Staatendemokratie und innerstaatliche Demokratie

Sind die Vereinten Nationen nach dem Irak-Krieg zum Sanierungsfall geworden? Sieht nicht Generalsekretär Kofi Annan selbst die Organisation "an einem Scheideweg"? Verlangt er nicht, daß ihre "internationale Sicherheitsarchitektur ... sich den Bedürfnissen unserer Zeit anzupassen" habe? Die Reform der Vereinten Nationen ist ein ständig wiederkehrender Topos des Diskurses der Staatengemeinschaft, und die Forderung trifft zunächst weithin auf Zustimmung. Allerdings sind die Inhalte der Reformvorstellungen unterschiedlich, oft schließen sie sich sogar gegenseitig aus. Es verwundert daher nicht, daß eine Umgestaltung der UN-Institutionen vorerst recht unwahrscheinlich ist. Denn trotz des 11. September und der Irakkrise hat sich die Interessenlage der fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates nicht entscheidend verändert. Die Erweiterung des mit der Hauptverantwortung für Weltfrieden und internationale Sicherheit betrauten Hauptorgans, die zeitweise in greifbare Nähe gerückt zu sein schien, entschwindet am Horizont. Das Interesse an einer Reform des Rates mit weiteren Ständigen Mitgliedern, inklusive eines widerspenstigen Deutschland, dürfte bei der mächtigsten Vetomacht, den Vereinigten Staaten, auf Grund ihrer jüngsten Erfahrungen kaum gestiegen sein.

Ohnehin ist die US-Regierung mit dem Zustand der Vereinten Nationen alles andere als zufrieden. Im Irak muss sie gleichwohl die schmerzhafte Erfahrung machen, daß auch eine Weltmacht auf die Unterstützung der Weltorganisation angewiesen bleibt. Indessen macht man sich in Washington Gedanken über eine ganz andere Art von UN-Reform. Beklagt wird immer wieder der große Einfluß nichtdemokratischer Staaten und repressiver Regime in den UN-Gremien; so säßen sechs der finstersten Diktaturen der Welt in der Menschenrechtskommission. Folgt man der Zählweise des ?Freedom House?, so besitzen 121 von 192 Staaten gewählte Regierungen. Als vollwertige liberale Demokratien könnten 85 Länder bezeichnet werden.

Trotz des gar nicht so ungünstigen Zahlenverhältnisses wird immer wieder eine Dominanz nichtdemokratischer Staaten in der Generalversammlung und ihren Nebenorganen ausgemacht. Glaubt man einer Arbeitsgruppe des "Council on Foreign Relations" und des "Freedom House", die die Durchsetzung der US-Interessen bei der Weltorganisation fördern will ("Enhancing US-Leadership at the United Nations"), so verhindern diese Kräfte, zu denen vor allem die Blockfreien gerechnet werden, durch obstruktive Taktiken gezielt die Stärkung demokratischer Prinzipien. Mit Blick auf die künftige UN-Politik der USA wird unter anderem die Gründung einer "Koalition der Demokratien" bei den UN das Wort geredet, mit welcher die Verbreitung der Menschenrechte und demokratischen Prinzipien sowie der gemeinsame Kampf gegen den Terrorismus vorangetrieben werden sollen.

Dieser Vorschlag ist jedoch nicht neu. Bereits 1999 wurde in einem Konzept des US-Außenministeriums eine solchen Koalition angeregt und im Jahr darauf auf einer Konferenz in Warschau eine "Gemeinschaft der Demokratien" (Community of Democracies) gegründet, ein loser Zusammenschluss liberal-demokratischer Staaten. Zu den Einladenden gehörten neben Polen und den USA Chile, Indien, Korea (Republik), Mali, Mexiko, Portugal, Südafrika und Tschechien.

Die Gemeinschaft setzte sich in Warschau zum Ziel, demokratische Werte zu verbreiten, demokratische Institutionen und Prozesse zu stärken und in absehbarer Zeit Koalitionen bzw. Fraktionen der Demokratien in den bestehenden internationalen Institutionen zu bilden. Die Schlußerklärung wurde von über 100 Staaten - notabene einer absoluten Mehrheit der UN-Mitglieder - unterzeichnet und der Prozess der Bildung einer Fraktion der Demokratien angestoßen, ohne daß jedoch bereits konkrete Maßnahmen beschlossen wurden. 2002 wurde auf einer Ministerkonferenz in Seoul ein Aktionsplan verabschiedet, welcher 2005 auf einer Folgekonferenz in Chile evaluiert werden soll. Auch Deutschland ist Mitglied dieser lockeren Gemeinschaft und betonte in Seoul durch Staatssekretär Jürgen Chrobog vom Auswärtigen Amt seine Bereitschaft zur weltweiten Verbreitung demokratischer Grundsätze.

In der Tat gibt es einige Gründe, die für die Einrichtung einer solcher Koalition bei den Vereinten Nationen sprechen. So hat Kofi Annan während des Gründungstreffens in Warschau darauf hingewiesen, daß die hehren Ziele der Charta nur dann zu erreichen seien, wenn aus den UN eine wahrhafte Gemeinschaft der Demokratien geworden sei. Richtig ist auch, daß Fortschritte in Menschenrechtsfragen von autoritären Regimes blockiert werden. Die Vereinten Nationen sind jedoch keine Organisation, die dieses Problem durch die Gründung eines (weiteren!) exklusiven Clubs von liberalen Demokratien lösen könnte. Denn mit moralischem Rigorismus kommt man in der internationalen Politik nicht in jedem Fall weiter. Zudem muss es weiterhin eine Gesprächsebene geben, auf der man mit Staaten wie der Demokratischen Volksrepublik Korea oder Simbabwe verhandeln kann. Dieses Weltforum bietet nun einmal einzig und allein die Weltorganisation.

Die ?Staatendemokratie? der Generalversammlung mit ihrem Prinzip "ein Staat, eine Stimme" hat bekanntlich nicht zwingend demokratische Verhältnisse in den Mitgliedsländern selbst zur Folge. Dennoch bleibt der in der UN-Charta niedergelegte Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten ein grundlegender Bestandteil der Völkerrechtsordnung. Die Universalität der Organisation und die formale Gleichberechtigung der Mitgliedstaaten ist eine Stärke und keine Schwäche der Vereinten Nationen. Zudem ist die globale Dominanz westlicher, wirtschaftlich erfolgreicher Staaten ohnedies schon so eklatant, daß hierfür nicht auch noch die UN missbraucht werden sollten. Denn insbesondere die Generalversammlung dient vielen Entwicklungsländern als unverzichtbares und nahezu einziges Forum.

Ein Ausschluß bestimmter Länder aus UN-Gremien auf Grund ihrer inneren Verfassung widerspräche nicht nur dem Gebot der Nichteinmischung, sondern würde auch in der Generalversammlung neue Konfliktlinien aufkommen lassen. Die Regionalgruppen haben sich in der Vergangenheit als sehr nützlich erwiesen und mit dazu beigetragen, dass die Vereinten Nationen eine globale Organisation geblieben sind. Eine Koalition demokratischer Staaten kann dazu keine Alternative bieten. Sie könnte jedoch dabei hilfreich sein, Positionen abzustimmen und abzugleichen, wie dies im Rahmen der EU ja bereits schon geschieht. Versuchen könnte sie, statt auf eine Spaltung der Blockfreien zu zielen, diese Staaten für eine Verbreitung demokratischer Prinzipien zu gewinnen und eine engere Zusammenarbeit anzustreben. Immerhin gehörte das selbstbewußte blockfreie Südafrika auch zu den Einladenden von Warschau.

Die Festlegung von Aufnahmekriterien allerdings ist ein zentrales Problem einer solchen Koalition. Eine Demokratie kann vielfältige Formen annehmen, und es gibt wohl kein UN-Mitglied, welches sich nicht selbst als "demokratisch" bezeichnen würde. Deswegen bleibt nur die Festlegung auf unzweideutige Prüfsteine. Die EU mit ihren "Kopenhagener Kriterien" kann hier als Vorbild dienen - auch wenn die USA aufgrund ihres Festhaltens an der Todesstrafe wohl keine Chance auf Aufnahme hätten. Letztlich dürfte es ein Ding der Unmöglichkeit sein, die unterschiedlichen politischen Ordnungen mit ihren mannigfaltigen Entwicklungsgängen über einen Leisten zu schlagen.

Die Entstehungsgeschichte der Initiative läßt zudem befürchten, daß es sich hierbei um den Versuch handelt, die weitgehende Isolierung der Vereinigten Staaten in der Generalversammlung durch die Schaffung eines neuen Gremiums, bei welchem der US-Einfluß ungleich größer wäre, aufzuheben. Die wünschenswerte Aufwertung der Generalversammlung ist jedoch durch Fraktionsbildungen nicht zu erreichen. Auch hat die Irakkrise gezeigt, daß die Konfliktlinien bei elementaren Fragen von Krieg und Frieden quer durch die Gemeinschaft der Demokratien verlaufen. Es scheint deshalb zweifelhaft, ob sich gerade die USA von einer Mehrheit in einer solchen Koalition wirklich beeinflussen lassen würden, wenn ein gemeinsamer Beschluß nicht den Wünschen und Interessen der einzigen Supermacht entspräche. Zudem gibt es innerhalb der Regierung Bush nach wie vor die Neigung, die Resolutionen des Sicherheitsrates prinzipiell als irrelevant abzutun, da dort auch Diktaturen und verbrecherische Regime mit am Tisch sitzen.

Dennoch: Die Idee einer Gemeinschaft, die sich die Verbreitung demokratischer Prinzipien zum Ziel setzt, ist im Kern etwas, was auch im Rahmen der UN weiterverfolgt werden sollte. Nicht zuletzt die Erweiterungsprozesse von NATO und EU haben die Organisationen der liberalen Demokratien weiter gestärkt. Die "Welt sicher für die Demokratie zu machen", ist nach wie vor die am ehesten erfolgversprechende Strategie für eine friedlichere Welt. Eine neue Gemeinschaft der Demokratien darf sich jedoch nicht zu einem Club entwickeln, der Staaten von Entscheidungsprozessen ausschließt und eine Zweiklassengesellschaft in den Vereinten Nationen begründet. Damit wäre weder der Demokratie noch ihren Förderern geholfen.

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Sind die Vereinten Nationen nach dem Irak-Krieg zum Sanierungsfall geworden?
Veröffentlicht: 
Vereinte Nationen 5/2003, S. 163/164