Gegen die leichtfertige Preisgabe von Parlamentsrechten
Bislang muss eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten einem Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb des Bündnisgebietes zustimmen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 12. Juli 1994 ausdrücklich bekräftigt. Seitdem hat sich eine Parlamentspraxis herausgebildet. In der Regel beschließt der Bundestag in kurzer Zeit über das Verlangen der Bundesregierung, Soldaten außerhalb der Bündnisgrenzen einzusetzen. Dafür wird das Parlament über den Auftrag und Umfang der Mission schriftlich unterrichtet. Die Abgeordneten können dann den Antrag ablehnen oder zustimmen. Änderungen am Inhalt sind unzulässig.
Diese Praxis steht seit Monaten auf dem Prüfstand. Die FDP legte einen eigenen Gesetzentwurf vor. Verteidigungsminister Peter Struck plädierte kurzzeitig für einen besonderen Bundestagsausschuss. Außenminister Joseph Fischer schlug darüber hinaus gehend sogar vor, dass künftig allein die Bundesregierung über Kampfeinsätze der Bundeswehr befinden solle. Dem Bundestag billigte er ein Rückholrecht zu. Auch eine Mehrheit führender Koalitionspolitiker scheint mittlerweile der Auffassung zu sein, dass die bisherige Praxis geändert werden muss. Ein Gesetzentwurf liegt mittlerweile auf dem Tisch. Demnach soll die Bundesregierung bei "humanitären Einsätzen" allein über den Einsatz deutscher Soldaten entscheiden. Auch ?Einsätze geringer Intensität? verlangen nur eine Befassung auf Antrag des Parlaments. Ferner ist eine "Verlängerung des Einsatzes" in bestimmten Fällen ohne vorherige Zustimmung des Parlaments vorgesehen.
Alle Gedankenspiele zur Veränderung des Parlamentsvorbehalts finden vor dem Hintergrund neuer sicherheitspolitischer Entwicklungen statt: So gibt es in den neuen "Verteidigungspolitischen Richtlinien" für die Bundeswehr keine Beschränkungen mehr für das Militär. Es gibt künftig weder politische, historische noch geographische Grenzen für die deutschen Streitkräfte. Die Bundeswehr soll für alle Eventualitäten einsatzfähig und -bereit sein. Eine solche Tendenz lässt sich auch bei der Konzipierung einer gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) im Rahmen der EU beobachten. Hier rückt der ursprünglich gleichberechtigte Aspekt ziviler Maßnahmen gegenüber den militärischen Fähigkeiten zunehmend in den Hintergrund. Dadurch besteht die Gefahr, dass das Leitbild einer ?Zivilmacht Europa? irgendwann gar nicht mehr wieder zu erkennen ist. Scheinbar soll es eine Art Arbeitsteilung zwischen ESVP und NATO geben. Die neuen europäischen militärischen Strukturen sollen sich auf den afrikanischen Kontinent fokusieren, während die NATO künftig im so genannten ?Greater Middle East? ihr Operationsgebiet finden soll. Für weltweite Operationen ist bereits die Einsatzbereitschaft der Schnellen Eingreiftruppe der NATO ausgerufen worden. Nach dem Beschluss des Prager Gipfels sind für den Einsatz der NATO Reaction Force kurze Fristen vorgesehen. Dieser ist zudem nicht explizit an ein Mandat des UN-Sicherheitsrats gebunden.
Es ist richtig: Auch der jetzige Koalitionsentwurf zum Parlamentsbeteiligungsgesetz macht militärische Eingriffe im Rahmen der neuen Strukturen weiterhin von der Zustimmung des Parlaments abhängig. Es besteht jedoch die Gefahr, dass im Rahmen neuer militärischer und bündnispolitischer Anforderungen weitere vermeintliche Notwendigkeiten entstehen, die die Rechte des Parlaments weiter aushöhlen.
Dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, ist mittlerweile zu einer Art sozialwissenschaftlichem Naturgesetz geworden. Hingegen sind (bestimmte) Demokratien ebenso häufig in militärische Auseinandersetzungen mit Nicht-Demokratien verwickelt, wie andere Regierungsformen. Es bleibt also weiterhin die Aufgabe politisch Verantwortlicher, die Mittel kriegerischer Gewalt zu begrenzen und einzudämmen. Hinzu kommt: Die meisten gewaltsamen Konflikte in der Welt lassen sich eben nicht mit militärischen Maßnahmen lösen. Gewaltsame Eingriffe können lediglich brutale Menschenrechtsverletzungen stoppen und den Aufbau eines staatlichen Gewaltmonopols begleiten und absichern.
Sollte sich aber eine Demokratie wie die Bundesrepublik Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen zu einer militärischen Reaktion entschließen, so spricht alles dafür, die Argumente für den Waffengang öffentlich und unmittelbar vorzubringen und auszutragen. Das Parlament ist dafür der richtige Ort. Weder ein Ausschuss noch das Kabinett kann den traditionellen Platz für das freie Wort und die offene Diskussion ersetzen. Auch die Nachvollziehbarkeit im Innern und die Außenwahrnehmung sind durch den Parlamentsvorbehalt am besten gewährleistet. Der Deutsche Bundestag sollte sich daher gut überlegen, ob er ein wichtiges parlamentarisches Kontrollinstrument partiell aus der Hand geben möchte. Gerade für einen Sozialdemokraten gilt: 140 Jahre SPD waren immer auch eine Auseinandersetzung über Krieg, Frieden und Militär. Regierungsverantwortung kann daher nicht bedeuten, historisch gewachsene Grenzen und Kontrollrechte des Parlaments zugunsten der Exekutive aufzugeben.