Die atomare Gefahr wächst

Auch die europäische Politik sollte sich für eine wirksamere
Verknüpfung von Abrüstung und Nichtweiterverbreitung einsetzen. Hier
könnte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 neue
Initiativen auf den Weg bringen. Abrüstung muss zum Instrument der
Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen werden.
Multilaterale Verträge und wirksamere Exportkontrollregime sollten als
Teil einer gemeinsamen Strategie weiterentwickelt werden.



Präventive, umfassende Friedens- und Sicherheitspolitik geht im
Verständnis der SPD über reine Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik
hinaus. Sie basiert auf dem erweiterten Sicherheitsbegriff und dem
Konzept der menschlichen Sicherheit. Die SPD muss das Konzept der
Kriegsverhütung auch in einer neuen Weltordnung verteidigen.
Internationale Verträge bleiben unverzichtbare Instrumente, dem
Wettrüsten Einhalt zu gebieten



Die Rüstungskontrolle befindet sich - je nach Betrachtungsweise - in
der Krise, der Stagnation oder ist bereits sanft verschieden. Die
Abrüstungsdekade der 90er Jahre scheint endgültig beendet zu sein. Es
führt leider kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass zunehmend mehr
Länder derzeit ihr Heil weniger in Abrüstung und Rüstungskontrolle als
vielmehr in der Schaffung von gesteigerten und verbesserten
militärischen Fähigkeiten suchen. In vielen Regionen der Welt sind
Rüstungsschübe und Rüstungswettläufe im Gange - neben Ostasien,
Südostasien und Südasien ist hier vor allem der Nahe und Mittlere Osten
zu nennen.



Dabei erfordern die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen
nicht mehr militärische Mittel, sondern vielmehr politische Konzepte.
Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen deshalb wieder
verstärkt als wesentliche Bestandteile einer europäischen
Sicherheitspolitik verstanden werden. Die EU sollte die europäischen
Erfahrungen, wie sie beispielsweise im Rahmen des KSZE-Prozesses
gemacht wurden, auch als Modell für andere Regionen empfehlen. In
erster Linie muss es darum gehen, Rüstungskontrolle und Abrüstung auch
regional zu verankern.



Die SPD ist der Überzeugung, dass ein multilaterales
Sicherheitskonzept, einschließlich Abrüstung und Nichtverbreitung, der
beste Weg zu einer friedlichen Weltordnung ist. Vor dem Hintergrund
eines wachsenden Unilateralismus in der internationalen
Sicherheitspolitik brauchen wir dringend eine Stärkung des atomaren
Nichtverbreitungsregimes, verbesserte Überprüfungs- und
Sanktionsmechanismen und als langfristige Perspektive die verbindliche
Vereinbarung eines Zeitplans für die Abschaffung aller Atomwaffen. Die
SPD hält unverändert am Ziel einer atomwaffenfreien Welt fest.



Globales Nichtverbreitungsregime



Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September steht der
mögliche Zugang terroristischer Gruppierungen zu Nuklearmaterial wieder
ganz oben auf der Agenda sicherheitspolitischer Überlegungen. Deshalb
ist ein effektives und weltweit flächendeckendes Verifikationsregime
zur Kontrolle unautorisierter Proliferation von Nuklearstoffen
unbedingt erforderlich.



Mittlerweile steht eine der größten rüstungskontrollpolitischen
Errungenschaften auf dem Spiel: der Atomwaffensperrvertrag (NVV), der
vor 36 Jahren in Kraft trat. Er ist der Eckpfeiler in den weltweiten
Bemühungen, die Verbreitung der Atomwaffen zu verhindern und die
nukleare Abrüstung zu stärken. Mit 189 Vertragsstaaten kann man ihn als
nahezu universelles Vertragswerk bezeichnen. Nur noch Indien, Pakistan
und Israel befinden sich außerhalb des globalen
Nichtverbreitungsregimes - Nordkorea hat seinen Austritt erklärt. Trotz
aller Schwächen hat der NVV wesentlich zur Eindämmung der nuklearen
Proliferation beigetragen. Gleichzeitig stellte er sicher, dass die
Mitgliedsstaaten unter Kontrolle und Aufsicht der Internationalen
Atomenergiebehörde (IAEA) die nuklearen Technologien für zivile Zwecke
nutzen konnten.



Besorgniserregend ist vor allem, dass Kernwaffen zu Beginn des 21.
Jahrhunderts nicht mehr als letztes Mittel der Abschreckung, sondern
zunehmend wieder als Kriegsführungswaffen gesehen werden. Mit der
fortwährenden Modernisierung ihrer Arsenale stellen nicht nur die USA,
sondern auch Russland, China, Frankreich und Großbritannien
Verpflichtungen aus dem NVV in Frage. Trotz gegenteiliger Bekenntnisse
im UN-Sicherheitsrat sind immer weniger Kernwaffenstaaten bereit,
Zusicherungen des Nichteinsatzes abzugeben und behalten sich weiterhin
das Recht vor, diese auch präventiv einzusetzen.



Der Austritt Nordkoreas im Januar 2003 war ein weiterer Rückschlag für
das globale Nichtverbreitungsregime. Zusätzlich hat sich seit 2004 die
Krise um Iran verschärft. Auch Iran droht mit dem Ausstieg aus dem
Atomwaffensperrvertrag. Die so genannten Schurkenstaaten sehen sich
durch die Präventivkriegsstrategien der neuen Sicherheitsdoktrinen der
USA und dem Irak-Krieg dazu ermutigt, nach atomaren Waffen als
nukleares Faustpfand zu greifen. Tatsächlich ist so etwas wie eine
zweite strategische Revolution im Gange, weil neue Staaten sich
nukleare Macht und dadurch Unverwundbarkeit beschaffen wollen. Statt
dem im Atomwaffensperrvertrag festgehaltenen Ziel einer
"nuklearwaffenfreien Welt" droht eine "Renuklearisierung" der
Weltpolitik.



Die Fälle Nordkorea und Iran zeigen geradezu exemplarisch einen wunden
Punkt des globalen Nichtverbreitungsregimes: Es gibt kaum Instrumente,
um vertragskonformes Verhalten zu erzwingen. Die IAEA hat so gut wie
keine Sanktionsmöglichkeiten gegenüber einem Mitglied, das seinen
Verpflichtungen nicht nachkommt. Auch stellt sich die Frage, ob eine
Trennung zwischen friedlicher und militärischer Nutzung der Kernenergie
wirklich möglich ist. Die Aktivitäten der IAEA beschränken sich zudem
immer noch nahezu ausschließlich auf die Nichtkernwaffenstaaten, die
Mitglied des NVV sind, und lassen die zivilen Brennstoffkreisläufe der
Kernwaffenstaaten fast vollständig aus.



Die gegenwärtige Krise der Rüstungskontrolle hängt auch mit der Politik
der USA zusammen. Es lässt sich feststellen, dass die Vereinigten
Staaten kein bzw. immer weniger Vertrauen in die - überwiegend von
ihnen selbst initiierten bzw. geschaffenen - internationalen
Kontrollregime haben. Die entscheidende Frage lautet deshalb, was eine
Rüstungskontrollpolitik leisten müsste, um Washington davon zu
überzeugen, dass Prävention durch Rüstungskontrolle der Präemption
durch Entwaffnungskriege allemal vorzuziehen ist. Sie müsste
zweifelsohne effizienter werden.



Verifikation und Sanktionierung werden damit zur Schlüsselfrage für
künftige Rüstungskontrollabkommen, zumindest wenn diese die Zustimmung
der USA erlangen sollen. Sollten die Vereinigten Staaten hingegen ihre
gegenwärtige Zurückhaltung beibehalten, sollte man auch verstärkt über
Regelungen und Rüstungskontrollvereinbarungen ohne die USA nachdenken.
In einem Punkt jedoch hat die amerikanische Seite Recht: Die
veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen erfordern neue,
innovative Konzepte der Verifikation mittels neuer Technologien.



Empfehlungen



1. Intensivierung der Abrüstung: Rüstungskontrolle sollte darauf
gerichtet sein, Abrüstung zu intensivieren und den Trend zur Abrüstung
zu verstetigen. Dies ist besonders dringlich auf dem Gebiet der
Nuklearwaffen.



2. Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen: Auch die
von US-Präsident Bush am 31. Mai 2003 ankündigte Proliferation Security
Initiative (PSI) ist eine Antwort auf die wachsende Herausforderung
durch die weltweite Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Sie
ergänzt die bestehenden Nichtverbreitungsbemühungen der
Staatengemeinschaft durch effektive Maßnahmen zur Unterbindung des
See-, Luft- und Landtransports von Massenvernichtungswaffen,
Trägersystemen und für deren Entwicklung und Herstellung relevanten
Materialien und Technologien. Man sollte darüber nachdenken, ob die PSI
nicht in einen völkerrechtlichen Vertrag überführt und durch eine
internationale Organisation geführt werden könnte.



3. Verbesserte Verifikation: Hierzu gehören unangemeldete
Vor-Ort-Inspektionen, der Einsatz neuer Überwachungstechnologien und
der Aufbau von qualifizierten unparteiischen Inspektorenteams. Das
Recht der IAEA auf Sonderinspektionen auch von nicht-deklarierten
Anlagen muss gestärkt und ausgebaut werden.



4.Weiterentwicklung der Chemie- und Biowaffenkonventionen: Gegenüber
der Gefahr chemischer und biologischer Waffen kommt es darauf an, ein
dichtes Netz von Transparenzmaßnahmen zu entwickeln, die eine
Früherkennung entsprechender Aktivitäten erlauben und der
Staatengemeinschaft so die Chance zum rechtzeitigen Handeln geben. Die
bestehenden Verträge sollten zügig ausgebaut werden.



5. Wirksame Kontrolle von Trägertechnologien: Entwicklung, Erwerb,
Besitz und Weitergabe von militärischer Trägertechnologie sind bislang
nicht durch völkerrechtliche Nichtverbreitungsnormen geregelt. Die
Raketenproliferation hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen und
birgt ernsthafte Risiken für die Stabilität und Sicherheit der
betroffenen Regionen. Mit der Unterzeichnung des "Haager
Verhaltenskodex gegen die Proliferation ballistischer Raketen" am 25.
November 2002 wurde ein erster Schritt unternommen, um diese Lücke zu
schließen.



6. Neue Impulse für die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa:
Sorge bereitet insbesondere, dass das Anpassungsübereinkommen zum
KSE-Vertrag bisher immer noch nicht in Kraft getreten ist. Die Gefahr
einer schleichenden Erosion des KSE-Regimes wächst; dies gilt umso
mehr, als der alte KSE-Vertrag zunehmend weniger mit den sich besonders
im Zuge der Nato-Erweiterung verändernden sicherheitspolitischen
Gegebenheiten vereinbar ist.



7. Kontrolle von Kleinwaffen und leichten Waffen: Ein besonders viel
versprechendes Gebiet der Rüstungskontrolle sind die Bemühungen zur
wirksamen Kontrolle der Proliferation von Kleinwaffen und leichten
Waffen. Hier sollten die vorhandenen Ansätze im Rahmen der OSZE und der
Vereinten Nationen weiter verfolgt und intensiviert werden.



8. Finanzielle und technische Abrüstungshilfe: Die Erhöhung der
Abrüstungshilfe ist dringend erforderlich. Oft sind die
Abrüstungskosten die entscheidende Hürde für eine schnelle und
komplette Durchführung von Abrüstungsmaßnahmen, beispielsweise bei
Landminen oder chemischen Waffen.



9. Restriktive Rüstungsexportpolitik: Zu einer Rüstungskontroll- und
Abrüstungspolitik gehört auch eine weiterhin restriktive
Rüstungsexportpolitik.



10. Verbot des Einsatzes von Atomwaffen: Der Internationale Gerichtshof
in Den Haag hat in seinem Gutachten vom 8.7.1996 eindeutig
festgestellt, dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen
generell und grundsätzlich gegen die Prinzipien und Regeln des
humanitären Kriegsvölkerrechts verstößt.

Dateien: 
FR_26_06_06.pdf
Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Nuklearwaffen werden wieder als mögliches Mittel der Kriegführung betrachtet. Auf diese Bedrohung muss eine Antwort gefunden werden
Veröffentlicht: 
Frankfurter Rundschau, 26.06.2006