Die Krise der Rüstungskontrolle

Das Jahr 2003 markiert in der internationalen Politik einen grundlegenden Wendepunkt: Das Prinzip, wonach allein der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über das Instrument der Gewalt im internationalen Konfliktaustrag entscheiden kann, wurde im Irakkrieg de facto aufgehoben. Zugleich steigen in vielen Ländern die Rüstungsausgaben. Der Trend zur quantitativen und vor allem qualitativen Aufrüstung scheint sich zu verstetigen. Zahlreiche westliche Länder justieren ihre Streitkräfte neu. An die Stelle der robusten Verteidigung tritt zunehmend die Option zur vor gelagerten Intervention. Als Reaktion darauf streben immer mehr Staaten nach der Kernwaffenoption als vermeintlich einzig wirksame Abschreckung gegenüber westlichen "Abrüstungskriegen". Neben Indien und Pakistan könnten demnächst mit Nordkorea und dem Iran zwei weitere Atommächte entstehen, die zudem über Mittelstreckenraketen verfügen und an weiterreichenden Raketen arbeiten. Trotz der jüngsten diplomatischen Fortschritte ist diese Gefahr noch lange nicht gebannt. Staaten bzw. Organisationen, die sich davon bedroht fühlen, forcieren ihrerseits wiederum die Pläne für eine Raketenabwehr. Darüber hinaus wurde der "präemptive Schlag" zum Kern der amerikanischen Sicherheitsdoktrin. Zusammen mit der Debatte über miniaturisierte Atomwaffen, so genannte "mini nukes", rücken somit Kernwaffen erneut ins Zentrum der US-Kriegsstrategie. Auch Russland und Frankreich schließen mittlerweile Präventivkriege nicht mehr aus. Schließlich führten die USA und ihre Verbündeten im Irak auch einen ?Abrüstungskrieg?. Vermutete Massenvernichtungswaffen und Trägersysteme sollten gewaltsam ausgeschaltet werden. Das Ergebnis ist bekannt: Weder wurden im Irak derartige Rüstungssysteme aufgespürt noch wichtige Bestandteile verifizierbar vernichtet.

Angesichts dieser bedrohlichen Entwicklungen ist es an der Zeit, wieder verstärkt alternative Instrumente in den Mittelpunkt internationaler Politik zu rücken. Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen wieder zu einem Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen werden. In den vergangenen Jahrzehnten hat diese Strategie die Welt sicherer gemacht. Während des Ost-West-Konflikts trug Rüstungskontrolle maßgeblich zur Kriegsverhütung und Vertrauensbildung bei. Sie schuf die Voraussetzung für Kooperation und Wandel. Die Begrenzung und der Abbau der strategischen Kernwaffen, die Vernichtung sämtlicher Mittelstreckenraketen, der Nicht-Weiterverbreitungsvertrag, das Chemiewaffenabkommen, die Bio-Waffen-Konvention und die Beschränkung der konventionellen Rüstung in Europa sind nur einige wenige, wichtige Beispiele aus einem großen Reservoir von Sicherheitsarrangements. Abrüstung und Rüstungskontrolle waren aber nicht nur auf den Ost-West-Konflikt bezogen. In seinem Schatten entwickelten sich auch eine Reihe regionaler Rüstungskontrollmaßnahmen. Diese Verträge erleichterten die regionale Zusammenarbeit und schufen ein Gefühl gemeinsamer Sicherheit. Abrüstung wurde sogar integraler Bestandteil der Nachbearbeitung von Konflikten. So wurden bspw. mit dem Vertrag von Dayton im ehemaligen Jugoslawien gegenseitige, verifizierbare Abrüstungsschritte vereinbart. Auch in El Salvador und Kambodscha wurde der Friedensprozess durch die Vernichtung von Waffenbeständen und die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols gestärkt. Mit der Umsetzung des Verbots von Anti-Personen-Minen und der Kampagne gegen die Verbreitung von Kleinwaffen betrat ein weiterer Akteur die Bühne der Rüstungskontrolle: Ohne die so genannten Nicht-Regierungsorganisationen, also den Zusammenschluss einzelner Bürgerinnen und Bürger, wäre das Landminen-Abkommen von Ottawa niemals in Kraft getreten. Auch im Bereich der Kleinwaffen, waren erste aussichtsreiche Schritte und Initiativen zu beobachten.

Seit einigen Jahren jedoch gibt es so gut wie keine Erfolgsmeldungen mehr. Der Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozess tritt auf der Stelle. Die USA haben sich aus wichtigen Verträgen zurückgezogen. Die Modernisierung der Bio-Waffen-Konvention wurde blockiert. Russland behindert die Umsetzung der konventionellen Abrüstung in Europa. Nordkorea hat den Atomwaffensperrvertrag gekündigt. Weitere Rückschläge könnten das Konzept der Abrüstung und Rüstungskontrolle endgültig in Frage stellen.

Notwendig ist deshalb zweierlei: 1. Die bisherigen Abkommen müssen in ihrer Substanz erhalten bleiben. D.h. die Instanzen, die die Einhaltung der jeweiligen Verträge überwachen sollen, müssen gestärkt werden. Gleichzeitig ist es notwendig, die Lücken bei der Kontrolle von Rüstung und Militär zu schließen. So wäre es dringend notwendig, eine Regelung bei den taktischen Kernwaffen zu erreichen. Auch der Abbau der strategischen Atomwaffen sollte überprüfbar und unumkehrbar fortgesetzt werden. Der viel beschworene Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist nur dann ein Fortschritt, wenn daraus Synergieeffekte und Abrüstungsprozesse resultieren. 2. Die erkennbaren Schwächen von Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen systematisch beseitigt werden. Insbesondere sollte die Stärkung der Verifikationsregime und die Bereitstellung eines angemessenen und flexiblen Sanktionskatalogs in den relevanten Abkommen in Angriff genommen werden. Analog zu den schnellen militärische Eingreiftruppen von NATO und EU, sollte auch eine schnelle zivile Kontrolleurstruppe mit Sachverstand und entsprechenden Mitteln aufgebaut werden.

Abrüstung und Frieden sind ein Kennzeichen sozialdemokratischer Programmatik und Praxis. Sie haben die Geschichte der Arbeiterbewegung von Anfang an begleitet und beeinflusst. Die Entspannungspolitik der siebziger und achtziger Jahre oder die Auseinandersetzung um den Irak-Krieg, sind ohne diesen programmatischen Auftrag nicht zu verstehen. Die SPD muss daher das Konzept der Kriegsverhütung auch in einer neuen Weltordnung verteidigen und verankern: zum Wohle der Menschen, wie auch um ihrer Selbstwillen.
 

Dateien: 
krise_ruestungskontrolle.pdf
Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Wege aus der Krise der Rüstungskontrolle
Veröffentlicht: 
Vorwärts, 19.02.2004