Agenda 2010 und die Schwierigkeiten ihrer Umsetzung

Ein Diskussionsbeitrag aus Berlin

Nach den jüngsten turbulenten Sitzungswochen in Berlin möchte ich eine kurze Einschätzung vornehmen. Die Sozialdemokratische Partei steht in einer entscheidenden Phase. Die Enttäuschung über manche Inhalte aber insbesondere über die Darstellung und über die unnötigen Provokationen kann ich gut verstehen. Auch ist es notwendig, über die anstehenden schmerzhaften Einschnitte und die ersten strukturellen Reformen im Rahmen der Agenda 2010 eine leidenschaftliche Diskussion zu führen. Ich kann einige Kritikpunkte an den jeweiligen Maßnahmen nachvollziehen. Und ich teile überhaupt nicht die Auffassung einzelner Mitglieder der Fraktion, die die sechs "Nein"- Sager in irgendeiner Form reglementieren wollen. Aber ich sage auch: Angesichts der Situation der Sozialversicherungen, der demographischen Entwicklung, der strukturellen und konjunkturellen Krise sowie der Machtverhältnisse in den jeweiligen Gremien muss die Koalition Änderungen innerhalb des Sozialsystems vornehmen. Einzelne Maßnahmen habe ich ja bereits auf der Mitgliederversammlung in Ehrenfeld vor der Sommerpause erläutert.

Uns wird immer wieder der Vorwurf gemacht, die SPD verfolge mittlerweile eine neoliberale Politik auf Kosten der sozial Schwachen. Das ist so nicht richtig. Ich erinnere an die Erhöhung des Kindergeldes und die Ausweitung des BAFÖGs. Wir haben die Aufwendungen für Familien gesteigert, die Jugendarbeitslosigkeit bekämpft und das Wohngeld erhöht. Leider ist es uns aufgrund der Mehrheiten im Bundesrat im April nicht gelungen, Steuersubventionen abzubauen, die Verlustübertragungen großer Unternehmen zu unterbinden und staatliche Förderleistungen sozial gerechter zu gestalten. Und wer sich die Vorschläge der Herzog-Kommission und die Äußerungen der Vorsitzenden der CDU/CSUFraktion, Angela Merkel, anschaut muss erkennen, wo der grundsätzliche Unterschied zwischen den Vorschlägen besteht: Die Konservativen wollen aus dem System der solidarischen Finanzierung ein für alle Mal aussteigen. Wir beschließen dagegen zwar auch Belastungen und Leistungskürzungen. Wir wollen aber weiterhin, dass junge Menschen für alte Menschen einstehen, wir wollen, dass gesunde Menschen für kranke Menschen gleiche Verantwortung tragen, wir wollen, dass Menschen in Beschäftigung für arbeitslose Menschen eintreten.

Keiner von uns hat für die Maßnahmen im Rahmen der Agenda 2010 Applaus erwartet. Die Vorstellung aber, dass - etwa im Bereich der Gesundheitsreform - die sozialdemokratischen Vorstellungen hätten eins zu eins umgesetzt werden können, ist naiv. Die jetzigen Beschlüsse haben Kompromisscharakter und tragen infolgedessen auch die Handschrift der CDU/CSU. Ich bin der festen Überzeugung, dass im Vermittlungsverfahren ein wesentlich schwierigerer Kompromiss zustande gekommen wäre. Es war daher richtig, im Vorfeld zu einer Einigung zu kommen. Wenn Einsparungen von 20 Mrd. ? erforderlich sind, damit das System erhalten und der Beitragssatz sinken kann, können Änderungen nicht vermieden werden.

Im Oktober noch wird darüber befunden, ob im Bereich der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe noch dringende Korrekturen gemacht werden können. Ich habe gegenüber den Verantwortlichen in der Fraktion deutlich gemacht, dass für mich drei Fragen noch geklärt werden müssen: die Anrechnung von Lebensversicherungen und anderen Bestandteilen der Alterssicherung; die Zumutbarkeit bei der Annahme von Arbeitsangeboten; die Leistungspflicht von Eltern und Kindern. Ich hoffe, dass hierbei noch Änderungen gemacht werden können. Korrekturen sind notwendig zugunsten der Betroffenen. Aber auch, damit die Einheit der SPD-Bundestagsfraktion gewahrt bleiben kann.

Dateien: 
agenda_2010_ehrenfelder.pdf
Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Stellungnahme zur parteiinternen Kritik an Agenda 2010.
Veröffentlicht: 
Die Ehrenfelder (Hrsg.: SPD-Ortsverein 9, Köln-Ehrenfeld), Okt./Nov. 2003