Der Mythos des ewigen Tabubruchs

2014 dürfte als Jahr der weltpolitischen Zäsuren, vielleicht sogar als ein Epochenjahr in die Geschichte eingehen. Es hat die deutsche Außenpolitik - und nicht nur sie - vor grundlegend neue Herausforderungen gestellt und alte Grundannahmen in Frage gestellt oder revidiert. Vor diesem Hintergrund werden derzeit fast schon im Wochentakt "Paradigmenwechsel" und "Tabubrüche" diagnostiziert. Doch trifft das den Kern der Entwicklung?

Gemeinhin versteht man unter einem Tabu ein stillschweigend praktiziertes gesellschaftliches Regelwerk, eine kulturell überformte Übereinkunft, die Verhalten auf elementare Weise ge- oder verbietet. Als Paradigma hingegen wird seit dem späten 18. Jahrhundert eine bestimmte Art der Weltanschauung, eine Lehrmeinung oder auch eine wissenschaftliche Schule bezeichnet.

In der Außen- und Sicherheitspolitik wird unter einem Paradigmenwechsel demzufolge ein grundlegender Wechsel des Weltbildes und der damit verbundenen Werte und außenpolitischen Grundlagen verstanden. So kann ein Paradigmenwechsel entweder als längst überfällige Anpassung an eine gewandelte Welt begrüßt oder als Abkehr vom rechten Pfad verdammt werden. Klar ist: In Deutschland wird vor Paradigmenwechseln in der Regel gewarnt. Denn aus einem Paradigmenwechsel kann schnell ein "Tabubruch" werden - und andersherum. Die Grenzen scheinen fließend. So erfüllten die Waffenlieferungen an die nordirakischen Kurden für Claudia Roth den Tatbestand sowohl eines Paradigmenwechsels als auch den eines Tabubruches.

Für Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hingegen war genau das beabsichtigt. Sie forderte in der Debatte über die Hilfe für bedrohte Minderheiten im Nordirak dazu auf, Tabus der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu brechen. Dagegen betonte Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Kontinuität deutscher Außenpolitik.

Die Aufforderung zum Tabubruch löste eine Lawine von aufgeregten und unterschiedlich qualifizierten Kommentaren aus. Sie gipfelte in der Frage des STERN: "Militarisiert Ursula von der Leyen die deutsche Politik, um Kanzlerin zu werden?". Wenn dem so wäre, hätte sie eine ungewöhnliche Strategie gewählt. Schließlich dürfte auch ihr bekannt sein, dass zwei Drittel aller Deutschen Auslandseinsätze der Bundeswehr grundsätzlich ablehnen.

Das einzige Tabu der internationalen Politik, das seit 1945 von keinem Staat in Frage gestellt worden ist, ist das "nukleare Tabu". Es gilt seit Hiroshima und Nagasaki und ist universell. Ansonsten gilt: Tabus liegen im Auge des Betrachters. In Europa ist die Todesstrafe "tabu", in China, dem Iran und den USA gehört sie zur gängigen Rechtsprechung. Für die LINKE sind Rüstungsexporte prinzipiell "tabu", SPD und Grüne legen ihren Entscheidungen die geltenden Rüstungsexportrichtlinien zu Grunde, für Teile der Union fallen sie hingegen unter normale Außenwirtschaftspolitik. Für Pazifisten sind militärische Auseinandersetzungen "tabu", für die meisten Außen- und Sicherheitspolitiker ultima ratio. Heute sind Kriege zwischen Staaten laut UN-Charta geächtet. Bis zum Brian-Kellogg-Pakt 1928 jedoch galten sie ganz im Sinne von Clausewitz als legitimes Mittel im Umgang zwischen Staaten.

All das zeigt: "Tabubrüche" und "Paradigmenwechsel" sind nicht Ausnahme, sondern die Regel. Auch die Geschichte der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit 1949 ist bei Lichte besehen eine Geschichte von Paradigmenwechseln, die je nach Blickwinkel und medialem Interesse auch als "Tabubrüche" wahrgenommen oder inszeniert wurden und werden.

Deutsche Außenpolitik: Eine Abfolge von "Tabubrüchen" und "Paradigmenwechseln"

Schon Konrad Adenauer bereitete mit seiner Westbindung nicht nur einen grundlegenden Paradigmenwechsel vor, sondern verletzte auch eine Reihe nationaler Tabus. Allen voran das vom Fortbestand der deutschen Nation in den Grenzen von 1937. Dagegen liefen nicht nur die Vertriebenenverbände und weite Teile der Union Sturm, sondern auch die SPD unter Kurt Schuhmacher. Nach dieser frühen außenpolitischen Weichenstellung setzten sich zwei Ansätze zu einem Nachkriegsparadigma zusammen: Die Vertiefung der transatlantischen Beziehungen und die europäische Integration.

Mit der Gründung der Bundeswehr und dem Beitritt zur NATO 1955 als direkte Folge der Adenauerschen Westbindung wurde in den Augen vieler Deutscher mit einem weiteren Tabu gebrochen, nämlich mit der zentralen Lehre aus der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Ihr zufolge sollte "nie wieder Krieg von deutschem Boden geführt werden".

Ein weiterer Paradigmenwechsel hat unter dem Schlagwort "Ostpolitik" Eingang in viele Sprachen gefunden. Er beinhaltete die Abkehr von Illusionen und die Anerkennung des Status Quos der beiden deutschen Staaten. Zugleich wurde damit das "Tabu" des Alleinvertretungsanspruches der Hallsteindoktrin durchbrochen. Bonn akzeptierte de facto die Oder-Neiße-Grenze und die europäische Nachkriegsordnung als Folge des von Deutschland angezettelten Weltkrieges - auch wenn Polens Westgrenze juristisch erst durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 anerkannt wurde.

Nach der deutschen Einheit folgten weitere "Tabubrüche" und "Paradigmenwechsel". Gegen den Widerstand zentraler europäischer Partner preschte Deutschland in der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens voran und beendete im Dezember 1991 die bundesrepublikanische Absage an außenpolitische Alleingänge. Mit den Out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr auf dem Balkan fiel das "Tabu", oder genauer, die bisherige Praxis, der zufolge die Bundeswehr nur zur Landesverteidigung eingesetzt werden dürfe. Sie beendeten auch die sogenannte "Kohl-Doktrin". Ihr zufolge sollten deutsche Soldaten nie dort zum Einsatz kommen, wo die Wehrmacht gewütet hatte. Das allerdings hatte den potenziellen Aktionsradius auf Irland, die Balearen und Schweden beschränkt.

Der Hauptgrund für diesen Paradigmenwechsel war nicht zuletzt die Tatsache, dass die deutsche Zurückhaltung gegenüber den NATO-Partnern aufgrund zunehmender Bitten der Vereinten Nationen nach Beteiligung an Friedenseinsätzen nicht mehr durchzuhalten war. In der NATO gab es nur wenig Verständnis dafür, dass das souveräne Deutschland angesichts der neuen internationalen sicherheitspolitischen Herausforderungen die eigene Mitwirkung unter Vorbehalte stellte. Konnte man sich im Irakkrieg 1991 noch mit der bewährten "Scheckbuchdiplomatie" freikaufen, begann 1992 mit der deutschen Beteiligung an der Überwachung des Embargos gegen Jugoslawien die Abkehr von dieser Praxis.

1999 sorgte die rot-grüne-Regierung während des Kosovo-Krieges für einen doppelten Tabubruch. Sie setzte erstmals seit 1945 außenpolitische Ziele mit kriegerischen Mitteln durch und tat dies zudem ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Dies war zweifelsohne das Ende einer im Kalten Krieg an der Schnittstelle der Bündnisse eingeübten und in die neue Zeit hinübergeretteten Praxis. Je nach politischem und moralischem Standpunkt kann man sie als Sündenfall oder als notwendige Revision einer "Kultur der Zurückhaltung" bezeichnen. Für viele Verbündete war diese Kultur jedoch mittlerweile nichts anderes als moralisch verbrämte Trittbrettfahrerei.

Weitere außenpolitische Paradigmenwechsel folgten in Afghanistan, wo Deutschland "am Hindukusch verteidigt" wurde (Peter Struck). 2003 riskierte Gerhard Schröder den Tabubruch, indem er einen offenen Konflikt mit der amerikanischen Führungsmacht unter George W. Bush riskierte. Zusammen mit Frankreich entzog er sich einer Beteiligung am völkerrechtswidrigen Irakkrieg. Auch das "Tabu Wehrpflicht" fiel relativ geräuschlos im Juli 2011 unter Verteidigungsminister Guttenberg.

Inflation der Tabubrüche

Die aktuellsten - zumindest vermeintlichen - "Tabubrüche" und "Paradigmenwechsel" bescherten uns in diesem Jahr die Ukraine-Krise und die Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak. So führte Putins aggressive Politik nicht nur zu einer Desillusionierung sondern zu einem Paradigmenwechsel in der Russlandpolitik und im Russlandbild der deutschen Sozialdemokratie - von einigen Ausnahmen einmal abgesehen. Russland hat in der Ukraine-Krise nicht nur internationales Recht gebrochen, sondern auch die (Modernisierungs-)Partnerschaft mit der Europäischen Union aufgekündigt. Dennoch bleibt es ein strategischer Akteur, den man zur Lösung der Ukraine-Krise ebenso braucht wie beim Management der iranischen Atomkrise und im Kampf gegen den "Islamischen Staat". So kurios das Verständnis wirkt, das Putins Gewaltpolitik bei manchen Linken findet, die Gegenposition, die das alte Feindbild Russland aufpoliert und Putin zum Beelzebub unserer Epoche erklärt, ist auch nicht viel gescheiter. Im Großen und Ganzen hat der Westen bislang eine vernünftige Strategie umgesetzt. Wir haben auf ernsten, sachlichen Dialog gesetzt statt auf hysterische Konfrontation.

 Die Aufzählung der Paradigmenwechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit 1949 zeigt dabei auch: Nicht jeder heute vorschnell postulierte "Tabubruch" ist tatsächlich einer. Wir sollten hellhörig werden, wenn derzeit fahrlässig und inflationär vor "Tabubrüchen" gewarnt und "Paradigmenwechsel" an die Wand gemalt werden. Für eine Gesellschaft, die wenige Tabus kennt, gibt es hierzulande verdächtig viele Tabubrecher. Die Politik sollte sich deshalb davor hüten, jede mediale Aufgeregtheit mitzumachen und nicht über jedes Stöckchen springen, das ihr hingehalten wird.

Die meisten vermeintlichen "Tabubrüche" der deutschen Außenpolitik waren bewusste, verantwortliche und notwendige Anpassungen an ein (grundlegend) verändertes außenpolitisches Umfeld und/oder eine Reaktion auf geänderte Erwartungen und Ansprüche der Partner. Das bedeutet nicht, dass Tabus überflüssig sind - sie sind nach wie vor wichtig. So war und ist es richtig, dass sich Deutschland gegen eine atomare Bewaffnung entschieden hat und entsprechende Vorstöße in der Vergangenheit - etwa von Franz-Josef Strauß - erfolgreich abgewehrt hat.

Die Fähigkeit, Tabus - im Sinne von Denkverboten - aufzubrechen und Paradigmen - im Sinne von Weltanschauungen und vermeintlichen Wahrheiten - auf den Prüfstand zu stellen ist nicht verwerflich. Im Gegenteil: Prüfungen und - wenn nötig - Revisionen sind Voraussetzungen für eine kluge und vorausschauende Außenpolitik.

Im Grunde ist genau das die Absicht des von Frank-Walter Steinmeier angestoßenen Review-Prozesses zur deutschen Außenpolitik. In einer turbulenten Welt wird die deutsche Außenpolitik verstärkt mit neuen grenzüberschreitenden Herausforderungen und Bedrohungen, neuen aufstrebenden Mächten und neuen Technologien konfrontiert. Wir wären deshalb gut beraten, diese umsichtig zu analysieren und unterschiedliche Ansichten auszutragen, statt wöchentlich neue "Tabubrüche" und "Paradigmenwechsel" auszurufen.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Paradigmenwechsel sind kein Sündenfall, sondern Voraussetzungen einer vorausschauenden Außenpolitik.
Veröffentlicht: 
IPG-Journal, 13.10.2014