirtschaftliche Verflechtung der ostasiatischen Volkswirtschaften. Gegen eine Vertiefung sprechen die ausgeprägten Souveränitätsvorbehalte und nationalistischen Reflexe in einigen Gesellschaften. Ostasien wird diese Beschränkungen überwinden müssen und sich noch sehr viel intensiver als bisher auf regionale wie internationale Kooperation einlassen müssen. Regionale Kooperationen bleiben eine Chance für die Zivilisierung internationaler Politik. Es gehören Mut und Klugheit dazu, die Gelegenheiten auch zu nutzen.

 

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Veröffentlicht: 
Vortrag auf dem "II. Shanghai Workshop on Global Governance", 23.06.2004
Thema: 
Formen regionaler Kooperation und die Rolle von Regionalorganisationen