Die Schutzverantwortung im Lichte der Libyen-Intervention: Durchbruch oder Rückschlag?
Zur Genese der R2P
Seit dem Völkermord in Ruanda und den Massakern in Srebrenica hat die internationale Gemeinschaft die Notwendigkeit der Responsibility to Protect (R2P), einer internationalen Schutzverantwortung zur Verhinderung massiver und systematischer Menschenrechtsverletzungen erkannt. Die kanadische Regierung setzte 2001 die International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) ein, die 2001 ihren Bericht "The responsibility to protect" vorstellte. Die wesentlichen Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Souveränität der Staaten sei zwar grundsätzlich gegeben und müsse respektiert werden, damit verbunden seien jedoch nicht nur Rechte gegenüber der Staatenwelt (Interventionsverbot), sondern auch Pflichten (Schutzverpflichtung) gegenüber der eigenen Bevölkerung. Falls Staaten - aus welchen Gründen auch immer - diese Verantwortung nicht wahrnehmen können oder wollen, steht die Staatengemeinschaft in der Pflicht. Konkret stellt die Kommission an den Menschenrechtsschutz drei Anforderungen: 1. die Verpflichtung zur Prävention (to prevent), 2. die Verpflichtung, auf schwere Menschenrechtsverletzungen zu reagieren (to react) und 3. die Verpflichtung zum Wiederaufbau (to rebuild).
Nach Ansicht der Kommission sollte der erste Punkt dabei klar im Vordergrund stehen. Mit anderen Worten: In der Regel und im Idealfall soll eine militärische Intervention durch frühzeitiges politisches Eingreifen vermieden werden. Die Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft zum Schutz der Bevölkerung wird somit ausdrücklich nicht primär als militärische Aufgabe verstanden. Erst wenn sämtliche anderen Maßnahmen ausgeschöpft sind, können als ultima ratio auch militärische Zwangsmaßnahmen angewendet werden. Die Schwelle für militärische Optionen wird in Bericht bewusst sehr hoch angesetzt. Konkret empfiehlt die Kommission, Militäroperationen nur bei Kriegsverbrechen, Völkermord und schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchzuführen. Dabei müsse der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelten. Die zentrale Entscheidungsverantwortung sieht der Bericht beim UN-Sicherheitsrat - hält aber bei Zweidrittel-Entscheidungen auch eine Kompetenz der Generalversammlung für möglich. Zudem schlägt die Kommission vor, dass die Veto-Mächte von ihrem Blockaderecht im Falle der Schutzverantwortung keinen Gebrauch machen sollen.
Eine Reihe von Fragen bleiben jedoch weiter offen: Wie wird die internationale Staatengemeinschaft über Menschenrechtsverletzung zeitnah informiert? Bei welchen Verstößen besteht konkreter Handlungsbedarf, oder überspitzt formuliert: Ab wie vielen Toten ist ein Mord ein Völkermord? Eine entscheidende Dimension der R2P ist laut ICISS-Bericht die "responsibility to rebuild". Sie rundet die zeitliche Trias der Prävention (im Vorfeld), der Intervention (Eingriff) und dem Wiederaufbau (Nachsorge) ab.
Am 12. Januar 2009 legte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon der UN-Vollversammlung einen Bericht zur Weiterentwicklung der R2P vor. Er beruht auf einem Drei-Säulen-Modell: 1. der Schutzverantwortung des Staates, 2. die internationale Unterstützung und den Aufbau von Handlungsfähigkeit sowie 3. eine zeitnahe und entschlossene Reaktion. Neben einem funktionierenden Frühwarnsystem mahnt der Bericht eine umfassende Sanktionskette an, die schnell und in Absprache mit regionalen Strukturen wirken soll.
Das Prinzip der Schutzverantwortung ist bislang nur in wenigen Fällen in einer Resolution des Sicherheitsrates explizit aufgenommen worden, am deutlichsten bei drei Resolutionen aus 2011: in den UN-Sicherheitsratsresolutionen 1970 und 1973 zu Libyen sowie in der Sicherheitsratsresolution 1975 zur Beendigung der Gewalt in der Elfenbeinküste. Konsens besteht demnach weitgehend darüber, dass es eine Primärverantwortung der Staaten gibt, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, systematischer Gewalt gegen Minderheiten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Kann oder will ein Staat dies nicht leisten, geht die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft über.
Der Fall Libyen
Seit der Intervention in Libyen ist die Schutzverantwortung oder Responsibility to Protect (R2P) wieder in aller Munde. Für die einen ist Libyen der Durchbruch des Konzeptes und ein wichtiger Schritt hin zu einer völkerrechtlichen Norm. Für die Kritiker ist R2P von der NATO lediglich dazu instrumentalisiert worden, um einen unliebsamen Diktator loszuwerden.
Positiv zu vermerken bleibt, dass durch die Einstimmigkeit der UN-Resolution 1970 der Internationale Strafgerichtshof eine deutliche Aufwertung erfuhr. Bemerkenswert war insbesondere die Zustimmung der USA. Diese sind wie auch Russland und China nicht Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofes. Zwar hatte Präsident Clinton das Rom-Statut noch unterzeichnet, Präsident Bush hatte diese Unterschrift 2002 jedoch wieder zurückgenommen. Zudem suspendierte - auf ebenfalls einstimmige Empfehlung des Menschenrechtsrats selbst hin - die 192 Mitglieder umfassende UN-Generalversammlung die Mitgliedschaft Libyens im Menschenrechtsrat im Konsensverfahren. Dies wurde möglich, da sowohl im Menschenrechtsrat als auch in der Generalversammlung die libyschen Vertreter, die sich zuvor von Gaddafi losgesagt hatten, für den Ausschluss ihres Landes stimmten.
Die UN-Resolution 1973 vom 17. März 2011 ist schon jetzt ein Dokument für die Geschichtsbücher. Gareth Evans, ehemaliger australischer Außenminister und einer der Architekten des R2P-Prinzips ist davon überzeugt, dass eine ähnlich schnelle und robuste Antwort seinerzeit 8.000 Menschenleben in Srebrenica und 800.000 in Ruanda gerettet hätte. Und schon ist man bei einem zentralen Problem. Humanitäre Interventionen bleiben den absoluten Erfolgsbeweis schon deshalb schuldig, weil sie im Zweifelsfall genau das verhindert haben, was zu ihrer Legitimation herangezogen wurde: einen Genozid, ein Massaker oder andere schwerste Menschenrechtsverletzungen. Hätte eine NATO-Koalition 1994 rechtzeitig in Ruanda eingegriffen, wäre sie mit Sicherheit nicht für die Verhinderung eines Völkermordes gefeiert, sondern für die Einmischung in einen Bürgerkrieg kritisiert worden. Die Interventionen, denen im Rückblick auch beinharte Pazifisten zustimmen würden, sind immer die, die nicht stattgefunden haben. Letzte Gewissheit kann es dabei nicht geben, denn dazu müsste man definitiv wissen, wie sich die Lage in Libyen darstellen würde, wenn das westliche Bündnis nicht eingegriffen hätte.
Ursprünglich sollte die Militärintervention dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen - de facto ging es am Ende um einen Regimewechsel. Es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass die UN-Resolution 1973 von der NATO sehr weit interpretiert wurde. Sie hat das Mandat des UN-Sicherheitsrates instrumentalisiert, um den libyschen Machthaber Gaddafi zu stürzen. Es darf daher bezweifelt werden, dass China und Russland, aber auch andere Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, künftig eine ähnliche UN-Resolution passieren lassen werden. So hat die militärisch erfolgreiche »Operation Unified Protector« in Libyen einen politischen Preis: Weil sie sich bei der Auslegung von Resolution 1973 von den westlichen Großmächten ausgetrickst fühlen, blockieren China und Russland im Sicherheitsrat seither schärfere Sanktionen gegen das Assad-Regime in Syrien, das ebenso grausam gegen seine Gegner vorgeht wie Gaddafi im Frühjahr gegen die libysche Opposition.
Ohne Zweifel spielte das humanitäre Motiv die entscheidende Rolle für den Beschluss des UN-Sicherheitsrates. Sowohl für die französische - aber besonders für die amerikanische Regierung - waren die Erfahrungen aus Ruanda 1994 und Srebrenica 1995 entscheidend. Wichtige Akteure der Regierung Obama, wie die UN-Botschafterin Susan Rice und besonders Außenministerin Clinton, waren deutliche Befürworter eines militärischen Eingreifens. Die Besonderheit der Krise in Libyen hat sicher dazu beigetragen. Bereits Anfang März 2011 gingen unabhängige Beobachter von mehreren Tausend toten Zivilisten aus. Der von Gaddafi explizit angedrohte und unmittelbar bevorstehende Angriff auf Bengasi mit seinen mehr als 600.000 Einwohnern, hätte mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Massaker mit Tausenden von Opfern geführt. Nachdem sich sogar die Arabische Liga, die Organisation der islamischen Konferenz und der Golf-Kooperationsrat für ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft ausgesprochen hatten, enthielten sich die Vetomächte Russland und China und machten dadurch den Sicherheitsrat handlungsfähig. Eine deutliche Mehrheit seiner Mitglieder kam zu dem Ergebnis, dass die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft überzugehen habe. Der Text der Resolution 1973 weist folglich ein breites Handlungsspektrum auf, das auch den Einsatz militärischer Mittel zum Schutz der Zivilbevölkerung einschließt.
Die Intervention hat tatsächlich die Eroberung Bengasis durch Gaddafis Truppen und das angekündigte Massaker in der Stadt verhindert und damit das erste Ziel der Resolution erreicht. Der erfolgreiche Regimewechsel und das Ende Gaddafis sollte die NATO jedoch nicht zu falschen Schlüssen verleiten: Die Möglichkeit, mit begrenzten militärischen Luftschlägen einen Regimewechsel zu unterstützen und anschließend entscheidenden politischen Einfluss auf die Nachkriegsordnung zu nehmen, ist als Modell durchaus attraktiv, besonders weil es ohne Bodentruppen auszukommen scheint. Dies ist jedoch die Ausnahme und nicht die Regel, wie nicht nur der andauernde Krieg in Afghanistan zeigt. Die zentrale Erfahrung, die der Westen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Irak und Afghanistan gemacht hat, lautet vielmehr: Wenn das Bündnis mit militärischen Mitteln interveniert, muss es auch darauf vorbereitet sein, in eine potentiell langwierige und risikobehaftete Nachkriegs- und Stabilisierungsphase hineingezogen zu werden.
Auch wenn man das humanitäre Eingreifen der NATO zum Schutz der Zivilbevölkerung für richtig hält, verwundert doch die Selbstzufriedenheit mit der auf Seiten des Bündnisses der Krieg gegen Libyen als Erfolg verkauft wurde ? zumal eine abschließende Bilanz immer noch aussteht. Einzig der Internationale Strafgerichtshof hat bislang klargemacht, dass er die Verbrechen aller Seiten untersuchen will. Vom UN-Sicherheitsrat und der NATO war dazu bislang nur wenig zu hören.
Deutschlands entschiedenes Sowohl-als-auch
Deutschlands Rolle im Libyenfall kam einem diplomatischen Offenbarungseid gleich ? unabhängig davon, ob man nun die Intervention befürwortete oder ablehnte. So argumentierte die Regierung Merkel, dass Deutschland sich zwar im Sicherheitsrat enthalten habe, dies aber nicht mit Neutralität zu verwechseln sei. Neben den anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg spielte sicherlich auch die Gewissheit eine Rolle, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegen eine deutsche Beteiligung war und ist. Der öffentliche Eindruck und die veröffentlichte Meinung waren jedoch verheerend und das Krisenmanagement der Regierung Merkel kann nur als irrlichternd und bizarr bezeichnet werden.
Nach der Enthaltung im Sicherheitsrat versicherte Merkel im NATO-Rat den Verbündeten ihre volle Unterstützung. Während sich Deutschland immer für eine Verschärfung der Sanktionen gegen Libyen eingesetzt hatte, zog es seine Soldatinnen und Soldaten aus den NATO-Verbänden im Mittelmeer zurück, die diese Sanktionen durchsetzen sollten. Zugleich wurde - zur Entlastung der NATO-Partner in Libyen - das deutsche Kontingent im AWACS-Verband der NATO in Afghanistan aufgestockt. Eine entsprechende Anfrage war noch im Januar abgelehnt worden. Zudem versuchte das Kanzleramt Schadensbegrenzung zu betreiben, indem man das Gerücht zu streuen versuchte, Außenminister Westerwelle hätte ursprünglich mit "Nein" stimmen wollen und sei vom Kanzleramt zu einer Enthaltung gedrängt worden.
Es ist ohnedies interessant, wie sehr die Enthaltung Deutschlands dem Außenminister alleine in die Schuhe geschoben wurde - so als wäre die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin im Falle Libyens außer Kraft gesetzt worden. Auch wenn die Enthaltung ein Fehler war, sollte man jedoch "die Kirche im Dorf lassen". Die Deutschen standen mit ihrer Skepsis innerhalb der NATO keinesfalls allein. Von den 28 NATO-Staaten haben sich nur sechs direkt an den Luftschlägen gegen Libyen beteiligt. Die deutsche Enthaltung bedeutet auch weder das Ende des atlantischen Bündnisses noch den Beginn eines deutschen Sonderweges. Man kann jedoch mit Fug und Recht festhalten, dass die Libyen-Politik der Regierung Merkel zumindest dilettantisch war und Deutschland bei den Partnern nicht nur isolierte, sondern ihm zugleich auch die Einflussmöglichkeiten auf den Fortlauf des Konfliktes nahm. Dass Außenminister Westerwelle dann noch einen deutschen Anteil am Sturz Gaddafis reklamierte und dafür von seinem Vorsitzenden Rössler nicht nur zurückgepfiffen wurde, sondern sich auch noch artig bei der NATO zu bedanken hatte, setzt dem Ganzen noch die Krone auf.
Fazit
Der Zielkonflikt zwischen Menschenrechten und staatlicher Souveränität wird uns auch nach Libyen erhalten bleiben. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen zur Durchsetzung des Rechts Gewalt angewendet werden soll, gehört zu den schwierigsten und umstrittensten Fragen. Während die einen in der Schutzverantwortung nicht anderes, als den altbekannten Neoimperialismus des Westens unter dem Deckmantel der Humanität sehen, werfen deren Befürworter den Gegnern vor, sich hinter dem Mantel der Souveränität zu verschanzen. Ein weiterer Vorwurf an die Adresse der R2P-Interventionisten ist der Vorwurf der Doppelmoral. Dieser gipfelt zumeist in der Frage: Warum interveniert ihr im Kosovo und in Libyen aber nicht in Tschetschenien, Tibet oder in den afrikanischen Bürgerkriegsgebieten? Diese Argumentation folgt der Logik, wenn wir nicht überall intervenieren können und wollen, dann dürfen wir nirgendwo eingreifen und ist gesinnungsethisch. Die gesinnungsethische Moral des Absoluten mag ihren Anhängern womöglich ein reines Gewissen verschaffen, hilft aber im konkreten Fall nicht weiter. Verantwortungsethisches Handeln steht hingegen immer vor dem Dilemma, sich schuldig zu machen - durch Eingreifen ebenso wie durch Nichtstun.
Die UN-Charta verkörpert sicherlich nicht die beste aller Welten. Sie ist ausgelegt auf die Nationalstaaten als die einzig relevanten Völkerrechtssubjekte. Deshalb sollte man sich auch über den Charakter der Vereinten Nationen keinen Illusionen hingeben. Sie sind eben kein weltweites "System Kollektiver Sicherheit", sondern nach wie vor in erster Linie ein Konzert der Groß- und insbesondere der Vetomächte.
Die Akzeptanz und die Implementierung der internationalen Schutzverantwortung auf globaler, regionaler und nationaler Ebene voranzutreiben, wird nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, darüber einen breiten internationalen Konsens herzustellen. Der Begriff der R2P bedarf dringend einer nachvollziehbaren Operationalisierung. Es ist zweifelsohne ein Fortschritt, wenn blutige Unterdrückung von Diktatoren nicht mehr durch die Immunität staatlicher Souveränität geschützt ist. Wird diese Norm jedoch willkürlich angewendet, büßt sie ihre Glaubwürdigkeit ein. Ob der Libyenkrieg diese Norm nun befördert oder behindert hat, wird wohl erst die Zukunft zeigen.