SPD: Ziele, Instrumente und Ergebnisse sozialdemokratischer Friedenssicherung

Derzeit beteiligt sich die Bundeswehr an acht Stabilisierungsmissionen auf drei Kontinenten und zwei Weltmeeren. Kaum eine Sitzungswoche des Bundestags verstreicht, in der nicht eine Verlängerung einer der vielen Einsätze auf der Tagesordnung steht. Das Engagement im Kosovo dauert bereits ein Jahrzehnt, die Intervention in Afghanistan länger als der Zweite Weltkrieg. Das ist ein ziemlich dramatischer Wandel für ein Land, das nahezu vier Jahrzehnte lang in der Überzeugung lebte, dass seine Soldaten nur zur Landes- und Bündnisverteidigung eingesetzt werden dürften.

Umbau der Bundeswehr und Aufbau einer europäischen Armee

Der sichtbarste Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit Ende des Ost-West-Konflikts betrifft zweifellos die Einstellung zum Militär und zur Bundeswehr. Deren Aufgabe besteht nicht mehr in der Verteidigung der Grenzen, sondern in der Krisenintervention jenseits des Bündnisgebiets. Seit 1989 wurden in immer schnellerer Folge deutsche Soldaten ins Ausland entsandt: nach Kambodscha, Somalia, Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, ans Horn von Afrika, in den Kongo und vor die Küste Libanons. Deutsche Soldaten stehen dabei nicht mehr modernen Armeen gegenüber, sondern Warlord-Milizen, Aufständischen und terroristischen Gruppen. Mit anderen Worten: Die Zeit der Planung und Übungen für traditionelle Kampfeinsätze ist vorbei; nunmehr sind Stabilisierungseinsätze gefragt, um die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu wahren.

Trotz gewaltiger Anstrengungen ist die Bundeswehr noch nicht hinreichend für die neuen Aufgaben gerüstet. Nach wie vor klafft eine große Lücke zwischen der Lageanalyse asymmetrischer Bedrohungen durch nichtstaatliche Akteure und der Praxis der Streitkräftebeschaffung und Ausrüstung, die noch überwiegend auf zwischenstaatliche Auseinandersetzungen ausgerichtet sind. Die deutsche Rüstungsindustrie arbeitet teilweise noch Aufträge aus dem Kalten Krieg ab. Vielmehr braucht die Bundeswehr eine sinnvollere Investitionspolitik, die den gewandelten strategischen Umständen fragiler Staatlichkeit Rechnung trägt.

Künftige Streitkräfteplanung sollte deshalb die Prioritäten auf die gebotenen Stabilisierungsaufgaben statt auf unwahrscheinliche zwischenstaatliche Kriege ausrichten. Angesichts knapper Ressourcen und Finanzen wird sich nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die NATO - mit Ausnahme der USA - auf diese Fähigkeiten beschränken müssen.

Aus den gleichen Gründen braucht die EU dringend eine besser koordinierte Verteidigungs- und Militärpolitik. 27 nationale Armeen mit zusammen rund zwei Millionen Soldatinnen und Soldaten sind nicht nur wenig sinnvoll und zeitgemäß - sie sind auch zu teuer. Die EU-Staaten geben, vorsichtig gerechnet, derzeit über 160 Milliarden Euro für militärische Zwecke aus. Nicht jede Armee muss in Zukunft alles können; die Zeit der nationalen Universalarmeen in Europa geht zu Ende. Doch bisher ist es nicht gelungen, die nationalen Armeen im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu verzahnen.
Wenn Ressourcen gebündelt, Fähigkeiten koordiniert und redundante Waffen und Ausrüstungssysteme überprüft würden, könnte bei gleicher oder erhöhter Schlagkraft viel Geld eingespart werden. Ein Teil davon wäre nutzbar, um moderne Ausrüstung zu beschaffen oder um zivile, politische und diplomatische Maßnahmen zu finanzieren, die nicht minder wichtig sind.

Militär als letztes und begleitendes Mittel

Sicherlich kann es erst einmal notwendig sein, militärische Mittel einzusetzen, um humanitären Katastrophen zu begegnen. Doch militärische Interventionen müssen völkerrechtlich legitimiert sein, also entweder auf Basis des Kapitels VII oder des Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN) erfolgen. Der Kosovo-Krieg muss die Ausnahme bleiben. Trotz verschiedener Versuche, eine völkerrechtliche Legitimation der NATO-Intervention zu erwirken, konnte der Kosovo-Krieg letztendlich nicht durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats autorisiert werden. Die Allianz hat damit gegen die Buchstaben der UN-Charta verstoßen. Nicht zuletzt aufgrund dieser traumatischen Erfahrung hat die rot-grüne Regierung zwischen 1998 und 2005 wichtige Weichenstellungen für die deutsche Außenpolitik getroffen, die sich auch in den zivilen und militärischen Fähigkeiten der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik widerspiegeln.

Deutschland sollte sich künftig nur an Missionen beteiligen, wenn diese durch ein völkerrechtlich bindendes Mandat der Vereinten Nationen legitimiert sind und der Deutsche Bundestag zugestimmt hat. Alle diplomatischen und politischen Mittel der friedlichen Streitbeilegung müssen ausgeschöpft worden sein oder sich als aussichtslos erwiesen haben, um die Gewaltanwendung als »ultima ratio« zu rechtfertigen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein, das heißt eine zur Abwehr völkerrechtswidriger Handlungen ergriffene Maßnahme muss geeignet und verhältnismäßig sein, um diese zu unterbinden. Die seit dem Völkermord in Ruanda forcierte Debatte über die Schutzverantworung (Responsibility to Protect) ist richtungsweisend.

Fehlen begleitende politische Konzepte, dann sind jedoch militärische Interventionen sinnlos, meist sogar schädlich. Militärische Mittel allein können meistens Konflikte nicht nachhaltig lösen, sondern friedenserhaltende Maßnahmen nur absichern und unterstützen. Um zur Konfliktlösung beitragen zu können, müssen militärische Interventionen mit einer möglichst breit organisierten und stabilen gesellschaftlichen Basis im Zielland flankiert werden. Sonst werden die internationalen Truppen schnell als Besatzungsmacht wahrgenommen. Um das zu verhindern, sollte auch von vornherein eine Abzugsperspektive deutlich gemacht werden.
Militärische Interventionen sollten nur erfolgen, wenn von Beginn an eine Exit-Strategie vorhanden ist: präzise und realistische Erfolgskriterien, die erreicht sein müssen, damit die militärischen Einheiten ein Land wieder geordnet verlassen können, ohne im Zielland negative oder destabilisierende Wirkung zu entfalten.

Umfassender Statebuilding-Ansatz

Die Erfahrung in Afghanistan und Irak haben gezeigt, dass Milliarden Dollar in Sicherheits- und Entwicklungshilfen nutzlos sein können, wenn sie nicht von einer funktionierenden Regierung, vertrauenswürdigen Führungspersonen und realistischen Friedens- und Wirtschaftsplänen begleitet werden. In einer Übergangssituation muss die internationale Gemeinschaft deshalb gezielt staatliche und wirtschaftliche Strukturen (wieder) aufbauen. In Extremfällen müssen Staatsfunktionen im Rahmen einer Mandatsverwaltung zeitweise durch die internationale Gemeinschaft ersetzt werden. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die starke Präsenz der internationalen Gemeinschaft nicht die Bereitschaft zu eigenen Anstrengungen untergräbt.

Wir sollten auch keine überzogenen Erwartungen haben. Funktionierende Demokratien und ein staatliches Gewaltmonopol lassen sich weder ex- noch importieren. Auch die historisch gewachsene Ordnung vor Ort, die nur begrenzt mit der Entwicklung von Staatlichkeit in Europa und Amerika vergleichbar ist, muss bedacht werden. Insbesondere sollte sich die Staatengemeinschaft davor hüten, mit allzu schnellen Wahlen Potemkin'sche Staaten mit demokratischen Fassaden aufzubauen.

Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben uns schmerzhaft vor Augen geführt, dass der Erfolg internationaler Friedensmissionen vor allem auch von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren abhängt. Es ist wichtig, schnell wirksame und von der Bevölkerung erfahrbare Verbesserungen von Lebensbedingungen anzustreben, damit die staatlichen oder staatsähnlichen Strukturen in den Augen der Bevölkerung Unterstützenswertes leisten, sprich Legitimation genießen. Zudem sollte langfristig in Menschen investiert werden: durch Gesundheitsversorgung sowie Schul- und Ausbildung. Entscheidend ist, die Voraussetzung für eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Letztere ist immer die eigentliche Exit-Strategie.

Afghanistan, Kosovo und Bosnien-Herzegowina haben gezeigt, dass internationale Kräfte in Bürgerkriegsgebieten über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, gebunden sind, der Wiederaufbau zeit- und kostenintensiv ist und es deshalb keine einfache Exit-Strategie gibt. Wir sollten uns vor allem vor einem auftrumpfenden moralischen Imperialismus hüten, bei dem der Ehrgeiz allemal größer sein wird als die Mittel, die unsere Gesellschaften bereit sind, dafür bereitzustellen.

Denn Statebuilding braucht einen langen Atem, den demokratische Regierungen mit Blick auf die kritische Haltung ihrer Wähler nur schwer aufbringen können. Nicht zuletzt deshalb müssen künftig neue Auslandseinsätze gut überlegt und begründet werden.

Die Bundeswehr ist ein Parlamentsheer. Dies bedeutet, dass der Bundestag jeden Einsatz Jahr für Jahr nach einer kritischen Prüfung und einer öffentlichen Debatte verlängert und so den Bürgern Rechenschaft ablegt. Es gibt keine schwierigere Entscheidung für einen Abgeordneten, als deutsche Truppen in einen bewaffneten Konflikt zu schicken, mit dem Risiko zu töten und getötet zu werden. Deshalb gilt: Über den Einsatz der Bundeswehr entscheidet nicht etwa der NATO-Rat, sondern der Bundestag. Wir brauchen auch keinen Nationalen Sicherheitsrat oder einen Entsendeausschuss, wie in periodischen Abständen immer wieder von Teilen der Union gefordert wird.

Um die Kräfte zu bündeln und effizient einzusetzen, ist es auch auf internationaler Ebene dringend geboten, sich auf Kriterien und Interessen zu verständigen: wo und in welchen Fällen sich die internationale Gemeinschaft an der Rekonstruktion gescheiterter Staaten beteiligt - und in welchen nicht.

Die Vereinten Nationen und ihre Instrumentarien wie das Department of Peacekeeping Operations (DPO) müssen gestärkt und besser ausgestattet werden. Regionalmächte und Regionalorganisationen sollten dazu angehalten werden, ihrer Verantwortung besser gerecht zu werden, zumal der Hauptteil der Kosten eines gescheiterten Staates auf die unmittelbaren Nachbarn fällt.

Fazit und Handlungsbedarf

Seit den späten 1990er Jahren gehört Statebuilding in Krisen- und Konfliktregionen fest zum außenpolitischen Repertoire westlicher Staaten. Extern betriebenes, nach westlichen Ordnungsvorstellungen ausgerichtetes State- und Nationbuilding ist in den vergangenen Jahren zu einer regelrechten Wachstumsindustrie geworden.

Unter der Schirmherrschaft von UN, NATO und EU versucht die Staatengemeinschaft, kollabierte Länder wie Somalia, Afghanistan, Irak, Bosnien, Kosovo und Kongo wieder aufzubauen. Die bisherige Bilanz ist durchwachsen bis negativ. Mit ausbleibendem Erfolg schwindet zudem die öffentliche und politische Unterstützung in den am Staatsaufbau beteiligten Nationen.

Trotz aller Widerstände hat die rot-grüne Bundesregierung viele Initiativen für eine präventive Friedens- und Stabilisierungspolitik auf den Weg gebracht: mit dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), mit dem Aufbau des zivilen Friedensdiensts, mit der Aufwertung der Menschenrechtspolitik, den Stabilitätspakten für Südosteuropa und dem Kaukasus, mit der vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier entwickelten Zentralasien-Strategie und nicht zuletzt mit dem Aktionsplan für zivile Krisenprävention.
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004 wurde von der rot-grünen Bundesregierung ein politisches Strategiepapier, der »Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung «, erarbeitet. Dieses Gesamtkonzept, dessen Schwerpunkt auf der Früherkennung bzw. Krisenprävention und weniger auf der Krisennachsorge, dem Statebuilding nach Konflikten liegt, gilt es weiterzuentwickeln. Politik und Wissenschaft in Deutschland stimmen heute weitgehend überein, dass sich Deutschland aus eigenem Sicherheitsinteresse als verlässlicher Partner der internationalen Gemeinschaft den Herausforderungen der Friedenskonsolidierung stellen muss. Indem die Strukturen in zerfallenden Staaten gestärkt werden, können Krisen und Gewalt verhindert und globale Friedenssicherung betrieben werden.

Dennoch: Das Wissen, mit dem wir staatliche Institutionen in ethnisch gespaltenen, von Bürgerkriegen gezeichneten Gesellschaften rekonstruieren wollen, ist nach wie vor dürftig. Auch die Politik hat auf die Frage, was in welcher Reihenfolge beim Aufbau von Staaten zur Befriedung führt, bislang nur wenig empirisch gesicherte Antworten und ist auf die Zuarbeit und kompetente Beratung seitens der Wissenschaft und der Nichtregierungsorganisationen angewiesen.

Die Bundesrepublik hat in ihrer Geschichte bislang zwei große außenpolitische Debatten geführt: über die West-Bindung und über die Entspannungspolitik. Die eine gab dem neuen Staat Halt, die andere verschaffte ihm außenpolitischen Spielraum in Europa. Jetzt ist es an der Zeit, grundlegend darüber zu diskutieren, was Deutschland in einer entgrenzten Welt zum Aufbau prekärer Staaten konzeptionell und materiell beitragen kann und will.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Stabilität und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit
Anmerkungen: 

 

 

 

 

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Veröffentlicht: 
In: Josef Braml, Thomas Risse, Eberhard Sandschneider (Hrsg.), Jahrbücher des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bd. 28: Einsätze für den Frieden, München 2010, S. 366-370.