Abrüstung und Rüstungskontrolle als vitale deutsche Interessen

Unabhängig davon, ob ein Staat heute angesichts des sich ständig ändernden internationalen Umfelds auswärtige Interessen überhaupt jenseits von Allgemeinplätzen dauerhaft bestimmen kann, mangelt es keineswegs an Papieren und Strategien, die Deutschlands außenpolitische Interessen zu definieren versuchen: Das Weißbuch von 2006, die europäische Sicherheitsstrategie und die europäische Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen von 2003 sind dabei die wichtigsten Grundlagendokumente, in denen die deutschen und europäischen Interessen ausführlich behandelt werden.

Was sind nun deutsche Interessen? Als rohstoffarmer Handelsstaat ist Deutschland auf eine internationale Ordnung, Verträge und internationale Organisationen angewiesen, die die globalen Rahmenbedingungen berechenbar machen und die Einhaltung der Regeln garantieren. Auch wenn die "Berliner Republik" mit veränderten und gewachsenen Erwartungen ihrer Partner konfrontiert wurde, hat sich an den Grundkonstanten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik in einem dicht gesponnenen Netz institutioneller Bindungen auf den ersten Blick wenig geändert. Das Hauptmerkmal ist nach wie vor ein ausgeprägter Multilateralismus und die Abneigung gegenüber Sonderwegen und Alleingängen. Immer gemeinsam mit Partnern, niemals alleine, lautet nach wie vor die Devise deutscher Außenpolitik. Man kann von einer "Never alone-Doktrin" sprechen. Aus diesem Grunde ist deutsche Außenpolitik in hohem Maße auch Institutionen-Politik.

Multilateralismus schließt dabei nationale Interessenpolitik nicht aus, sondern ist geradezu Voraussetzung für eine solche. Die Abgabe von Souveränität und die Selbsteinbindung in die transatlantischen und europäischen Strukturen war somit nicht nur ein innovativer Ansatz, sondern folgte auch einem klaren Kalkül: Denn die uneingeschränkte deutsche Integrationsbereitschaft war ein Hebel, um im Rahmen dieser integrativen Strukturen wieder Einfluss und Mitsprache zu erlangen. Trotz des Stöhnens über die hohen deutschen Nettozahlungen dient die EU auch als Instrument deutscher Wirtschaftsinteressen. Bereits in der Vergangenheit verfolgte die deutsche Außenpolitik selbstverständlich nationale Interessen, auch wenn diese als europäische deklariert wurden. Deutsche Interessen und europäische Interessen sind im Großen und Ganzen deckungsgleich. Und dies unabhängig davon, dass in einzelnen Politikbereichen wie der Finanz-, Wirtschafts-, Agrar- und Arbeitmarktpolitik auch auf europäischer Ebene mit harten Bandagen gekämpft wird. Ohne die weitere Integration der Europäischen Union wird Deutschland kaum eines seiner außenpolitischen Ziele erfolgreich umsetzen können. Dass die Weltmacht USA trotz vieler transatlantischer Gemeinsamkeiten naturgemäß andere bzw. weitergehende Interessen verfolgt als die europäischen Demokratien, hat die Regierung von George W. Bush seit Amtsantritt eindruckvoll unter Beweis gestellt.

Es gibt jedoch auch einen Preis, der zu zahlen ist. Multilateralismus ist verbunden mit einem Verlust an Autonomie und mit Verpflichtungen und Kosten. Bei der Umwandlung der Bundeswehr zur Interventionsarmee geht es deshalb weniger um die Rückkehr der deutschen "Militärmacht" und eine dahinter stehende offene Strategie oder gar einen Masterplan. Deutschland agiert diesbezüglich weniger, sondern reagiert vielmehr auf die Anforderungen der Verbündeten. Die oft beklagte "Militarisierung" der deutschen Außenpolitik ist deshalb auch Konsequenz des Multilateralismus, der Einbindung in NATO, UNO und EU. Im Gegensatz zur Weltmacht USA hat Deutschland hier nicht - oder nur zu einem hohen Preis - die Möglichkeit von Alleingängen oder gar einer opting-out-Klausel.

Die Sicherheitsstrategie der Union - überflüssig und gefährlich!

Anfang Mai diesen Jahres sorgte die CDU/CSU-Fraktion mit der Formulierung einer nationalen Sicherheitsstrategie für Aufregung. Dabei ging es den Außenpolitikern der Union offensichtlich nicht um eine neue Bedrohungsanalyse, sondern um eine unzulässige Vermischung von innerer und äußerer Sicherheit, einer Stärkung des Kanzleramts gegenüber den übrigen Ressorts sowie einer Schwächung des Parlaments gegenüber der Exekutive. Zudem verschwimmen in der Sicherheitsstrategie von CDU und CSU die Grenzen zwischen Krieg und Frieden nun endgültig. Ebenso taucht die altbekannte Forderung von Wolfgang Schäuble und anderen auf, für einen "Einsatz der Bundeswehr im Innern (...) klare Rechtsgrundlagen zu schaffen und Zuständigkeiten anzupassen". Dahinter steckt Methode und der wiederholte, unverhohlene Versuch, die historisch begründete Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit aufzuweichen.

Ein weiterer Vorschlag der Unionsaußenpolitiker sieht vor, einen "Nationalen Sicherheitsrat als politischer Analyse-, Koordinierungs- und Entscheidungs(!)zentrum" auszubauen. Mit anderen Worten: Der bereits bestehende, 1955 gegründete und geheim tagende, Bundessicherheitsrat soll aufgewertet und mit einem handlungsfähigen Stab ausgestattet werden. Das Gremium koordiniert schon heute die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Regierung und entscheidet über Rüstungsexporte. Ihm gehören neun Mitglieder an: die Kanzlerin, der Chef des Kanzleramts, der Außenminister sowie die Minister für Verteidigung, Inneres, Finanzen, Justiz, Wirtschaft sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es gibt meiner Überzeugung nach keinen Anlass daran zu zweifeln, dass der Bundessicherheitsrat seine Aufgaben der Koordination sicherheitsrelevanter Fragen auch in Zukunft ordnungsgemäß wird erfüllen können. Im Übrigen bleibt die Notwendigkeit eines koordinierten und schnellen Regierungshandelns in erster Linie eine Frage der politischen Führung.

 Last but not least fordert das Unionspapier, das Parlamentsbeteiligungsgesetz sei "anzupassen", damit die Bundeswehr in multinationalen Eingreifverbänden auch dann kurzfristig einsetzbar sei, wenn "eine Entscheidung des Bundestags nicht rechtzeitig herbeigeführt werden kann". Dabei zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre, dass es in der Regel genügend Vorlaufzeit gibt, damit das Parlament verfassungsgemäß über eine Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Kampfeinsätzen entscheiden kann. Für die Beibehaltung dieser bewährten Praxis spricht auch, dass deutsche Truppen nur dann tätig werden können, wenn der Einsatz auf der Grundlage internationalen Rechts stattfindet. Unabdingbare Voraussetzung für den Einsatz deutscher Streitkräfte bleibt ein entsprechender Sicherheitsratsbeschluss der Vereinten Nationen.

Ohne Not geben sich die Abgeordneten von CDU/CSU wieder der seltsamen Neigung hin, sich selbst wichtige Befugnisse zu nehmen. Offenbar herrscht in weiten Teilen der Union die tiefe Überzeugung, dass weniger Kompetenzen für das Parlament mehr Sicherheit für Deutschland bedeuten. In einer Zeit globaler Sicherheitsrisiken ist jedoch nicht weniger, sondern mehr parlamentarische Kontrolle über die Sicherheitsorgane nötig. Dies sehen immer mehr unserer Partner im Bündnis ebenso: Der deutsche Parlamentsvorbehalt findet immer mehr Nachahmer in anderen europäischen Parlamenten.

Auch wenn die Tradition der zivilen Außenpolitik in Deutschland der Union offenbar ein Dorn im Auge bleibt, ist sie nicht ohne Grund aus historischen Gründen im Grundgesetz verankert worden. Es ist zudem nur schwer ersichtlich, was der "Mehrwert" einer deutschen Sicherheitsstrategie sein soll, wenn es bereits eine europäische gibt. Derzeit gibt es keine Partei im Bundestag, die bereit wäre, der Union bei dieser radikalen Neuausrichtung der deutschen Sicherheitspolitik verbunden mit der Selbstentmachtung des Parlaments zu folgen.

Abrüstung und Rüstungskontrolle als deutsche Staatsräson

Nach einem Jahrzehnt der Abrüstung, das 1987 mit dem INF-Vertrag begann und 1997 mit der Chemiewaffenkonvention endete, steigen die Militärausgaben seit 1998 wieder deutlich an. Laut SIPRI-Jahrbuch 2007 wurden im Jahr 2006 ca. 900 Milliarden Euro weltweit für militärische Zwecke ausgegeben. Das waren 3,5 Prozent mehr als 2005. In den letzten zehn Jahren sind die Rüstungsausgaben damit weltweit um 37 Prozent gestiegen. Die USA liegen dabei mit großem Abstand an der Spitze: Auf sie entfallen mit 396,2 Milliarden Euro, 42 Prozent der globalen Rüstungsausgaben. Auch beim internationalen Waffenhandel ist seit 2002 ein Anstieg um 50 Prozent zu verzeichnen. 

Fast 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges lagern weltweit noch gut 30.000 nukleare Sprengköpfe. Die mehrfache Vernichtungskapazität der Menschheit hat sich seit 1989 also nur unwesentlich verringert. Dafür ist die Verteilung der Massenvernichtungswaffen brisanter geworden. In den Planungsstäben der Großmächte erlebt die Atombombe eine strategische Renaissance. Nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit befinden sich die führenden Militärmächte wieder längst in einem neuen atomaren Rüstungswettlauf, der dringend gestoppt werden muss.

Abrüstung und Rüstungskontrolle befinden sich heute in einer tiefen , vielleicht sogar existenziellen Krise. Wesentliche rüstungskontrollpolitische Errungenschaften sind in Gefahr. Weder der angepasste KSE-Vertrag (AKSE), noch der atomare Teststoppvertrag (CTBT) sind in Kraft. 2005 scheiterte die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Auch die zunehmende Verbreitung von Raketensystemen aber auch die Raketenabwehrpläne der USA geben Anlass zu großer Sorge.

Das System internationaler Beziehungen und Verträge, das die Weiterverbreitung von Waffen verhindern soll, ist akut einsturzgefährdet. Es stammt aus einer Zeit der Übersichtlichkeit des Kalten Krieges. Heute treten Regionalmächte auf den Plan, die ihre Machtinteressen ohne Einordnung in ein Ost-West-Schema verfolgen. Zwar hat die Gefahr eines "nuklearen Weltkrieges" abgenommen, gleichzeitig treten aber an diese Stelle andere, bisher unbekannte Gefahren für die internationale Sicherheit: schwache und instabile Staaten, die mit Massenvernichtungswaffen ausgerüstet sind, oder nicht-staatliche Akteure, die an Bedeutung gewinnen. Als neue Herausforderung für die Rüstungskontrollbemühungen erweisen sich zunehmend die Aufrechterhaltung des staatlichen Gewaltmonopols, die Verminderung der Zerstörungswirkung von Waffen und die Reduzierung ihrer Kosten. Mit der Überwindung des Kalten Krieges scheint weitgehend das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Erhalts des geschaffenen Rüstungskontroll-Acquis wie auch weiterer Anstrengungen im Bereich der Abrüstung und Rüstungskontrolle verloren gegangen zu sein. Aber es sind weiterhin die bestehenden multilateralen Verträge, die die Grundlage für eine kooperative Sicherheitsordnung darstellen.

Die Bundesrepublik hat in der Vergangenheit in der NATO, EU, G8, IAEO, den Vereinten Nationen und in nuklearen Rüstungskontrollforen, wie z. B. der Überprüfungskonferenz zum NVV 2005, einen wichtigen und konstruktiven Beitrag zur nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle geleistet. Auch im Rahmen der Gespräche um das Atomprogramm des Iran hat die Bundesregierung mäßigend auf die Akteure eingewirkt. Nicht zuletzt bemüht sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier, z. B. in der deutsch-norwegischen NATO-Initiative vom 7. Dezember 2007, im Bereich der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle außenpolitische Spielräume zu nutzen. Dass es auf dem NATO-Gipfel am 3./4. April 2008 gelang, Abrüstung und Rüstungskontrolle als genuine Aufgabe der NATO in das Abschlusskommuniqué von Bukarest mit aufzunehmen (Ziffer 39 der Gipfelerklärung von Bukarest) und die bislang noch skeptischen Partner USA und Frankreich einzubinden, ist ein Erfolg der deutschen Diplomatie.

Fazit

Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen wieder zu einem Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen werden. In den vergangenen Jahrzehnten hat diese Strategie die Welt sicherer gemacht. Während des Ost-West-Konflikts trug Rüstungskontrolle maßgeblich zur Kriegsverhütung und Vertrauensbildung bei. Sie schuf die Voraussetzung für Kooperation und Wandel. Die Begrenzung und der Abbau der strategischen Kernwaffen, die Vernichtung sämtlicher Mittelstreckenraketen, der Nicht-Weiterverbreitungsvertrag, das Chemiewaffenabkommen, die Bio-Waffen-Konvention und die Beschränkung der konventionellen Rüstung in Europa sind nur einige wichtige Beispiele.

Rüstungskontrolle ist somit kein "überholtes Konzept", sondern angesichts neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen notwendiger denn je. Auch wenn man sich keine Illusionen darüber machen sollte, dass es auch künftig Versuche geben wird, Rüstungskontrollverträge zu umgehen und zu unterlaufen, gibt es zur vertragsbasierten und verifizierbaren Rüstungskontrolle nur eine unvernünftige Alternative. Weltweites nukleares, chemisches, biologisches und konventionelles Wettrüsten. Ein solches liegt in Niemandes Interesse.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Deutsche Interessen
Veröffentlicht: 
In: spw 4/2008, Heft 165, S. 23-26.