Fragwürdige Parallelen | Atomare Abschreckung in Südasien

Atomare Abschreckung in Südasien

Am Ende des Jahrhunderts steht fest: Das Zeitalter der großen Kriege wird in Europa nicht mit einer Abrüstungsdekade enden. Vielmehr waren die vergangenen Jahre eine Phase der verpassten Abrüstungschancen. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts ist der Abrüstungsprozess praktisch zum Erliegen gekommen. Rüstungskontrolle und Abrüstung sind aus den Schlagzeilen der Tageszeitungen verschwunden. Heute wird das Für und Wieder militärischer Eingriffe in zwischen- und innerstaatliche Konflikte erörtert. Kein Tabu wird mehr ausgeklammert: Der Generalinspekteur der Bundeswehr philosophiert öffentlich über die Einsatzmöglichkeit der Streitkräfte in der Kriminalitäts- und Terroristenbekämpfung. Die Remilitarisierung der Sicherheits- und Innenpolitik ist in vollem Gang. Gefordert werden größere Mobilität der Streitkräfte, punktgenaue Waffenwirkung und höhere Offensivfähigkeit. Qualitative Kriterien für den Rüstungskontrollprozess oder Konzepte zur Defensivorientierung sind von der Tagesordnung genommen.

Tücken der Rüstungsbegrenzung

Selbst günstige Entwicklungen bei der Rüstungsbegrenzung haben ihre Tücken:

- Zwar werden in Europa Waffenbestände aus Zeiten des Kalten Krieges vernichtet; ein Teil wird allerdings in andere Länder exportiert., wo Kriege oder Bürgerkriege wüten.

- Die USA und Russland beginnen mit den START III-Gesprächen, während das START II-Abkommen noch gar nicht vom russischen Parlament ratifiziert worden ist. Und die USA verknüpfen die Gespräche mit einer Aufkündigung des ABM-Vertrages.

- Der von Nicht-Regierungsorganisationen initiierte Vertrag zum Verbot von Landminen ist ein großer Erfolg. Problematisch bleibt dagegen, dass die großen Produzenten dem Abkommen nicht beitreten wollen.

- Die Chemiewaffen-Konvention ist in Kraft getreten. Allerdings verfügt die Kontrollbehörde noch über wenig Kompetenzen und Daten.

Gelungene Beispiele

Es gibt nur wenige rundum positive Beispiele:

- Der Abrüstungsvertrag zwischen den Konfliktparteien im ehemaligen Jugoslawien ist ein Modell dafür, wie Rüstungsverminderung und Rüstungbegrenzung die Friedenskonsolidierung stärken und wie Rüstungskontrolle von außen erfolgreich angelegt werden kann.

- Die Vernichtung von Kleinwaffen kann, wie im Falle El Salvadors, den innerstaatlichen Befriedungsprozess unterstützen.

Während in Europa über Eingreifkonzepte und die (Neu)-Ausrüstung der Streitkräfte debattiert wird, findet in anderen Weltregionen klassische Aufrüstung statt.

Hervorzuheben ist Asien, das von ganz verschiedenen Prozessen berührt ist. Die Staaten der südostasiatischen ASEAN-Gemeinschaft zählten bis zur Wirtschaftskrise zu den Ländern mit der höchsten Steigerungsrate im Bereich Militär und Rüstung. Die nationalen Verteidigungsbudgets wuchsen jährlich zwischen 10 und 20 Prozent. Auch die Volksrepublik China rüstet alle Teilstreitkräfte in großem Umfang auf. Auf der koreanischen Halbinsel kann jederzeit ein bewaffneter Konflikt ausbrechen. Letztlich vollzogen auch Indien und Pakistan in den vergangenen Jahren einen umfassenden Aufrüstungsprozess. Gemeinsam ist allen vier Regionen ein Mix aus Territorial- und Ideologiekonflikten.

Der südasiatische Konfliktraum

Der südasiatische Konfliktraum ragt aus dem Bild heraus: Indien und Pakistan dokumentieren im Mai 1998 durch Kernsprengungen und den Test von Trägersystemen ihre Atomwaffenfähigkeit. Ein nukleares Wettrüsten infolge der Entwicklung, Produktion und Dislozierung von Sprengköpfen und Trägerwaffen steht bevor. Im Gegensatz zum bekannten Ost-West-Konflikt handelt es sich in Südasien um einen mehrdimensionalen Konflikt. Das zentrale Motiv in Indien ist die Rivalität mit China. Indien beansprucht aufgrund seiner Geschichte, Größe, Bevölkerungszahl und ökönomischen Entwicklung einen Status als Ordnungsmacht über den Subkontinent hinaus. Es fordert einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und eine entsprechende Behandlung als Atomwaffenmacht durch benachbarte Staaten. Da die internationale Rangordnung auch heute noch mit dem Besitz von Kernwaffen verbunden ist, ziehen die Entscheidungsträger in Neu Dehli hier eine entsprechende Parallele. Der Aufbau einer indischen Kernwaffenoption datiert seit der ersten chinesischen Atomexplosion. Hinzu tritt die historische Erfahrung einer militärischen Niederlage während des indisch-chinesischen Grenzkonflikts. Indien sieht sich durch die Stationierung von atomar bestückten Kurzstreckenraketen in Tibet und die Entwicklung von mobilen Langstreckenraketen bedroht. Die Errichtung einer chinesischen Marinebasis in Myanmar unterstreicht, dass der Indische Ozean nicht der südasiatischen Macht überlassen werden soll. Weiterhin erkennen indische Politiker in der nukleartechnischen und militärischen Zusammenarbeit zwischen der VR China und Pakistan ein weiteres Bedrohungsmoment.

Letztlich waren es aber innenpolitische Gründe, die die Machthaber in Neu Dehli veranlassten, die nuklearen Kernsprengungen zu verlassen. Begleitet von einem innergesellschaftlichen Konsens zugunsten einer offenen Nuklearisierung ordnete die von der hinduistisch-nationalistischen BJP geführte Koalitionsregierung die Tests an. Pakistan wiederum reagierte angesichts der konventionellen Überlegeneheit Indiens mit dem Aufbau einer Nuklearrüstung. Die Kernsprengungen und der Test von Trägersystemen folgten der bekannten Verhaltensweise des Nullsummenspiels. Beide Staaten, verfangen in einem mehrschichtigen Konfliktgeschehen und einem innenpolitisch instrumentalisierten Glaubenskampf, haben also ihrem umfangreichen konventionellen Rüstungspotential eine nukleare Komponente beigefügt. Sie schließen im Fall eines weiteren Krieges auch den Einsatz von Nuklearwaffen nicht aus. Der jüngste Konflikt in Kaschmir hat die Eigendynamik derartiger Konfliktmuster eindringlich vor Augen geführt. Die Gefahr, dass Akteure, die nicht in militärische Befehlsstrukturen eingebunden sind, einen Krieg provozieren können, ist groß.

Neben den regionalen Aspekten wiegen die internationalen Folgen der Atomwaffentests ähnlich schwer. Andere Proliferationskandidaten könnten sich ermutigt fühlen, vergleichbare Schritte zu unternehmen. Für die Rüstungskontrolle stellen sich Fragen und Herausforderungen. Bisher wurde lediglich auf bestehende internationale Regime, wie den Nichtweiterverbreitungs-Vertrag (NW) und den Vertrag über das Umfassende Verbot von Neklearversuchen (CTPT) verwiesen. Derartige Regelwerke sind wichtig. Ob sie allerdings der Vertrauensbildung in Südasien dienen, bleibt zu bezweifeln. Wichtiger wäre das direkte Gespräch zwischen den asiatischen Kernwaffenstaaten. An dessen Ende müsste eine rüstungskontrollpolitische Verabredung stehen. Indien und Pakistan versuchen erst seit wenigen Monaten einen solchen Dialog, der immer wieder von gewaltsamen Auseinandersetzungen am Siachem-Gletscher unterbrochen wird. Auch der indische Dialog hat erst begonnen, offensichtlich erfolgreicher. Die Gespräche könnten eine Voraussetzung für eine notwendige Vertrauensbildung sein. Zum Prozess der Verständigung und des Aufbaus von Verfahren, Verhaltensmustern und Institutionen gibt es auch in Südasien keine Alternative.

Abschreckung als Lehrmeister?

Lehren aus dem Entstehen internationaler Regime während des Ost-West-Konflikts könnten daher förderlich wirken. Politische Entscheidungsträger sollten entsprechende Erkenntnisse weitergeben. Allerdings zeichnet sich in der Gemeinde der westlichen Sicherheitsexperten eine ganz andere Tendenz ab: Die aus der Macht- und Systemkonfrontation bekannte Abschreckungsdoktrin wird einfach auf das Konfliktgeschehen in Asien übertragen. Gerald Segal, Direktor des einflussreichen internationalen Instituts für strategische Studien, fragte ein Jahr nach den Kernwaffentests in "Newsweek", ob nukleare Waffen die Abschreckung und Stabilität in regionalen Konflikten steigern können. Indirekt bejaht er die Frage und schließt mit der Feststellung, dass von den südasiatischen Demokratien (!) keine Gefahr drohe. Theo Sommer zog in der Wochenzeitung "Die Zeit" vergleichbare Schlussfolgerungen.

     Derartige Erwägungen sind einseitig, spekulativ und tollkühn:
1.   Eine Theorie der Abschreckung im Ost-West-Konflikt wurde erst entwickelt, nachdem beide Seiten durch die Kuba-Krise an den Rand eines Nuklearkrieges geraten waren. Es dauerte Jahre, bis ein Abschreckungssystem errichtet und alle Komponenten aufeinander abgestimmt waren.

2.   Das Abschreckungskonzept bestand aus einer Vielzahl von militärischen und politischen Reaktionsebenen. Es gab "heiße Drähte" und eigene "Aufklärungssysteme". Entscheidend war die Möglichkeit, im Fall eines Nuklearkrieges noch genügend eigene Systeme zu besitzen, um den Gegner ebenfalls zu erreichen.

3.   Die atomare Abschreckung wurde durch eine nukleare Rüstungskontrolle und den Aufbau internationaler Regime gestützt.

4.   Die Konzepte beachteten die Trennung zwischen nuklearer und konventioneller Kriegsführung.

5.   Die Akteure und die Gesellschaften wussten um die Zerstörungskraft atomarer Waffen. Es gab eine anti-nukleare Bewegung in zahlreichen westlichen Staaten.

6.   Die Konfliktformation des Ost-West-Konflikts bestand in einem Macht- und Systemantagonismus. Territorialkonflikte gab es keine.

7.   Die nukleare Abschreckung fand in einer zweiseitigen Bedrohungswahrnehmung statt. Die Führungsmächte der Blöcke waren Gestaltungsmächte der internationalen Politik

Keines der genannten Kriterien findet in Südasien seine Entsprechung. Zwischen den Konfliktbeteiligten wird es niemals ein Abschreckungsgleichgewicht geben. Neben der VR China wird voraussichtlich nur Indien demnächst über die Fähigkeit zum atomaren Zweitschlag verfügen. Das pakistanische Potential wird dagegen immer verletzbar bleiben. Militärische und politische Entscheidungsträger könnten dann frühzeitig zum Einsatz nuklearer Mittel greifen. Die Bedrohungsvorstellungen sind ganz unterschiedlich. Indien bezieht dies auf die VR China, während Pakistan allein Indien als Gegner betrachtet. Zwischenstaatliche Abkommen zur Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung gibt es so gut wie keine. Und wichtige regionale Regime schließen alle Beteiligten bisher aus. Darüberhinaus gibt es einen innergesellschaftlichen Konsens zur militärischen Nuklearisierung in allen drei Staaten.

Fazit

Es ist also einfältig so zu tun, als sei die nukleare Abschreckung in Südasien der Weg der Konfliktbearbeitung. Das Ziehen von Parallelen ist fragwürdig. Gleichzeitig wird die Weiterverbreitung der Atomwaffen schöngeredet, anstatt Abrüstung auch von den Atomwaffenmächten einzufordern. Im übrigen bleibt die Ungewissheit, ob die Abschreckung tatsächlich das stabilisierende Element der Ost-West-Beziehungen war. Bis zum Zeitpunkt, wo andere Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, ist die Vermutung naheliegender, dass die Abgrenzung und Anerkennung der Einflusszone das entscheidende Moment war, weshalb der Welt ein Nuklearkrieg erspart blieb. 

Dateien: 
fragwuerdige_parallelen.pdf
Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Abschreckungsdoktrin als Lehrmeister für das Konfliktgeschehen in Asien?
Veröffentlicht: 
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 109, 5/1999