Deutschland und die nukleare Teilhabe

In einem Interview habe ich mich dafür ausgesprochen, die technische nukleare Teilhabe nicht weiter zu verlängern und die in Büchel lagernden taktischen US-Nuklearwaffen nicht durch neue atomare Sprengköpfe zu ersetzen. Es gab erwartungsgemäß Kritik, aber auch viel Zuspruch. Mir geht es um eine offene und ehrliche Debatte über die Sinnhaftigkeit der nuklearen Teilhabe – zumal die Entscheidung über ein neues Trägersystem ansteht und angesichts der Gedankenspiele der USA, in einem Krieg frühzeitig Atomwaffen mit geringer Sprengkraft einzusetzen. Dies sollte in einer Demokratie eine pure Selbstverständlichkeit sein – gerade auch im Interesse unserer Verbündeten und Partner in der NATO.

Die SPD bekennt sich weiterhin zur Verankerung im transatlantischen Bündnis und sie ist auch weiterhin für die politische Teilhabe im Rahmen der Nuklearen Planungsgruppe – zusammen mit 25 weiteren nicht-nuklearen NATO-Ländern, die teilweise die Stationierung von Atomwaffen in Friedenszeiten auf ihrem Territorium ausgeschlossen haben. Uns ist bewusst, dass die Bundeswehr ein Nachfolgekampfflugzeug für die altersschwachen Tornados braucht. Wir fordern nicht die sofortige Denuklearisierung der NATO. Wir fordern vielmehr vor allem neue Initiativen und Gespräche zur Abrüstung und Rüstungskontrolle, wie sie von Außenminister Heiko Maas mit großem Engagement im Rahmen der Vereinten Nationen und mit der „Stockholm-Initiative“ bereits auf den Weg gebracht wurden.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass zur Umsetzung von Abrüstung und Rüstungskontrolle immer zwei Seiten gehören. Wir machen uns auch keine Illusionen über die russische Politik und die sicherheitspolitischen Gefahren und die Destabilisierung, die von ihr ausgehen. Ebenso wenig verschließen wir die Augen vor der russischen Aufrüstung und der großen Zahl von russischen taktischen Nuklearwaffen, die Europa unmittelbar bedrohen. Aus diesem Grunde haben wir uns seit vielen Jahren für ein Abrüstungsabkommen bei den taktischen Nuklearwaffen in Europa eingesetzt. Daher halten wir das Thema der in Deutschland stationierten Nuklearwaffen auch nicht für das einzige sicherheitspolitische Problem, mit dem wir uns konfrontiert sehen.  

Entschieden wehren möchte ich mich aber gegen den Vorwurf, wir würden einen pazifistischen „deutschen Sonderweg“ verfolgen. Dieses Schlagwort beschreibt gemeinhin den unheilvollen Weg deutscher Geschichte, der in zwei Weltkriege mündete. Millionen von Menschen in Europa und der Welt haben, genau wie wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in unserer langen Geschichte, unter diesem Sonderweg gelitten. Der Vorwurf dient offensichtlich dazu, eine Debatte frühzeitig im Keim zu ersticken.

Konkret geht es bei der Debatte um die Zukunft der nuklearen Teilhabe um die Frage, ob die in Deutschland und Europa (Niederlande, Italien, Belgien, Großbritannien und Türkei) lagernden taktischen Nuklearwaffen der USA die Sicherheit Deutschlands und Europas erhöhen oder ob sie mittlerweile nicht sicherheitspolitisch und militärisch obsolet geworden sind.

Wir brauchen in Deutschland und in Abstimmung mit unseren europäischen NATO-Partnern deshalb eine breite öffentliche Debatte über Sinn und Unsinn nuklearer Abschreckung und zur europäischen Fähigkeit zur Selbstbehauptung. Wer verschließt die Augen vor den neuen geopolitischen Realitäten? Diejenigen, die Abrüstungsschritte und eine Beendigung der technischen nuklearen Teilhabe fordern? Oder jene, die immer noch an der Fiktion festhalten, man habe in irgendeiner Form Einfluss auf die amerikanische Nuklearstrategie aufgrund der Tatsache, dass man mit Erlaubnis des US-Präsidenten im Kriegsfall Nuklearbomben ins Ziel bringen dürfe? Schon zu Zeiten des Kalten Krieges stand diese Argumentation auf äußerst tönernen Füßen. Heutzutage geht sie an der Realität vorbei.

Wenn die Behauptung der Befürworter der technischen nuklearen Teilhabe stimmt, dass Deutschland indirekten Einfluss auf die Nuklearstrategie der USA nehmen kann, frage ich mich schon, wo und inwieweit dieser sich in der Vergangenheit niedergeschlagen haben soll. Seit George W. Bush erleben wir eine Neuausrichtung von Nuklearwaffen als Mittel zur Kriegsführung. In der Aufkündigung des iranischen Atomabkommens und des Vertrags über das Verbot von Mittelstreckenwaffen durch Donald Trump habe ich auch nichts von dem behaupteten Einfluss auf die amerikanische Sicherheitspolitik erkennen können. Wir sollten uns in dieser Hinsicht ehrlich machen: Es gibt keinen Einfluss oder gar Mitsprache von Nichtnuklearmächten auf die Nuklearstrategie oder gar die Einsatzoptionen von Atommächten. Dies ist nicht mehr als ein langbeschworener frommer Wunsch.

Ja, die Ungewissheit über Motive, Absichten und Handlungsoptionen der Atommächte sind geradezu eine Grundvoraussetzung für das Wesen und die Philosophie der nuklearen Abschreckung, welche bekanntlich ganze Bibliotheken füllt. Die Forderung von Helmut Schmidt nach einer Nachrüstung gilt gemeinhin als Beispiel für direkten bundesrepublikanischen Einfluss auf die Nuklearstrategie der USA. Selbst sie aber konnte erst dann Wirkung zeigen, als seine Bedrohungsanalyse in Washington geteilt wurde. Das Ergebnis war bekanntlich der NATO-Doppelbeschluss. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die USA, sondern für alle Atomwaffenstaaten. Über das britische nukleare Dispositiv wird in London, das russische in Moskau, das chinesische in Peking entschieden. Deshalb war und ist es richtig, sich über das französische „Angebot“ einer Mitsprache oder gar einer Europäisierung der Force de Frappe keinen Illusionen hinzugeben. Kein französischer Präsident wird jemals die Verfügungsgewalt über den atomaren Schlüssel teilen.

Entscheidend für die Forderung nach einem Abzug der in Deutschland gelagerten Atombomben ist jedoch, dass sich die Ausgangslage für europäische Wünsche nach Mitspracherechten beim Einsatz atomarer Waffen in Europa in den letzten Jahren grundlegend verändert hat. Mit der Nuclear Posture Review vom Februar 2018 forciert die Trump-Regierung die weitere Entwicklung von Mini Nukes und vertritt die Doktrin des frühzeitigen und flexiblen Einsatzes von kleinen Nuklearwaffen. Sie will in den nächsten Jahren zudem alle strategischen Systeme ersetzen, atomare Gefechtsköpfe mit niedriger Sprengkraft beschaffen, die Reichweite luftgestützter Marschflugkörper erhöhen und seegestützte substrategische Systeme nuklear bewaffnen, die unter Bush und Obama als vertrauensbildende Maßnahme abgezogen wurden. Die zunehmende geopolitische Konkurrenz zwischen den Atomwaffenstaaten, die Entwicklung neuartiger Waffen, die Verkoppelung konventioneller und nuklearer Abschreckungspotenziale und die anhaltende Modernisierung und Diversifizierung von Nuklearwaffenarsenalen führen zu neuen Rüstungswettläufen. Sie stellen eine konkrete Bedrohung für Deutschland und Europa dar.

Das Thema nukleare Teilhabe bleibt symbolisch überladen und steht stellvertretend für die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Nuklearschirms. Eine politische Bewertung muss sich folgenden Fragen stellen: Reicht es aus, auch in Zukunft ausschließlich auf den amerikanischen Atomschirm und die nukleare Teilhabe in ihrer gegenwärtigen Form zu bauen oder brauchen wir nicht vielmehr weitere Schritte bei Abrüstung und Rüstungskontrolle – und zwar unabhängig davon, ob der nächste US-Präsident Trump oder Biden heißen wird?

In Zeiten, in denen sich der Bundeshaushalt wegen der Bekämpfung der Corona-Pandemie dramatisch hoch verschuldet, die Mittel knapp sind und gleichzeitig offenkundig wird, wie dringlich Investitionen ins Gesundheitssystem, den Internet-Ausbau, den Klimaschutz und die Infrastruktur sind, muss über jede Ausgabe außerhalb der derzeitigen Pandemie ernsthaft debattiert werden können.

Die Absicht, Milliarden für Anschaffung und Unterhalt von US-Flugzeugen auszugeben, deren einziger Zweck es ist, amerikanische Atombomben abzuwerfen, muss deshalb gut begründet werden. Das gilt auch dann, wenn sie Teil der NATO-Sicherheitsarchitektur und des Konzepts der Abschreckung sind. Auch wenn man der Meinung ist, die Abschreckung durch amerikanische Atomwaffen bleibe angesichts der neuen Bedrohungslagen unerlässlich, wird diese bereits durch US-Interkontinentalraketen, die US-Bomberflotte und die nuklear bestückte U-Bootflotte garantiert. Zudem ist die Stationierung von US-Soldaten in Europa und die Bereitstellung von Logistik und Hauptquartieren nicht nur im europäischen, sondern durchaus auch im amerikanischen Interesse.

Ein Abzug der taktischen Nuklearwaffen würde weder das Ende der amerikanischen Nukleargarantie noch der deutschen (schon bisher eher unverbindlichen) nuklearen Mitsprache bedeuten, die durch die Mitgliedschaft in der Nuklearen Planungsgruppe nach wie vor gewährleistet wäre. Im Übrigen: Wenn tatsächlich die Lagerung von taktischen Nuklearbomben das einzige sicherheitspolitische Bindeglied zwischen Europa und den USA darstellen würde, wäre das in der Tat ein Armutszeugnis für die Qualität und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen und der vielbeschworenen Sicherheits- und Wertegemeinschaft.

Aber auch die Friedensbewegung muss sich eingestehen, dass mit dem Abzug der 20 taktischen Nuklearwaffen aus Büchel nicht der Weltfrieden ausbricht und auch abrüstungspolitisch – außer der Symbolik eines atomwaffenfreien Deutschlands – nichts gewonnen ist. Angesichts von tausenden in Russland gelagerten taktischen Nuklearwaffen und der Stationierung der neuen Iskander Mittelstreckenraketen, die zur Kündigung des INF-Vertrages führten, ist Abrüstung und Rüstungskontrolle nötiger denn je. Wir brauchen einen neuen multilateralen INF-Vertrag und eine vollständige Abrüstung aller taktischen Nuklearwaffen.

Und wenn die transatlantischen „Lordsiegelbewahrer“ das Zerrbild vom „deutschen Sonderweg“ und besorgten europäischen Nachbarn zeichnen, stellt sich doch die Frage, was die europäischen Nachbarn mehr beunruhigt: Die offene Debatte darüber, ob Deutschland die technische Teilhabe beenden soll oder das öffentliche Räsonieren von Unionsvertretern über eine deutsche Atommacht. Im Übrigen haben CDU und CSU während der schwarz-gelben Regierungszeit im Koalitionsvertrag ebenfalls den Abzug der Nuklearwaffen gefordert, ohne dass ihnen ein „Sonderweg“ oder mangelnde Bündnisfähigkeit unterstellt wurde.

Die weltweite Pandemie zeigt eindringlich, dass die Herausforderungen der Zukunft in einer sinnvollen Gesundheitsvorsorge, der Bekämpfung des Klimawandels und dem Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen liegen und nicht in der Modernisierung und Erneuerung von Atomwaffen. Ein neues atomares Wettrüsten würde nicht nur enorme Mengen von Geld verschlingen, die nun an anderer Stelle gebraucht werden. Es würde auch neue gefährliche Bedrohungen heraufbeschwören, die katastrophale Konsequenzen haben können.

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Plädoyer für eine notwendige und ehrliche sicherheitspolitische Debatte.
Veröffentlicht: 
IPG-Journal.de, 07.05.2020